Ten Years Gender Pay Gap-Mistake - Ein Irrtum wird zehn Jahre alt
Mit einer konstruierten Zahl werden Frauen und Männer gegeneinander ausgespielt - Das Statistische Bundesamt veröffentlicht seine jährliche Berechnung
Zwischen den Geschlechtern gebe es eine prinzipielle Gehaltslücke, heißt es, genannt: Gender Pay Gap. Diese Lücke betrage 21%, heißt es weiter, genauer: Frauen verdienten durchschnittlich 21% weniger als Männer. Um das sichtbar zu machen, hat man/frau auf dem Kalender über das Jahresende hinaus einen Tag markiert, bis zu dem Frauen zusätzlich arbeiten müssten, um auf das Einkommen der Männer zu kommen. Der wurde Equal Pay Day genannt. Konkret: Um so viel zu verdienen wie die Männer im abgelaufenen Jahr 2016, müssten Frauen bis zum 18. März 2017 arbeiten.
Die Idee feiert zehnten Geburtstag - und ist ein grandioser Irrtum. Allerdings mit Folgen.
Der Irrtum schlummert bereits in der Zahl von 21%. Sie stammt vom Statistischen Bundesamt, so viel ist richtig. Doch bei genauerer Betrachtung erweisen sich diese 21% weniger als eine allgemeingültige Durchschnittszahl, denn als ein Konstrukt, das folgendermaßen zustande kommt:
Für die Berechnung werden lediglich Betriebe der Privatwirtschaft mit mehr als zehn Mitarbeitern herangezogen. Der gesamte öffentliche Dienst mit nahezu gleichen Gehältern von Männern und Frauen bleibt unberücksichtigt. Ebenso kleinere Betriebe, darunter auch die Familienbetriebe, bei denen die Gewinne gleich verteilt werden. Auch landwirtschaftliche Betriebe, die oft ebenfalls Familienbetriebe sind, fallen aus der Berechnung heraus.
Außerdem geht das Einkommen aus der Teilzeitarbeit vieler Frauen in diesen Privatbetrieben absolut in die Berechnung ein und nicht relativ, was nötig wäre, um vergleichbare Zahlen zu erhalten. Dadurch verringert sich ihr Stundenlohn drastisch. Schließlich fließen auch die Gehälter der Spitzenverdiener in Führungspositionen mit ein - und die sind in der Mehrzahl männlich.
"Männer verdienen weniger als Männer"
Alles in allem also ein etwas tendenziöses Rechenwerk, das nebenbei die tatsächliche wirtschaftliche Lage der meisten Männer verfälscht. Zum Beispiel werden durch die reichen Männer statistisch alle Männer wohlhabender gemacht, als sie es faktisch sind. Viele Männer liegen unter dem Durchschnittswert. So gesehen könnte man auch sagen: "Männer verdienen weniger als Männer."
Die 21%-Lohnlücke, die bei dieser schiefen Ausschnitts-Durchschnittsberechnung herauskommt, nennt das Statistische Bundesamt "unbereinigten Wert". Welche Relevanz genau er haben soll, kann man auch in Wiesbaden nicht erschöpfend erklären. Es handle sich um eine Vorgabe der Europäischen Union. Danach sollen alle nationalen Statistikämter diesen Wert nach der genannten Grundlage erheben und dem Europäischen Statistikamt in Luxemburg melden.
Eurostat präsentiert dann die jeweilige Ländertabelle mit Italien und Luxemburg und einem - unbereinigten - Lohndifferenzwert von 5,5 Prozent ganz oben. Mit Estland und 26,9 Prozent ganz unten und mit einem EU-Durchschnittswert von 16,3 Prozent (bezogen auf das Jahr 2015. Aktuellere Zahlen gibt es noch nicht).
Wie viel, bzw. wie wenig das wert ist, zeigt nun der Blick auf die sogenannte "bereinigte" Lohnlücke zwischen Männern und Frauen, die das deutsche Statistikamt parallel ebenfalls errechnet. Eben, weil die "unbereinigte" EU-Vorgabe ungenau ist. Sie beträgt sechs Prozent - oder sogar nur zwei Prozent.
Sechs Prozent Lohnlücke zwischen Frauen und Männern ergeben sich, wenn man die vergleichbaren Kriterien für die anerkannten Tarifgruppen zugrunde legt: Gleiche Ausbildung, Qualifikation, Lebens- und Berufsalter, Arbeitszeit und -volumen, betriebliche Verantwortung usw. Dabei sind die überdurchschnittlichen - männlichen - Spitzenverdienste immer noch mit einberechnet.
Nimmt man zusätzlich Erwerbsauszeiten von Frauen zum Beispiel aufgrund von Kindererziehung aus der Berechnungsgrundlage heraus, beträgt die Lohnlücke nur noch zwei Prozent.
Ein Großteil der arbeitenden Männer und Frauen verdient bei gleichen Faktoren gleich viel
Möglicherweise geht es aber noch kleiner, denn auch bei der "bereinigten" Lohnlücken-Rechnung sind der öffentliche Dienst, Kleinstbetriebe und die Landwirtschaft nicht mitberücksichtigt. Da vor allem im öffentlichen Dienst annähernd gleiche Gehälter gezahlt werden, müsste der Gender-Pay-Gap weiter schrumpfen.
Allerdings sieht man das beim Statistischen Bundesamt nicht so. Dort nimmt man an, dass sich die gleichen Löhne im öffentlichen Dienst und die ungleichen bei Kleinstbetrieben gegenseitig aufheben - und schließt, es gebe "keine relevanten Abweichungen" vom bereinigten 6%-Wert. Dass es in den Kleinstbetrieben ungleiche Einkommen gebe, wurde nicht berechnet, sondern ist lediglich eine Annahme. Zur Frage, ob es sich bei Kleinstbetrieben nicht oft um Familienbetriebe mit gleicher Gewinnverteilung handle, kann man sich nicht äußern.
Wie auch immer: Der hochstilisierte Equal Pay Day liegt weniger auf dem 18. März (bei 21%), als auf dem 22. Januar (bei sechs Prozent) oder sogar nur auf dem 7. Januar (bei zwei Prozent).
Man kann sogar sagen: Ein Großteil der arbeitenden Männer und Frauen verdient bei gleichen Faktoren gleich viel. Wie viel Prozent Gleichbezahlter das sind, berechnet das Statistische Bundesamt allerdings nicht. Doch damit hätten wir ein vollkommen anderes gesellschaftliches Bild. Lohnunterschiede sind dann keine Geschlechterfrage mehr, sondern eine soziale Frage.
Bereits statistische Durchschnittswerte verfälschen Realitäten. Wenn es heißt: "Deutsche werden immer reicher", oder: "Trotz Eurokrise und niedriger Renditen ist das Vermögen weiter gewachsen", sind dann "die Deutschen" reicher und vermögender geworden? Der statistische Durchschnittswert vernebelt die auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich. Es wird sogar das Gegenteil suggeriert. Wenn die Reichen reicher werden und mehr Geld da ist, dann behauptet die Statistik, würden auch die Armen reicher. Dann gibt es plötzlich keine Armen mehr und die soziale Frage hat sich rechnerisch erledigt.
Die angebliche Geschlechter-Gehalts-Differenz-Berechnung bewirkt dasselbe. Die Einkommensschere geht allgemein auseinander, unabhängig vom Geschlecht, also auch innerhalb der Männer und innerhalb der Frauen. Mit der reduzierten Männer-Frauen-Sicht wird aus einem allgemeinen Problem ein halbes gemacht - das von Frauen. Tatsächlich sind jenseits des Geschlechter-Schemas die Einkommensunterschiede zwischen der großen Mehrheit und einer Minderheit sehr viel größer als meinetwegen sechs oder zwei Prozent. Nämlich 1000 Prozent oder Zehntausend. 800 Euro im Monat hier, 10 000 oder 50 000 da.
Widersprüche sozialer Art, die nicht einmal mehr gesehen werden. Weil sie nicht gesehen werden sollen?
Wirklich interessant wäre ein "sozialer" "Equal-Pay-Day"
Ob falscher Equal-Pay-Day oder richtiger, wirklich interessant wäre ein "sozialer" "Equal-Pay-Day". Wie lange müssen die meisten Menschen in Deutschland arbeiten, um auf das Einkommen der Wohlhabenden und Reichen zu kommen? Um sozial gleich zu stehen. Kalendarisch lässt sich das gar nicht mehr abbilden. Dazwischen liegen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Und mitunter reicht nicht einmal ein ganzes Arbeitsleben aus.
Jemand, der 25.000 Euro im Jahr verdient, hat nach 40 Berufsjahren eine Million Euro erwirtschaftet - und wieder ausgegeben. Eine Summe, die all den prominenten Spitzenverdienern in Wirtschaft, Sport oder Medien vermutlich nur ein müdes Lächeln abringen könnte. So unterschiedlich kann die Arbeitsleistung der Menschen gar nicht sein, um eine solche Differenz zu rechtfertigen. Doch das ist ein Tabu. Dann lieber Sandkastenspiele zwischen Frauen und Männern. Die Vermögenden danken es.
Hinter der Geschlechter-Frage verschanzt sich der Reichtum und versteckt sich die soziale Ungleichheit. Der Gender-Pay-Gap ist eine Falle. Eine Geschlechter-Falle - eine "Gender-Pay-Trap" sozusagen. Damit sie funktioniert, muss der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen künstlich höher beziffert werden, denn selbst sechs Prozent taugen nicht zum Skandal. Und den braucht man, um vom eigentlichen Skandal abzulenken.
Die Frauen-Frage im Dienst des Sozialabbaus
Doch eigentlich soll die Mehrheit der Arbeitenden nicht mehr, sondern weniger bekommen. Ein Vorschlag zur Angleichung lautet deshalb gar, nicht die Frauengehälter anzuheben, sondern die Männergehälter auf das Frauen-Niveau abzusenken. Wobei schlauerweise offen gelassen wird, ob bei den unteren oder bei den oberen Gehältern. Die Frauen-Frage im Dienst des Sozialabbaus.
Tatsächlich sind mit der 21%-Zahl bedenkliche politische Implikationen verbunden: Die wirklichen Gehalts-Profiteure werden von der Kritik verschont. Männer sollen von berechtigten Lohnforderungen abgehalten werden. Frauen und Männer werden gegeneinander ausgespielt und entsolidarisiert.
Warum funktioniert das? Vielleicht, weil die Zahl von 21% auch ein Gegensatzdenken kennzeichnet und von einem neoliberalen Zeitgeist bereitwillig aufgegriffen wird, der auf Konkurrenzkampf setzt. Neben der jährlichen Equal-Pay-Day-Folklore manifestiert sich das zum Beispiel in Anti-Männer-Aktionen, wie jener, Männer sollten in öffentlichen Verkehrsmitteln einen Preisaufschlag von 20 Prozent entrichten. Bemerkenswerterweise wird nicht gefordert, Frauen sollten 20 Prozent weniger bezahlen. Sie hätten also gar nichts davon - sondern lediglich die Verkehrsunternehmen.
Erstaunlich bleibt, wie hartnäckig sich manche Irrtümer halten. Der Grund für den Gender-Pay-Gap-Irrtum liegt nicht etwa in einer Rechenschwäche, sondern in der binären Kraft, die entsteht, wenn Informationen, auch falsche, mit sozialen Interessen zusammenfallen.
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