Teilzeit: 2,6 Millionen Unterbeschäftigte wollen mehr arbeiten
Und 1,2 Millionen Erwerbstätige in Vollzeit wollen ihre Arbeitszeit gern reduzieren
Zu den Themen, die im Wahlkampf keine große Zugkraft entwickelten oder jedenfalls kaum wahrnehmbar angesprochen wurden, gehört eine Kluft, die in der Alltagswirklichkeit häufiges Gesprächsthema ist: Diejenigen, die einen Vollzeitjob haben, erzählen davon, dass sie der Job "auffrisst", dass sie wegen der vielen Überstunden kaum mehr Zeit und Kraft für ein Leben außerhalb der Berufstätigkeit finden, Treffen mit Freunden zum Beispiel.
Andere sagen, sie wären froh, wenn sie nicht nur Teilzeitjobs hätten. Eine gerechte Aufteilung dieser Wünsche findet dann in Vorstellungen statt, die ziemlich schnell als angesichts der bestehenden Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt nicht realisierbare Utopie abgewunken werden.
"Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial"
Das statistische Bundesamt liefert heute nüchterne Zahlen für diese beiden Phänomene. Das eine wird im Titel der Mitteilung hervorgehoben und mit "Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial" überschrieben. Auf 5,4 Millionen Personen im Alter von 15 bis 74 Jahren beziffert das Amt die Zahl der Menschen, die sich laut Ergebnissen der Arbeitskräfteerhebung überhaupt einen Arbeitsplatz oder auch mehr Arbeitsstunden wünschen.
Hierzu verzeichnen die Statistiker einen Rückgang von 255.000 Personen bzw. 4,5 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr, was wohl als Indiz dafür gelten kann, dass sich die Beschäftigungslage in Deutschland für diejenigen, deren Arbeitskraftpotential nicht oder nicht ausreichend genutzt wird, von einem distanzierten "objektiven" Gesamtüberblick aus gegenüber 2015 verbessert hat.
Amtlich aufgeschlüsselt wird die Zahl von 5,4 Millionen in 2,8 Millionen, die keinen Arbeitsplatz haben, und 2,6 Millionen Unterbeschäftigte im Jahr 2016. Zur ersten Gruppe zählt man 1,8 Millionen Erwerbslose und 1,0 Millionen Personen in Stiller Reserve. Dazu gehören Personen, zwar "überhaupt keine Arbeit haben", aber nicht als erwerbslos zählen. Sie würden grundsätzlich gerne arbeiten und seien dafür auch verfügbar, aber nicht "kurzfristig" (ein Zeitbegriff der mit "innerhalb von zwei Wochen" angegeben wird). 1
Als Unterbeschäftigte gelten Erwerbstätige, die sich zusätzliche Arbeitsstunden wünschen und dafür auch zur Verfügung stehen. Im vergangenen Jahr betrug ihr Anteil an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen im Alter zwischen 15 und 74 Jahren 6,4 Prozent. Unter den Teilzeitbeschäftigten betrug ihr Anteil 12,6 Prozent, aber auch bei den Vollzeitbeschäftigten gab es 4 Prozent, die sich unterbeschäftigt fühlen und ihre Arbeitszeit "meist nur um wenige Stunden" erhöhen wollen.
Die "Überbeschäftigten"
Das andere Phänomen sind die Überbeschäftigten. Laut der Statistik sind es lediglich 1,2 Millionen (von 29 Millionen Erwerbstätigen in Vollzeit), die den Wunsch haben, weniger Arbeitsstunden zu leisten und dafür ein entsprechend geringeres Einkommen in Kauf nehmen wollen.
Die Zahl der Überbeschäftigten ist weder ihrem Anteil nach noch absolut gesehen besonders hoch, was den Wahlkämpfern, die sich nicht um dieses Thema kümmerten, im Nachhinein Recht geben könnte. Aber, so notiert das Bundesamt, sie habe sich erneut erhöht: 2016 gab es einen Anstieg um 147.000 Personen und 2015 einen Anstieg um 98.000 Personen.
Lohnentwicklung und Inflation: Teilzeitarbeit als neuer Einflussfaktor
Bleibt noch ein bemerkenswerter Zusammenhang zwischen Löhnen und Teilzeitarbeit, den ein Artikel im österreichischen Standard über ein Forschungspapier des Internationalen Währungsfonds beschreibt. Dort geht es um die "gedämpfte Lohnentwicklung". Die Frage dazu lautet, warum steigen die Löhne nur verhalten, obwohl wirtschaftliche Erholung zu beobachten ist und in vielen Ländern die Arbeitslosigkeit sinkt?
Als Folge dieser Lohnentwicklung wäre der Preisdruck, der von den Arbeitsmärkten ausgeht, zu gering, um den Zielwert der Inflation im Euroraum zu erreichen, wie sich EZB-Chef Draghi sorge. Die Antwort der IWF-Ökonomen laut der österreichischen Zeitung rückt die Teilzeitarbeit ins Licht. Es habe seit Ausbruch der Wirtschaftskrise eine Transformation stattgefunden.
Die klassischen Variablen Arbeitslosigkeit, Inflation und Produktivität beeinflussen die Lohnentwicklung heute in vielen Ländern geringer als vor 2008. Ein neuer Einflussfaktor ist hinzugekommen: Teilzeitarbeit, genauer gesagt unfreiwillige Teilzeitarbeit.
Der Standard
Seit 2008 sei die Zahl der unfreiwilligen Teilzeitarbeiter, in beinahe allen Ländern, die der IWF untersucht habe, gestiegen. Das habe zwar einen stärkeren Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert, aber eben auch zu einer Entwicklung geführt, die sich als "spürbar lohndämpfend" erweise.
Eine Schlussfolgerung des IWF dürfte der EZB nicht gefallen: Selbst wenn die Erholung am Arbeitsmarkt voranschreitet, wird das in vielen Saaten nicht zu den Lohnerhöhungen führen, wie man sie vor 2008 erwarten hätte können. Denn die Teilzeitbeschäftigten verschwinden nicht.
Der Standard