Tödliche Flüchtlingspolitik: Das Sterben auf der Suche nach Sicherheit

Sichere Fluchtwege stehen in der Regel nicht zur Verfügung. Es ist politisch nicht gewollt. Symbolbild: Danny 112 / Pixabay Licence

Das EU-Grenzregime und die deutsche Asylpolitik führen immer wieder zu Todesfällen – direkt oder indirekt. Auf welche Arten Betroffene sterben, dokumtiert eine Berliner Initiative.

In diesen Tagen erscheint die 30. Auflage der Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen". Das kleine Team der Antirassistischen Initiative (ARI) Berlin dokumentiert Suizide und Suizidversuche aus Angst vor Abschiebung ebenso wie Todesfälle und Verletzungen von Geflüchteten während und nach Abschiebungen, sowie an den deutschen Grenzen – aber auch infolge rassistischer Angriffe von Teilen der Bevölkerung und im öffentlichen Raum.

Die meisten der von dem Dokumentationsteam akribisch geprüften Fälle werden öffentlich kaum wahrgenommen oder sind schnell wieder vergessen. So wurde am 19. Mai 2022 in Chemnitz Bilal Jafal tot in seinem Bett aufgefunden. Seine Mitbewohner sagten, dass der libanesische Geflüchtete am Abend zuvor mit schweren Verletzungen im Gesicht nach Hause gekommen sei, die ihm von zwei Männern an einem Ort in Chemnitz zugefügt worden seien, der dafür bekannt ist, dass er von der rechten Szene frequentiert wird.

Nach rechten Aufmärschen im Jahr 2018 erregte auf die Szene in Chemnitz bundesweite Aufmerksamkeit. Trotzdem wurde der Tod von Bilal Jafal kaum wahrgenommen. Nun wird er wenigstens in der Dokumentation genannt.

Der Stromschlag am Münchner Rangierbahnhof

Von überregionalen Medien wurde auch kaum beachtet, dass am 24. Mai 2022 neun kurdische Geflüchtete von einem Stromschlag schwer verletzt wurden, als sie am Münchner Rangierbahnhof aus dem Güterzug klettern wollten, mit dem sie die letzte Station ihrer langen Flucht durch verschiedene Länder zurückgelegt hatten. Die 15-jährige Melike Akbaş starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Abu Bekir Demircan ist seit dem Unfall halbseitig gelähmt. Die Ausländerbehörden drohen mit Abschiebung.

Über diesen Vorfall, bei den Mensch getötet und mehrere weitere schwer verletzt wurden, gibt es kaum Presseberichte. Der Bayerische Rundfunk sprach immerhin korrekt von neun Verletzten, die Süddeutsche Zeitung titelte "Gefährliche Flucht über Zugdächer" als hätte es sich um ein Abenteuer wie S-Bahn-Surfen handeln. Nur in den Berichten von Medico-International wird schon der Überschrift Klartext gesprochen: "Tod durch das EU-Grenzregime. Melike Akbaş starb am 8. Juni 2022 in einem Münchener Krankenhaus nach dem Versuch der Flucht in eine bessere Zukunft."

Hier werden der Toten und dem Schwerverletzten ihre Namen wieder gegeben – und hier werden die Hintergründe beschrieben, warum die Menschen über das Dach eines Güterzuges ins Freie klettern wollten und dabei den Stromkabeln zu nahe kamen. Zum konkreten Unglück, dem Stromschlag, mögen die Witterungsverhältnisse, ein plötzlicher Starkregen, beigetragen haben.

Doch die Gründe für diese Art der Flucht liegen in deutschen und EU-Flüchtlingspolitik, die diesen Menschen nicht ermöglicht, legal einzureisen und nicht über Zugdächer klettern zu müssen.

"Man könnte Melikes Geschichte als einen tragischen Unfall erzählen, der viel Leid verursacht hat. Für Menschen auf der Flucht wie Melike aber gibt es keine ungefährlichen Wege, die sie in Sicherheit bringen. Es sind politische Entscheidungen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer, die sie dazu zwingen, diese Wege auf sich zu nehmen", heißt es sehr prägnant in den Medico-Bericht.

Den Menschen wird die Flucht so erschwert, damit sie sie möglichst erst gar nicht antreten. Da übertreffen sich die einzelnen EU-Länder in Schikanen. Da unterscheidet sich die deutsche Abschreckungspolitik gegen Geflüchtete nicht von der der italienischen Regierung, die Rettungsschiffen möglichst viele Hindernisse in Weg legt und damit Tote und Schwerverletzte in Kauf nimmt. Das geschieht im Mittelmeer genauso wie an vielen Orten in Deutschland.

Tausende solcher Schicksale hat das Dokumentationsteam seit drei Jahrzehnten gesammelt. Elke Schmitt war von Anfang dabei. Sie hat das antirassistische Projekt 1993 mit einer Mitstreiter:in gestartet. Damals hatte sich der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings an die Initiative gewandt.

Sie forschten nach und fanden heraus, dass der Mann mit acht anderen tamilischen Flüchtlingen beim Grenzübertritt in der Neiße an der deutsch-polnischen Grenze ertrunken war. Mit einem Filmteam machte die ARI damals seinen Tod öffentlich. Seitdem sammelt das kleine Team Nachrichten über Todesfälle, Misshandlungen und Gewalt, die in direktem Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik stehen. Auf ihrer Internetseite werden auch die Todesfälle des Jahres 2022 aufgelistet.

Das Fazit in der Dokumentation ist bedrückend:

In den Jahren 2016 bis 2022 kamen 243 Menschen durch Suizid ums Leben: das heißt, dass im Schnitt drei Menschen pro Monat starben. Suizidversuche und Selbstverletzungen wurden insgesamt 3691 dokumentiert, das sind 44 Geschehnisse pro Monat. Im selben Zeitraum starben 15 Personen durch direkte Polizeigewalt und 14 durch unterlassene Hilfeleistung. Auszugehen ist von wesentlich höheren Dunkelziffern.


Antirassistische Initiative (ARI) Berlin

Die Recherche der ARI kann ergänzt werden durch die Dokumentation der Initiative Dead in Custody, die 233 Todesfälle von Schwarzen Menschen, People of Couleur und Rassismus-Betroffenen durch Polizeigewalt und in staatlichem Gewahrsam auflistet.

Aus Panik aus dem sechsten Stock gesprungen

Daher muss es auch nicht verwundern, wenn Geflüchtete in Panik geraten, wenn die Polizei vor der Tür steht. Am 7. September sprang ein Geflüchteter aus Pakistan aus dem fünften Stockwerk seiner Wohnung in die Tiefe. Er überlebte und wurde schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht. Der Mann war in Panik geraten, weil die Polizei vor der Wohnungstür stand.

Allerdings suchte sie nicht ihn, sondern einen Mitbewohner. Laut Philipp Grunwald von der Asylberatung des Evangelischen Kirchenkreises Barnim ist es nicht selten, dass Geflüchtete panisch reagieren, wenn die Polizei vor der Tür steht.

"Einige Geflüchtete reagierten panisch, wenn die Maßnahmen durchgesetzt werden sollen und verletzten sich selbst, sagt Grunwald. "Viele Geflüchtete kommen aus total traumatischen Situationen. Vielen droht Gefahr in ihrer Heimat. Auch wenn das von der Behörde nicht so empfunden wird." Wenige Tage nach dem Sprung des Geflüchteten aus dem sechsten Stock gingen Freunde und Bekannte von dem Mann auf die Straße. "Ich bin Asylant. Ich habe Angst" stand auf einem der Schilder.

Diese Panik ist auch die Folge einer Flüchtlingspolitik, die die Berliner Initiative seit drei Jahrzehnten dokumentiert.