Top 5 Russland-News 2024: Was Moskau wirklich bewegte
Terror, Putins Wiederwahl und die Kursker Front prägten Russlands Jahr 2024. Die Moskauer Zeitung "Nesawisimaja Gaseta" kürt ihre Top 5. Platz 1 überrascht.
Die Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta hat den aus ihrer Sicht fünf dominierenden Ereignissen des zu Ende gehenden Jahres in Russland eine Artikelserie gewidmet. Die Auswahl gibt nicht nur Aufschluss über die Bedeutung dieser Ereignisse im heutigen Russland. Sie gibt auch einen Einblick in die Meinungen hinter den Kulissen der nahezu gleichgeschalteten russischen Presselandschaft.
Trumps Wiederwahl auf Platz 5
Die einzige internationale Nachricht mit Bezug zum Westen findet sich auf Platz fünf: Die Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Russland gehörte zu den Ländern, in denen sich mehr Menschen einen Erfolg Trumps als seiner Gegenkandidatin Kamala Harris wünschten.
Dies bedeutet jedoch keine Euphorie über den Wahlausgang oder eine Mehrheit für Trump an sich. In einer Umfrage des staatsnahen Instituts FOM sprachen sich gerade einmal 19 Prozent der Russen für einen Erfolg Donald Trumps aus, vier Prozent für einen der Demokraten und eine Mehrheit von 51 Prozent meinte, für Russland sei es egal, wer gewinnt.
Die mit Abstand häufigste Antwort der Trump-Sympathisanten auf die Frage nach dem Grund war die Hoffnung, dass er versprochen habe, den Krieg in der Ukraine zu beenden – und in der russischen Bevölkerung gebe es einen wachsenden Wunsch nach Frieden.
Alle anderen Möglichkeiten, Trump zu begrüßen, liegen im Bereich von unter drei Prozent der Befragten. Kaum jemand hofft derzeit auf eine wirkliche Verbesserung der Beziehungen zwischen Moskau und Washington. Das liegt vorwiegend an den Erfahrungen der ersten Amtszeit Trumps ab 2016, als der neu gewählte Präsident in Russland noch optimistischer begrüßt wurde. Es folgten bereits 2017 mehr als 40 US-Sanktionsrunden gegen Russland, auch mit Auswirkungen auf die wichtige Öl- und Gasindustrie.
Auch russische Experten sind skeptisch, ob Trump nun ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine bringen wird. Der politische Analyst Anton Barbaschin schreibt in einer Analyse, es sei auch für Trump innenpolitisch nicht einfach, die Ukraine einfach "aufzugeben". Möglich sei eine Kombination aus einem Angebot in Verbindung mit neuem Druck auf Russland und seine Handelspartner im Globalen Süden. Sollte das nicht funktionieren, erwartet Barbaschin, dass Trump "das Thema an sein außenpolitisches Team weitergibt, das die Politik früherer Regierungen wahrscheinlich nicht radikal überdenken wird".
Wiederwahl Putins auf Platz 4
Die Nesawisimaja Gaseta führt Putins Wiederwahl "mit einem beispiellosen Ergebnis" an vierter Stelle. Offiziell erhielt Russlands Dauerpräsident 87,28 Prozent der abgegebenen Stimmen, die Abstimmung hatte eher den Charakter eines "Referendums" (so auch die Moskauer Zeitung) als den einer Wahl zwischen verschiedenen Kandidaten.
Gegenkandidaten wie Boris Nadeschdin oder Jekaterina Dunzowa, die sich moderat gegen den russischen Feldzug in der Ukraine aussprachen und viele Russen für ihre Kampagnen mobilisierten, wurden gar nicht erst zur Wahl zugelassen.
Keine wirklichen Gegenkandidaten
Neben Putin standen am Ende nur farblose Vertreter aus der gezähmten parlamentarischen Opposition auf den Stimmzetteln. "Heute haben die Rivalen des amtierenden Präsidenten keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Viele Menschen verwechseln (den Gegenkandidaten) Leonid Sluzki immer noch mit dem gleichnamigen Fußballtrainer", beschreibt die Politologin Ksenia Smoljakowa treffend das traurige Bild der Putin-Alternativen auf dem Wahlzettel.
Überschattet wurde die Wahl von massiven Manipulationsvorwürfen, bei denen man sich fragt, warum der politische Apparat in Russland einen solchen Aufwand betreibt. Denn, so etwa der Wahlanalyst Iwan Schukuschin im exilrussischen Medium Sirena, die manipulierten Stimmen machten 29 Prozent der Wähler aus, womit Putin auch ohne solche Methoden mit 58 Prozent der Stimmen gewonnen hätte.
Dies wäre jedoch für die Vollstrecker an der Basis des Systems kein vorzeigbares Ergebnis für den eigenen Führer gewesen. Insofern scheinen die Manipulationen weniger aus der Not als aus dem vorauseilenden Gehorsam geboren, ein möglichst "überragendes" Ergebnis zu präsentieren.
Crocus-Terror und die Folgen für Migranten auf Platz 3
Auf Platz drei der wichtigsten Ereignisse des Jahres 2024 wählte die Nesawisimaja Gaseta den Terroranschlag auf das Moskauer Veranstaltungszentrum Crocus im März und die darauffolgende Verschärfung der russischen Migrationspolitik. Die aus Tadschikistan stammenden Attentäter wurden nach wenigen Stunden gefasst, 145 Menschen starben.
Ein Ableger des Islamischen Staates bekannte sich zu dem Terrorakt, lange Zeit verfolgten russische Offizielle auch eine sogenannte "ukrainische Spur". In der russischen Bevölkerung verschlechterte sich in der Folge die Stimmung gegenüber den zentralasiatischen Zuwanderern, die dort vor allem als Gastarbeiter unbeliebte Jobs verrichten.
Wie auch die Nesawisimaja Gaseta feststellt, wurde der Anschlag zum "Auslöser einer Kampagne zur Verschärfung der Migrationspolitik" in Russland. Exilrussische Experten benennen die Folgen offener. So spricht das Expertenportal Re:Russia von einem "Anti-Migranten-Rausch in Russland", der die Behörden dort erfasst habe. Visafreie Aufenthalte werden verkürzt, Abschiebungen ohne Gerichtsbeschluss erleichtert, Razzien verstärkt, neuerdings werden Migrantenkinder ohne entsprechende Russischkenntnisse auch nicht mehr eingeschult.
All diese Maßnahmen treffen in Russland vor allem Arbeitsmigranten aus Zentralasien und dem Kaukasus, deren Zahl infolge der Maßnahmen zurückgeht. Die russische Wirtschaft braucht sie dringend in Zeiten eines eklatanten Arbeitskräftemangels, über den laut Zentralbankchefin Elvira Nabiullina 75 Prozent der Unternehmen klagen.
Russland hat nicht nur ein Überalterungsproblem, auch viele junge Männer stehen an der Front. Andere, vorwiegend gut qualifizierte, sind vor dem Kriegseinsatz ins Ausland geflohen. Der Arbeitskräftemangel verschärft die wirtschaftlichen Probleme, von denen später noch die Rede sein wird. Die Analysten von Re:Russia sehen darin ein Zeichen dafür, dass die aktuelle "militaristisch-nationalistische Ideologie des Krieges" für den Kreml inzwischen wichtiger ist als die pragmatischen Ziele der langjährigen Wirtschaftspolitik.
Kursker Front" auf Platz 2
Auf Platz zwei der Liste der Moskauer Zeitung steht die sogenannte "Kursker Front". Dabei handelt es sich um den Einmarsch ukrainischer Truppen in die russische Region Kursk im August 2024 im Rahmen des Ukraine-Krieges. Diese Aktion, deren rein militärischer Nutzen umstritten ist, "kam für viele in Russland unerwartet", wie es die Nesawisimaja Gaseta sehr treffend ausdrückt.
Die Folgen waren zunächst weniger militärischer Natur, da die Ukrainer nur einen Teil der Region besetzen konnten. Aber es kam zu einem weiteren Vertrauensverlust der Russen in die regierungskontrollierten Medien, die die Ereignisse zunächst nicht wahrheitsgetreu wiedergaben – Hauptquelle wurden Online-Berichte von Bewohnern der Region. Vor allem das Fernsehen erlebt als Informationsquelle derzeit einen Absturz, nur noch 38 Prozent der Russen vertrauen ihren TV-Nachrichten, 2015 waren es noch 63 Prozent. Hier wurde die Invasion zunächst bestritten und dann vorschnell als abgewehrt bezeichnet.
Übertriebene ukrainische Hoffnungen, wie eine generelle Destabilisierung des Systems Putin, erfüllten sich nicht. Die russische Armee tat sich zunächst schwer mit der Rückeroberung der ukrainisch besetzten Gebiete, Putin wollte nur ungern Truppen von seiner eigenen, zeitgleichen Offensive im Donbass abziehen. Die Lösung boten ihm schließlich nordkoreanische Einheiten, die im Raum Kursk eingesetzt wurden, um fern der Heimat zu kämpfen. So konnten bis November 40 Prozent des im Rahmen der Offensive besetzten Territoriums zurückerobert werden.
Thema Nummer 1: Die wirtschaftliche Lage Russlands
Die Nummer eins der Nachrichten der Moskauer Zeitung war ein Thema, das die russischen Leser der Zeitung unmittelbar betrifft: die widersprüchliche Wirtschaftslage Russlands. Widersprüchlich deshalb, weil das Bruttoinlandsprodukt immer noch wächst und die Rüstungsindustrie boomt, hat Russland also den radikalen Sanktionen des Westens ein weiteres Jahr weitgehend getrotzt.
40 Prozent des Staatshaushaltes fließen mittlerweile in den Verteidigungssektor, hohe Löhne und eine hohe staatliche Nachfrage sind die Hauptursachen für das Wachstum. Wer im Rüstungssektor arbeitet oder ein Familienmitglied an der Front hat, dem geht es finanziell sehr gut.
Doch die wirtschaftliche Lage ist widersprüchlich, denn für die Bevölkerung gab es spürbare Turbulenzen. Der Rubel erlebte eine erneute Abwertung, die Inflation lag im November bei knapp neun Prozent und davor zeitweise darüber, obwohl die russische Zentralbank zur Kursstabilisierung den Leitzins auf derzeit 21 Prozent angehoben hat. Dies verteuert Kredite für Konsumenten und Unternehmen exorbitant.
Neben dem Rüstungssektor sind auch viele andere Branchen betroffen, wie z. B. die Bauwirtschaft. Zunehmend wird in der Beurteilung der russischen Wirtschaft das Szenario einer Stagflation, also einer hohen Inflation bei gleichzeitig fehlendem Wachstum, diskutiert. Das 2023 noch hohe Wachstum der Wirtschaftsleistung von 3,6 Prozent flachte bereits 2024 ab.
Verstärkt werden die wirtschaftlichen Sorgen durch den bereits erwähnten Arbeitskräftemangel. Jedes Jahr schrumpft nach offiziellen Angaben die Bevölkerung in der Altersgruppe von 20 bis 65 Jahren um rund eine Million Menschen. Die Zuwanderung von Arbeitskräften geht aufgrund restriktiver Maßnahmen zurück, der Wanderungssaldo ist seit 2023 negativ. Verzweifelt versucht das konservative Establishment mit Maßnahmen gegen Abtreibung, gegen die positive Bewertung von Kinderlosigkeit und finanziellen Anreizen für mehr Geburten.
Diese Strategie hat bisher keinen Erfolg gebracht. Die Geburtenrate in Russland ist auf dem niedrigsten Stand seit 25 Jahren, im ersten Halbjahr wurden 2,7 Prozent weniger Kinder geboren als im Vorjahreszeitraum. Gleichzeitig ist die Sterblichkeitsrate junger Männer aufgrund des andauernden Krieges hoch.
Die Zukunftsperspektiven der Menschen sind also auch nach einem Querschnitt der Themen, die in Russland selbst als wichtig erachtet werden, derzeit unsicher bis besorgniserregend. Die langanhaltende Kriegswirtschaft hat zu einem überhitzten Boom geführt, der nichts Nachhaltiges schafft. Die Folge ist eine verstärkte Friedenssehnsucht, die aber keine Destabilisierung des Systems Putin an sich bedeutet.
Denn nach wie vor hofft eine Mehrheit der Russen, vor allem der Älteren, dass der gewohnte Führer im Kreml das Land auch aus den aktuellen Schwierigkeiten führen wird. Wer anders denkt, kann dies schon lange nicht mehr offen äußern, und weder eine dominante oppositionelle Kraft noch eine starke Führungsfigur außerhalb des Systems sind mittelfristig in Sicht.