The incredible shrinking man strikes back!

Bundeskanzler Schröder erregt sich anlässlich der Haushaltsdebatte über die Erregung seiner parlamentarischen und außerparlamentarischen Kritiker

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Geht es dem Kanzler an den Kragen, weil der des Volkes zu platzen droht? Die Akzeptanz der Koalitionäre ist so schwach wie nie. 48 % würden gegenwärtig CDU/CSU wählen. Die Drohbriefe an das Bundeskanzleramt werden Schröder inzwischen unheimlich und seine bislang ressortlose Gattin redet bereits so, als ob es eine Revolution abzuwiegeln gälte. "Bürger auf die Barrikaden! Rote Karte für Rot-Grün" proklamiert immerhin Besitzstandswahrer Rüdiger Dorn, Präsident des Verbandes Haus & Grund, gegen die Steuer- und Abgabenpolitik der Regierung.

Weniger revolutionär, dafür sarkastisch werden Schröder-Witze, Steuersong und Letzte-Hemden-Aktion zum Stimmungsbericht eines Volkes, das sich an der Nase herumgeführt fühlt. Die Wahlkampf-Wunderwaffe "Hartz" ist inzwischen so weit umgerüstet, dass wohl niemand mehr einschließlich des Erfinders selbst daran glaubt, die weiterwachsende Zahl von Arbeitslosen damit noch wirksam bekämpfen zu können. Mitleid mit dem Wähler ist indes fehl am Platz. Jeder hatte Gelegenheit, vier Jahre lang die "Reformoffensiven" der neuen alten Regierung kennen zu lernen.

Alles wird teurer, die Rentenbeiträge steigen, die Krankenkassen erhöhen drastisch die Beiträge. SPD-Fraktionschef Franz Münteferings variierter Marie-Antoinette-Spruch, nun zu sparen, damit der Staat noch besser kassieren kann, war dann die passende "Kakofonie" (O-Ton Schröder), die bisherige Schlussdissonanz dieses Konzerts ohne Dirigent und Generalbass.

In der Haushaltsdebatte schlug der von allen Seiten angeschossene Schröder nun gegen Opposition und außerparlamentarische Kritiker zurück: "Das ist alles was Sie können: Rumbrüllen und stören." Mag sein, aber beide Lager haben ein höchst eigenartiges Verständnis einer Haushaltsdebatte gezeigt, die zu einer nachgeschobenen bzw. vorgezogenen Wahlkampfschlacht mutierte.

Der Kanzler mahnt die Pflicht der Opposition zur konstruktiven Kritik an, als ob das noch viel an dem im Dreck rotierenden Karren ändern würde. Wie immer - inzwischen ist es eine Leier - verweist Schröder auf die weltwirtschaftliche Situation, die Irak-Krise und andere von der Bundesregierung nicht zu verantwortende globale Faktoren, die zumindest ihm und seinen Getreuen die desolate Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation in Deutschland erklären. Auch Superminister Clement macht die weltwirtschaftliche Situation für den Anstieg der Arbeitslosenzahlen verantwortlich. Mit dieser höchst praktischen Erklärung hat man bereits den Wahlkampf gewonnen. Also hält man daran fest, auch wenn die "fünf Weisen" des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dem widersprechen.

Professorales Geschwätz, ejaculatio praecox, kommentiert SPD-Fraktionsvorsitzender Ludwig Stiegler feucht bis frech die Vorschläge des Vorsitzenden zur Reform der Sozialsysteme, Bert Rürup, zum späteren Eintritt in die Rente. Strukturreformen des Arbeitsmarkts, im Gesundheitswesen, in den öffentlichen Haushalten sowie in der Steuerpolitik müssten her, meinen die "fünf Weisen" und auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, sieht das nicht anders.

Das Parteiengezänk ist Ausdruck einer abgrundtiefen Verunsicherung

Doch was heißt das? Müssen dafür die Steuern nun erhöht oder gesenkt werden? Selbst der Kanzler und seine Getreuen scheinen uneins in dieser Frage zu sein. Schröder ist gegen die Vermögenssteuer, die SPD-Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel (Niedersachsen) und Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen) dafür. Auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer wirft ihren drohenden Schatten voraus. Es wird alles teurer, aber dafür haben wir auch weniger Geld. Wer kann noch sparen, wenn die Verschuldung der privaten Haushalte in diesem Tempo fortschreitet?

Das Rentensystem steht laut Bundesrechnungshof kurz vor dem Zusammenbruch, wenn der Bund nicht mit zusätzlichen Mitteln unter die Arme greift. Doch woher nehmen und nicht stehlen? Das weiß offensichtlich längst keiner mehr zu beantworten. Alle reden von Reformen, neudeutsch: Strukturreformen, aber das ist inzwischen eine Begriffshülse, der der Wähler nicht mehr vertraut. Und dem Wähler dürfte es auch reichlich egal sein, wenn ein Untersuchungsausschuss "Wahlbetrug" die jüngste Vergangenheit bewältigen sollte, weil das nur belegt, dass das Parteiengezänk Ausdruck einer abgrundtiefen Verunsicherung ist, die über alle Parteien hinwegfegt.

Weder der Kanzler noch sein Superminister wurden gewählt, um sich mit dem globalen Weltwirtschaftsschicksal zu exkulpieren, sondern der Kanzler hat anlässlich seiner Wahl erklärt, die Verhältnisse nun richten zu wollen und zu können. In Anbetracht wachsender Arbeitslosenzahlen und täglich neuer Katastrophenmeldungen ist dieser Optimismus längst enttäuscht. Die im Bundestag von Schröder bekräftigten Machbarkeitsvisionen überzeugen kaum noch jemand, zudem es das selbstgefällige Grundparadox der Regierung bleibt, einerseits politische Abhilfen für die Krise zu verkünden, andererseits aber die ungünstigen Winde der Weltwirtschaft zu beschwören.

Wird die Zwangsreform durchs System abgewartet?

Die um sich selbst kreisende Debatte, wer denn nun konzeptionsloser sei, Regierung oder Opposition, ist selbst ein Symptom der Krise. Das ist nicht einfach eine Krise auf Grund von Handlungsschwäche, sondern der einer tiefen kognitiven Verunsicherung, wie dem Zusammenbruch des bundesrepublikanischen Betriebssystems überhaupt noch beizukommen ist.

Nach J.P.Sartre ist der Mensch die Summe seiner Handlungen, Kanzler Schröder ist aber wohl eher die Summe seiner Reden. Doch Schönreden gilt jetzt nicht mehr. So lange so weiter gestritten wird und statt Konkretisierungen der nebulöse Reformfetisch um die Nasen des Wählers gewedelt wird, geht es diesem Land wohl noch nicht schlecht genug. Über kurz oder lang werden die sozialen Einbrüche, Arbeitsmarktkatastrophen und das Rentendesaster selbst zu den wahren Handlungsträgern der Politik werden. Dann regiert endgültig das Chaos - auch ohne verfassungsgemäße Ermächtigung. Sauve qui peut!

Das wäre freilich auch eine Strukturreform der gegenwärtigen Politik, eine Zwangsreform, der sich auch streitende Politiker nicht länger rhetorisch entziehen können. Nur dafür braucht man sie nicht und hier könnte dann vielleicht eines der vielen rieselnden Haushaltslöcher gestopft werden.