Tempolimit: Die Niederlande setzen eine neue Marke
Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Hofreiter, fordert auch in Deutschland eine Absage am "überlebten Tempo-Dogma"
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (VVD) äußerte sich wenig euphorisch zu Tempo 100 als Höchstgeschwindigkeit, die tagsüber auf den Autobahnen im Nachbarland gelten soll. Zwischen 19 Uhr und sechs Uhr morgens gilt - auf bestimmten Autobahn-Abschnitten - die bisherige Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h. Das sei eine "faule Maßnahme" ("een rotmaatregel"), die niemand schön finde, kommentierte Mark Rutte. Manche Übersetzungen sprechen von einer "beschissenen Maßnahme".
Die Koalitionsregierung in Den Haag hatte sie gestern beschlossen (Niederlande führen Tempo 100 ein). Rutte begründete die Maßnahme - von der noch nicht bekannt ist, wann sie genau in Kraft treten soll - mit "höheren Interessen".
Dabei geht es um Arbeitsplätze und laut Regierung um den Bau von 75.000 Wohnungen. Das höchste Gericht in den Niederlanden und zugleich die Instanz, der das Kabinett die Gesetzesentwürfe zur Prüfung vorlegen muss, das Raad van Staate (Staatsrat), stellte die Regierung vor die Wahl.
Der Staatsrat hatte im Zusammenhang mit EU-Richtlinien des europäischen Naturschutzgesetzes gegen die "Stickstoff-Politik" der niederländischen Regierung, die Grenzwerte nicht einhält, im Mai eine drastische Maßnahme verfügt und große Bauvorhaben gestoppt (auch beim Bauen wird, etwa durch den Erdaushub, Stickstoff freigesetzt, erklären Meldungen von Nachrichtenagenturen).
Die Regierung wurde vor die Entscheidung gestellt, diese Vorhaben nicht weiterzuverfolgen oder eben andere Möglichkeiten der wirksamen Stickoxidreduzierung anzugehen. Sie präsentierte denn auch mehrere Maßnahmen in ihrem "Stickstoff-Plan", die aber als "unter anderem" präsentiert werden, wie etwa in der Greenpeace-Ticker-News: "In der Rinderhaltung soll mehr enzymreiches Futter verwendet werden, wodurch Kühe weniger Ammoniak abgeben sollen." Leicht zu ersehen, dass das Tempolimit die spektakuläre Maßnahme ist.
Sie wird erwartungsgemäß vom Verband der niederländischen Autohändler (Bovag) als falsche Maßnahme bezeichnet, da der Anteil des Verkehrs auf den Schnellstraßen am Schadstoffausstoß doch "eigentlich gering" sei, wie erklärt wird. Die Umweltschützer sind da anderer Meinung; sie freuen sich, dass diese Maßnahmen dafür sorgen werde, "dass weniger Stickstoffoxid eingeatmet wird" (Milieudefensie).
Hofreiter plädiert für ein "Sicherheitstempo"
In Deutschland freute sich der Fraktionschef der Grünen, Anton Hofreiter, über die Konsequenzen, die die niederländische Regierung aus der Forderung zu einer besseren Stickoxid-Emissions-Politik gezogen hat, und ärgerte sich über die hiesige Lage.
Deutschland ist das einzige Industrieland, in dem man unbeschränkt rasen kann. (…) Damit brockt die Bundesregierung den Menschen völlig unnötige Gesundheitskosten, Klimaschäden und Staus ein.
Anton Hofreiter
Vor allem CDU und CSU müssten sich "von ihrem überlebten Tempo-Dogma trennen", wird der Grünen-Politiker in heutigen Medienberichten zitiert. Er plädierte dafür, dass "ein Sicherheitstempo von 130 Kilometern pro Stunde auf den deutschen Autobahnen eingeführt wird".
Allerdings gab es erst im Oktober eine deutliche Mehrheit im Bundestag gegen den Antrag der Grünen für ein generelles Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen. Von 631 Abgeordneten sprachen sich 498 für die Empfehlung des Verkehrsausschusses aus, den Antrag abzulehnen. Abgeordnete der Union, SPD, AfD und FDP schlossen sich dem Verkehrsausschuss an. Für den Antrag der Grünen waren 126 Abgeordnete (Spiegel).
Doch können sich die Verhältnisse im Bundestag ändern. Eine Regierungskoalition mit den Grünen würde möglicherweise das Tempoverbot in den Koalitionsvertrag aufnehmen und die Verfassung der hiesigen Automobilindustrie stellt die Regierungspolitik vor Probleme, die vorrangiger sind (siehe etwa: Ist die deutsche Auto-Industrie noch zu retten?).
Eine YouGov-Umfrage vor der Abstimmung im Bundestag unterstützt den Grünen-Fraktionschef bei seiner Wortwahl "Sicherheitstempo". Drei Viertel der Befürworter (77,6%) eines Tempolimits gaben an, "dass sie bei ihrer Entscheidung vor allem der Aspekt der gefühlten Sicherheit beeinflusste" (t-online); der Aspekt "Umweltfreundlichkeit" war für gut die Hälfte (53,3 %) der Unterstützer eines Tempolimits relevant.
Nur 39 Prozent alle Befragten würden "tatsächlich an einen positiven Effekt eines Tempolimits auf die Umwelt glauben", geht aus der Untersuchung hervor.
Insgesamt waren 56,5 Prozent der Befragten (etwa 1.000 wie beim ARD-Trend) für ein Tempolimit. Im März dieses Jahres waren es 53 Prozent, die sich bei YouGov für ein Tempolimit aussprachen.
In den Niederlanden hatten Teilnehmer bei einer Mitglieder-Umfrage des Clubs ANBW (eine Partnerorganisation des deutschen ADAC) mit 51 Prozent die Tempo-Limit-Maßnahme "zum Schutz der Natur als positiv bezeichnet"(FR). 34 Prozent lehnten Tempo 100 ab.