Teheran verkehrt

Seite 2: Statistiken - und ganz grobe Lügen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Eine Quelle der politischen Information, auf die man sich, wie man hoffen möchte, verlassen könnte, ist die englischsprachige Tehran Times, die, wie sie sich selbst tituliert, "führende internationale Tageszeitung des Iran."

Gibt man hier einmal das Wort "traffic" (Verkehr) in die Suchfunktion ein, erhält man ein buntes Durcheinander von Artikeln aus den verschiedensten Jahren, das in gewisser Weise an das Durcheinander erinnert, das man im Teheraner Verkehr erlebt. Auch "Tehran traffic" bringt nicht viel. Es scheint, als habe es in den vergangenen Jahren hauptsächlich einen Artikel zum Thema gegeben, den von Mehdi Noroozvandiyan. Er erschien am 10. November letzten Jahres.

Hier gab es immerhin einmal handfeste Zahlen. In den ersten fünf Monaten des vergangenen Jahres, heißt es (und im Iran begann das neue Jahr erst am 21. März), habe es landesweit 6.000 Verkehrstote gegeben, und 35.000 Verletzte bei insgesamt 72.389 Verkehrsunfällen. Im Jahr davor, März 2009 bis März 2010, waren es 21.000 Verkehrstote.

Die weiter oben genannten Zahlen aus Irananders stammten vom 5. Juli letzten Jahres und zugeordnet wurden sie dem höchsten Winkemann der iranischen Verkehrspolizei, Eskandar Momeni. Im November, in der Tehran Times, sind die Zahlen dann etwas nach unten korrigiert worden, und diesmal ist es der Vize-Chef, Taqi Dehghan, der sie verkündet. Als (misstrauischer) europäischer Zeitungsleser würde man daraufhin fast schon die Korrektheit beider Zahlenreihen bezweifeln. Und sehr zu Recht. Denn alle iranischen Statistiken erweisen sich nach kurzem Hinsehen als pure Phantasie. Klar ist jedenfalls, dass man das Problem beschönigen möchte.

Nun noch einige weitere Daten aus dem Artikel von Noroozvandiyan: Die gegenwärtigen Verkehrsregeln, heißt es, stammten aus den Siebzigerjahren. Damalige Bevölkerung des Landes: 30 Millionen. Jetzige: 70 Millionen. Auf den Straßen des Landes befänden sich 12 Millionen Fahrzeuge.

Es wird Dr. Ahmad Shojaee zitiert, Chef jener gerichtsmedizinischen Einheit, die im Iran die Verkehrstoten untersucht. Die Provinzen Teheran und Fars hätten im ersten Quartal (März bis Juni 2010) mit 539 bzw. 507 pro Tag die höchsten Unfallraten erreicht. Bei der Gesamtzahl der Verkehrstoten wurden 60 Prozent den Vorstädten zugeordnet, die Innenstädte brachten es auf 29,4 Prozent, die Landstraßen kamen mit 9,9. Prozent relativ glimpflich davon. Die "höchste Unfallrate" mit Todesfolge hätte es unter den 18- bis 29-Jährigen gegeben, die 30,2 Prozent aller Verkehrstoten ausmachten. (Wobei laut Wikipedia zwei Drittel der iranischen Bevölkerung unter 30 sind.)

Man fragt sich also, welcher Altersgruppe wohl die übrigen 70 Prozent der Verkehrstoten angehören mögen? Ich vermute, dass es eine separate Statistik gibt, die ältere Fußgänger umfasst, die beim Überqueren der Straße niedergefahren wurden.

Der Rest des Tehran-Times-Artikels befasst sich schließlich mit einem Bonus-Malus-System, mit dem man hofft, das Verkehrsverhalten der Iraner unter Kontrolle zu bringen. (Als besondere Delikatesse erwog man dabei auch das öffentliche Auspeitschen besonders hartnäckiger Verkehrssünder, aber man hat die Idee fallen gelassen. Vermutlich weil es kaum einen Autofahrer gibt, der eben nicht in die Kategorie "aggressiver Triebtäter" fällt.)

In einem weiteren Artikel der Tehran Times vom 24. April letzten Jahres wurde der oberste Teheraner Verkehrspolizist, Hadi Hashemi, mit folgender Statistik zitiert: "Die 3,8 Millionen Autos in Teheran sind derart abgewirtschaftet, dass sie die gleiche Umweltverschmutzung wie 48 Millionen normgerechte (Standard-)Autos verursachen." Und weiter: Mehr als 80 Prozent der Teheraner Luftverschmutzung werde durch unzulängliche (Sub-Standard-)Fahrzeuge verursacht.

Wieder hege ich den Verdacht, dass hier einfach von 3,8 auf das Zehnfache hochgerechnet wurde, sozusagen "schätzomativ", und dann noch ein Sahnhäubchen dazu gegeben wurde. 38 Millionen? Sagen wir lieber 48! Womit mir auch Zweifel aufkommen bezüglich der Ausgangszahl, jenen 3,8 Millionen Autos. Und wenn es angeblich nur 80 Prozent dieser 3,8 Millionen sind, also 3,04 Millionen Autos, die einen Dreck wie 48 Millionen Autos in die Luft blasen, dann zählt ja jedes einzelne Auto fast für 16. Eine stolze Leistung.

Der iranische Streitwagen

Wer sich einmal die Firmensymbole der einzelnen Automarken betrachtet, wird eine Reihe von Variationen des Rades - bei Mercedes, VW, Opel, Auto Union, Toyota - oder irgendwelcher Buchstaben erkennen. Die Iranian National Automobile Company übersetzte einst ihren Namen ins Persische, Iran Khod-Ro,

"iran(ische) geht (von)selbst", also eben: die iranische "auto-mobil" Firma, bzw. im übertragenen Sinn: "der Iran fährt selbst."

Kleine Lesehilfe: Man liest von rechts nach links. Iran Khodro. "Der Iran fährt selbst." Das "kh" am Wortanfang wird hart ausgesprochen wie das deutsche "ch" in "Bach". Bild: Tom Appleton

Als Firmensymbol wählte man sich dazu, nicht ohne Stolz, den pferdegezogenen Streitwagen eines Darius des Großen.

Der Paykan,

eine mit 2,3 Millionen (!) Stück sehr erfolgreiche Fortsetzung des britischen Hillman Hunter,

von dem in England nur 8.000 (!) Stück hergestellt worden waren, wurde im Iran von 1967 bis 2005 gebaut, mit Wartezeiten bis zu zwei Jahren, eine benzinschluckende, dreckschleudernde Schrottmühle, ähnlich dem DDR-Trabant - unverwüstlich, aber (was die Umwelt betrifft) extrem zerstörungswütig.

Im iranischen Triumphwagen Paykan war jeder Mann ein König. Ein Beherrscher der Landstraße. Bild: Tom Appleton

Der Paykan bestimmt auch heute noch das Straßenbild Teherans und ein Großteil der 30.000 Taxis der Stadt - wie immer sind solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen - sind nach wie vor Autos dieser Marke. Da die Taxis regelrecht aggressiv Jagd auf Fahrgäste machen (und jederzeit anhalten, um weitere Mitfahrer aufzunehmen, die in die gleiche Richtung unterwegs sind), hat sich das Taxi zu einem ganz eigenen städtischen Kommunikationsmedium entwickelt. Jeder neue Witz, jede wichtige Nachricht, jedes politische Gerücht wird unter den stets wechselnden Kunden weitergereicht, und verbreitet sich somit in Windeseile. Die Mund-zu-Mund Propaganda hängt also Rundfunk und Presse locker ab. Und es ist ein System, dass sich seit den Zeiten der Revolution bewährt hat, weil es sich nicht wirklich unterbinden lässt.

Der Paykan bestimmt auch heute noch das Straßenbild Teherans. Als Taxi ist er ein aggressiver Jäger auf Kundschaft. Bild: Tom Appleton

Das Taxi galt im Iran immer schon als Vorreiter des Fortschritts. Reza Schah, der Vater des 1978 gestürzten Schah Mohammad Reza Schah, importierte Ende der Zwanzigerjahre auf einen Schlag rund 20 Ford-Automobile des Modell T, die ersten KFZs des Landes, die die bis dahin üblichen, als Konzept aus Europa importierten, aber im Iran hergestellten, "Doroshke" genannten, Pferdekutschen ablösen sollten. Trotzdem hielten sich die Fiaker noch regulär bis Ende der Fünfzigerjahre. Die markanten schwarzen Vauxhall-Velox-Taxis der Fünfzigerjahre mit den weißen Kotflügeln, die man, ebenso wie die Droschken, noch gelegentlich in alten indischen Filmen sieht, sind heute komplett verschwunden. (Auf einem historischen Foto aus den Beständen meines Vaters, circa 1955, kann man sie deutlich erkennen.)

Teheran, Innenstadt, Mitte der 50er Jahre, Kreuzung Firdausi / Istanbul Strasse. Die Taxis mit den weißen Kotflügeln waren charakteristisch für das Verkehrsbild. Bild: Archiv Appleton

Ebenso verschwunden sind die vor einen Wagen gespannten Pferde oder Esel, die einzeln oder als Karawane beladenen Maultiere und Kamele, die einst das Stadtbild prägten. Auf einem noch älteren Foto aus den Beständen meines Vaters, Ende der Zwanzigerjahre, sieht man das iranische Parlamentsgebäude, offenbar für eine Neujahrsfeier geschmückt, vor dem gerade eine beladene Karawane von Mauleseln vorbeizieht. Dass es bereits Autos in der Stadt gab, erkennt man am Asphalt vor dem Parlament, der allerdings (wie man ebenfalls deutlich sieht) im Frühjahr bereits schwere Winterschäden aufweist.

Die Lasttiere sind wohl auch dem Auto zum Opfer gefallen - nicht selten buchstäblich. Zu meinen deutlichsten Kindheitserinnerungen aus Teheran gehört das Bild, wie mein Vater und ich im Taxi von der damaligen Teheraner Innenstadt nach Shemiran fuhren. Unterwegs kamen wir an einem Unfall vorbei. Auf der Straße lag, auf dem Rücken, mit den Beinen in der Luft zuckend, bereits verendend, mit heraushängenden Gedärmen, ein großer Esel. Die Straße war über und über mit Blut bespritzt, aber auch mit zerquetschten Tomaten übersäht. Inmitten all dessen der Eseltreiber, auf dem Asphalt sitzend, mit gespreizten Beinen, sich den Kopf haltend, ebenfalls über und über blutüberströmt. Unweit davon am Straßenrand ein großer amerikanischer Wagen mit zerbeulter Schnauze. Nach kurzem Hinsehen fuhren wir weiter. Niemand wäre auf die Idee gekommen, den schwerverletzten Mann in sein Auto zu nehmen und ins nächste Krankenhaus (Tajrish, etwa 8 Kilometer entfernt) zu fahren.

Die hohe Zahl der Verkehrstoten heute erklärt sich vermutlich auf ähnliche Weise. Man schafft die Verletzten einfach nicht schnell genug in die Notaufnahme.

Dass der iranische Verkehrsteilnehmer sein Auto auch heute noch buchstäblich als ein Kampffahrzeug wie aus Darius’ Zeiten ansieht, beobachtet man immer wieder. Ich habe Autofahrer gesehen, die mit einem dicken Mercedes partout durch eine enge Straße hindurch mussten, die ihnen links und rechts vom Auto kaum drei Zentimeter Platz bot. Sie schrubbten lieber ihr Auto zuschanden, als einen einzigen Augenblick nachzugeben.

Der aggressionsgehemmte Golf in Teheran. "Gol" bedeutet "Blume". Bild: Tom Appleton

Vielleicht ist das der Grund, warum die Firma Volkswagen ihren Golf im Iran unter dem Namen Gol anbietet, um den letzten Buchstaben, das F, verkürzt. Schließlich erregt nichts ein iranisches Gemüt heute mehr als die Frage, ob der persische Golf nun der persische Golf sei oder von den arabischen Anliegerstaaten als "arabischer Golf" bezeichnet werden dürfe. Die deutsche Namensverkürzung des Golf ist daher eine spezifische Friedensgeste, denn Gol bedeutet schlicht und einfach "Blume".