Tausende Tote zu spät reduziert Spanien Aktivitäten auf die Basisversorgung
Nach den fatalen Todeszahlen in den letzten Tagen sowie Streiks und Protesten in Betrieben verschärft die Regierung die Ausgangssperre - Ein Kommentar
Dass der spanische Regierungschef Pedro Sánchez vor gut zwei Wochen zunächst einen "Alarmzustand" ausgerufen hat, dann aber noch einmal 30 Stunden brauchte, um die Maßnahmen zu verkünden, war skurril (Spanien im merkwürdigen Alarmzustand). Dass dabei angesichts der Vorgänge in Italien nicht sofort alle Aktivitäten auf eine Grundversorgung reduziert wurden, verstörte nicht nur viele Experten. Dass es der Sozialdemokrat vergangenen Samstag versäumte, parallel zu Italien alle Aktivitäten über die Grundversorgung hinaus zu unterbinden, um die Ansteckungsketten auch in den Betrieben zu unterbrechen, war angesichts der steigenden Ansteckungen und Todeszahlen unverantwortlich.
Sánchez und seine Regierungskoalition mit der Linkspartei (Podemos) haben nun bis zu diesem Samstag gewartet, um sich endlich zu weiteren Einschränkungen durchzuringen und bisher die Stimmen von vielen ausgewiesenen Experten ignoriert, die einen vollständigen "Lockdown" auch mit Blick auf die Entwicklung in Italien gefordert hatten. Auch dort steigt die Zahl der Toten weiter. Zuletzt wurden am Freitag erneut 969 Toten registriert und am Samstag weitere 889, obwohl in Italien immer größere Zweifel daran aufkommen, ob diese Zahlen stimmen.
Massiv Druck hatten Experten aus dem ganzen Land auf Sánchez zum Wochenende über die renommierte Fachzeitschrift The Lancet gemacht. Federführend darin der katalanische Experte Oriol Mitjà, den Telepolis immer wieder zitiert hat, der einen Lockdown und den Rücktritt des Krisenstabs forderte. Der Infektiologie hat gerade mit einer klinischen Studie mit 199 infizierten Personen begonnen, um ein Medikament zur Bekämpfung des Virus zu testen. In Madrid hat man bisher aber lieber auf die vielen Beschwichtiger im "Expertenteam" gehört. Das war schon deshalb fatal, weil die Kurve in Spanien sogar deutlich steiler als in Italien steigt.
Es brauchte also für den Sozialdemokraten Sánchez erst danteske Szenen, zum Sterben zurückgelassene alte Menschen in Altersheimen, ein kollabierendes Gesundheitssystem, Streiks und Proteste in Betrieben und mehrere tausend weitere Tote, um endlich durchgreifende Maßnahmen zu ergreifen.
In einigen Gebieten Spaniens ist die Sterblichkeit doppelt so hoch wie üblich
Die Zahl der Toten nimmt nämlich auch in Spanien immer stärker zu. Am Freitag waren es neue 769 Tote, am Samstag mit einem neuen Rekord sogar 823. Es ist nun mehr oder weniger auch offiziell klar, dass die Zahl der Todesopfer noch deutlich über der offiziellen Zahl von 5690 liegen muss. Denn an El Pais, dem Verlautbarungsorgan der Regierung, wurde zur Vorbereitung der neuen Maßnahmen gestern ein Dokument durchgestochen. Die Studie spricht davon, dass in einigen Gebieten Spaniens die Sterblichkeit nun doppelt so hoch wie üblich ist. Aufgenommen werden in die Coronavirus-Statistik demnach nur die Toten, die zuvor positiv auf Coronavirus getestet wurden, schreibt El Pais von "einer Realität" die "härter" als die offiziellen Zahlen ist.
Die Zeitung hatte plötzlich am Freitag auch darüber berichtet, wie sinnvoll die Abschottung von Ansteckungsherden ist. Man fragt sich, warum das in all den Wochen nicht auf Madrid angewendet worden ist, aus dem das Virus munter weiter über das ganze Land gestreut werden konnte. Spätestens mit diesem Bericht war dem Autor dieser Zeilen klar, dass am Samstag nun die überfällige Reduzierung aller Aktivitäten auf die Grundversorgung kommen würde.
"Das Virus trifft uns mit erbarmungsloser Gewalt"
Wenn in Deutschland im öffentlich rechtlichen Rundfunk, wie am Abend im Deutschlandfunk, Marc Dugge von einem "Grund zur Hoffnung" fabuliert, weil die Zahl der neuen Infizierten von gut 14 auf 11% gesunken sei, fragt man sich, in welcher Blase bisweilen einige Journalisten in Madrid leben. Denn es ist wahrlich kein Geheimnis, dass im Land kaum getestet wird. Wie soll man also Neuinfizierungen feststellen? Weil die Einschätzung zunächst völlig daneben lagen, die Krisenbekämpfer glaubten, Spanien werde nur "eine Handvoll Fälle" bekommen, wurden weder Tests noch Schutzausrüstung gekauft, was sich nun tödlich rächt.
Inzwischen wurde bekannt, dass der völlig überforderte Gesundheitsminister Salvador Illa sogar insgesamt 660.000 Tests eilig in China gekauft hat, die absolut nichts taugen. Darüber hatte Telepolis schon berichtet Absolut fatal wäre es, wenn der Bericht der Zeitung El Mundo stimmen würde, dass Illa erneut bei der Firma Shenzhen Bioeasy Biotechnology eingekauft hat. Die Firma hat, so hatte Telepolis mit Bezug auf die chinesische Botschaft in Spanien bereits berichtet, nämlich keine Lizenz. Da würde nicht nur Steuergeld verschwendet, sondern es würde völlig unverantwortlich mit beiden Händen aus dem Fenster geworfen, um die Leute mit Ankündigungen über baldige Test und Schutzmaterial ruhig zu stellen.
Ab Montag wird die bisherige absurde Ausgangssperre also ausgeweitet. "Die Angestellten in nicht grundlegenden Bereichen müssen die kommenden zwei Wochen zu Hause bleiben", sagte Ministerpräsident Sánchez in seinem nun wöchentlichen Wort zum Samstag, das er sich vergangene Woche hätte sparen können, da er 40 Minuten nur heiße Luft von sich gab. "In Spanien stehen wir vor den schwersten Stunden, das Virus trifft uns mit erbarmungsloser Gewalt." Er stellt sich nun in einen klaren Gegensatz zu seinem Innenminister, der schon zu Ostern sogar Lockerungen in Aussicht gestellt hatte.
Der neue Schritt werde am Sonntag im Kabinett beschlossen, erklärte der Sozialdemokrat und erklärte, man folge damit den Ratschlägen der Experten, um die Zahl möglicher Ansteckungen weiter zu verringern. Warum man diese Experten seit Wochen genauso ignoriert hat, wie den katalanischen Regierungschef Quim Torra, der ebenfalls seit zwei Wochen einen Lockdown fordert, bleibt das Rätsel dieser Regierung. Die hat sich in dieser Krise als völliger Ausfall gezeigt, oder wie Alexander Unzicker in Telepolis auch feststellt, erweist sich das "zerstrittene Spanien als total unfähig".
Diesen Eindruck kann man vor Ort nur bestätigen. Die Fragen an die Regierung hören derweil nicht auf, die allerdings weiter auf andere zeigt. Man fragt sich zum Beispiel, warum nicht längst wie in Irland auf die privaten Gesundheitsanbieter zurückgegriffen wird, um allen Menschen eine vernünftige Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Das hatte zwar Sánchez mit dem Alarmzustand angekündigt, aber auch zwei Wochen später stehen ganze private Krankenhäuser gerade im Pandemiezentrum Madrid ungenutzt leer. Stattdessen lässt man mit großem Propagandagetöse ein Nothospital auf dem Messegelände errichten.
Appell an die EU
Braucht es auch hier erst den totalen Kollaps des staatlichen Gesundheitssystems, bis auf diese Ressourcen zurückgegriffen wird? Es wäre an der Zeit, dass Sánchez endlich den Stier bei den Hörnern nimmt und Führung zeigt. Menschen, die zum Teil tagelang auf Plastikstühlen im Gang von Notaufnahmen ausharren müssen, müssen endlich in eine der vielen von den Konservativen privatisierten Kliniken eingewiesen werden, die sofort verstaatlicht gehören.
Sánchez macht es sich zu einfach, jetzt mal schnell nach europäischer Solidarität zu rufen. Spanien nähere sich dem Scheitelpunkt der Welle und dürfe nun nicht unachtsam sein, sagte Sánchez. Mit reichlich Pathos erklärte er: "Europa steht auf dem Spiel" und bekräftigte damit auch seine Forderungen nach Eurobonds. "Was sollen die Bürger denken, wenn wir im kritischsten Moment Europas seit dem Zweiten Weltkrieg nicht alles aufwenden, um die Gesundheit der Bürger und die wirtschaftliche Zukunft der Unternehmen zu schützen?" Das stimmt Herr Sánchez und die europäische Solidarität ist nötig. Doch was sollen ihre Bürger davon halten, dass sie bisher versagt haben und vorhandene Ressourcen im Land nicht nutzen?
Und, so sagt ein weiteres Sprichwort: Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte. Für Sánchez und seine Regierung könnte das Ende nah sein, wenn sie die Krise nicht bald unter Kontrolle bekommen. Die Rechten reiben sich schon die Hände, dabei haben sie einen großen Anteil an dem Desaster, da sie das öffentliche Gesundheitssystem in den Krisenjahren so zusammengekürzt und privatisiert haben, dass es seinen Aufgaben jetzt nicht mehr gewachsen ist. Die Beschäftigten wurden allein gelassen und leisten eine Herkulesaufgabe, wofür sich die Menschen im ganzen Land wieder um 20 Uhr mit tosendem Beifall bedankt haben.
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