Tränen, aber auch Häme nach dem Flugzeugabsturz von Sotschi

Der russische Präsident Wladimir Putin am Sonntag bei der Erklärung der Staatstrauer. Bild: Kreml

Russland trauert um sein Aleksandrow-Ensemble. Ein Berater des ukrainischen Präsidenten spottete über die 92 Opfer

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Zahlreiche Moskauer legten in den letzten beiden Tagen Blumen vor dem Büro der Stiftung "Gerechte Hilfe" im Zentrum von Moskau nieder. Hier arbeitete die Ärztin Jelisaweta Glinka, genannt auch "Dr. Lisa". Vor zehn Jahren gründete sie die Stiftung und half Kindern, Obdachlosen und Krebskranken.

Die 54-Jährige saß in der Tupolew 154, die am Sonntag von Moskau zur russischen Luftwaffenbasis bei Latakia in Syrien fliegen sollte. Zum Auftanken landete die Maschine wegen des schlechten Wetters nicht wie geplant im nordkaukasischen Mosdok, sondern auf dem Flughafen Adler, einem Vorort von Sotschi. Am Sonntag um 5:27 startete die Maschine vom Flughafen Adler. Die Nachrichtenagentur Ria Novosti meldete, die Maschine habe nicht die nötige Höhe gewonnen. Sie sei umgedreht und dann sechs Kilometer vor der Küste ins Schwarze Meer gestürzt

"Wir wissen nie, ob wir lebend zurückkommen"

Erst Anfang Dezember hatte die Ärztin Jelisaweta Glinka von Wladimir Putin im Kreml eine Auszeichnung für ihr Engagement bekommen. Glinka hatte in den letzten zwei Jahren zahlreiche schwerkranke Kinder mit dem Zug aus den international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk nach Moskau gebracht, damit sie besser versorgt werden. Bei der feierlichen Zeremonie im Kreml hatte Glinka gesagt: "Wir wissen nie, ob wir lebend zurückkommen, denn Krieg ist die Hölle auf der Erde. Ich weiß wovon ich spreche."

Unter den Toten von Sotschi sind auch neun Journalisten der russischen Fernsehsender NTW, Swesda und 1. Kanal, sowie 65 Sänger und Tänzer des berühmten, russischen Aleksandrow-Ensembles. Der Chor des Ensembles ist berühmt für seine Lieder aus dem "Großen Vaterländischen Krieg" (1941 bis 1945), aber auch für seine Interpretationen von Queen- und Beatles-Songs. Das Orchester des Ensembles wurde von der Tragödie verschont, weil es in Moskau geblieben war.

Geheimdienst: Bisher kein Hinweis auf Terrorakt

Die Fluggeschwindigkeit der Maschine war nach Angaben des Geheimdienstes FSB normal. Der Geheimdienst nannte vier mögliche Ursachen für das Unglück: Eintreten eines fremden Gegenstandes in eins der Triebwerke, Kerosin niederer Qualität, ein Piloten- oder ein technischer Fehler.

Nach Mitteilung des FSB gibt es bisher keine Anzeichen für einen Terrorakt. Die Internetzeitung Lenta.ru meldete, es könne sein, dass die Maschine überladen war. Eine schlechte Qualität des Treibstoffes schließt der Informant von Lenta.ru dagegen aus, da auch andere Flugzeuge in Adler mit dem Kerosin betankt wurden und es bei ihnen keine Probleme gab.

Im Internet tauchte das Video einer Überwachungskamera am Strand "Ogonjok" auf, das angeblich zur Zeit der Katastrophe aufgenommen wurde. Am Horizont ist ein Leuchten am Himmel zu sehen. Russische Medien berichteten jedoch, das Leuchten am Himmel habe einen anderen Grund und das Video sei auch zu einer anderen Zeit aufgenommen worden.

Trümmer in 30 Meter Tiefe

45 Schiffe und fünf Hubschrauber sind bei der Suche nach Trümmern und Toten im Einsatz. Vierzehn Tote wurden bisher geborgen. Taucher bargen zwei Steuerungselemente der Maschine. Mit akustischen Geräten konnten Trümmer im Umkreis von 500 Metern geortet werden. Die Trümmerteile liegen in 30 Meter Tiefe. Der Meeresboden ist jedoch von Canyons durchzogen, was die Suche erschwert. Der Rumpf der Maschine wurde noch nicht gefunden.

Wie russische Medien berichteten, waren die Piloten der Maschine alle äußerst erfahren. Einer der Piloten hatte 2011 eine Tupolew 154, die zu Reparaturarbeiten von Moskau nach Samara geflogen werden sollte und wegen eines falsch angeschlossenen Stromkabels in der Luft "zu tanzen" begann, sicher zurück zum Start-Flughafen gebracht.

Passagiermaschinen vom Typ Tupolew 154 sind in Russland seit 1971 im Einsatz. 1.026 Maschinen wurden gebaut. 73 Maschinen des Typs gingen bei Unfällen zu Bruch. Seit 2005 wurden die Flugzeuge vom Typ Tupolew 154 schrittweise außer Dienst gestellt.

Der ehemalige Test-Pilot der sowjetischen Raumfähre Buran, Magomed Tolbojew, wies in einem Interview darauf hin, dass die abgestürzte Tupolew Eigentum der russischen Luftwaffe war und einer besonders strengen technischen Kontrolle unterlag. Die Außerdienststellung von Flugzeugen des Typs Tupolew 154 sei nicht zwingend. Langstreckenbomber aus Russland (Tupolew 95) und den USA (B 52) aus den 1950er Jahren seien immer noch im Einsatz.

Gennadi Sjuganow: "Das war kein zufälliges Unglück"

"Ich habe den Eindruck, dass es kein zufälliges Unglück war. Das war sehr ähnlich wie ein Terrorakt. Das muss man sehr genau untersuchen, weil man uns für unsere Kampfansage an den internationalen Terrorismus bestrafen wird." Die Worte stammen von Gennadi Sjuganow. Als der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation in der Talkshow von Wladimir Solowjow am Sonntag diese Äußerung machte, widersprach Niemand. Doch wegen mangelnder Fakten wurde die Vermutung in der Diskussion nicht konkretisiert.

Aleksej Puschkow, Mitglied des Föderationsrates, erklärte, Russland müsse sich auf "einen langen Kampf gegen den Terrorismus" einstellen. Die USA versuchten nun schon seit mehreren Jahren mit "nicht-staatlichen Akteuren" in regionalen Kriegen, ihren Einfluss auszuweiten. Nötig sei jetzt eine "internationale Koalition gegen den Terrorismus". Die Talkshow-Runde von Politikern und Politologen machte einen niedergeschlagenen, ratlosen Eindruck. Niemand wusste einen Rat, wie man die von Russland geführte Anti-Terror-Koalition um westliche Länder erweitern und schlagkräftig machen kann.

"Rache für Aleppo"

Während die Mehrheit im russischen und ukrainischen Internet trauerte, äußerte eine Minderheit ihre Freude über den Tod der Tupolew-Passagiere. Das sei die "Rache für Aleppo" konnte man vor allem bei ukrainischen Usern lesen. Die bekannte oppositionelle russische Journalistin Rosa Zwetowa warnte, es mit den Rachegefühlen nicht zu übertreiben. Einige hätten wohl "völlig die Orientierung verloren". Über "Tote, die ungeschützt sind", richte man nicht.

Besonders krass war der Kommentar von Juri Birjukow, seines Zeichens Berater des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und Experte für die Ausrüstung der ukrainischen Armee. Via Facebook teilte Birjukow mit, "die Bewohner der Nachbar-Horde (gemeint ist Russland, U.H.) verstehen wirklich nicht die Gründe, warum wir uns über den Tod von 80 Angehörigen der Armee der Horde freuen." Angeblich hätten sich auch russische Artillerieschüler gefreut, als sie ein Probeschießen auf die 72. und 79. Brigade der ukrainischen Streitkräfte machten. Sie hätten sich gefreut und Lieder gesungen.

Der Präsidentenberater schreibt, er habe jetzt "nur einen Wunsch, eine Flasche Bojaryschnik zur Botschaft der Horde zu bringen" (gemeint ist die Botschaft von Russland in Kiew). "Bojaryschnik" nennt sich der alkoholhaltige Badezusatz, an dem in Sibirien in den letzten Wochen über 70 alkoholabhängige Menschen gestorben sind.

Der Post des Präsidentenberaters bekam 6.700 Likes und wurde 780mal geteilt. Das ist schon ein deutliches Zeichen, wie tief ein Teil der ukrainischen Gesellschaft in den extremen Nationalismus abgerutscht ist.

Der Großteil der Ukraine hat sich aber menschliche Würde bewahrt und schweigt oder zeigt seine Trauer. Der ukrainische Blogger Anatoli Schari postete ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Menschen in Kiew rote Nelken in den Gitterzaun vor der russischen Botschaft stecken und Kerzen aufstellen. Auch die beiden Leiter des ukrainischen Oppositionsblockes, Wadim Nowinski und Juri Bojko, legten Blumen an der russischen Botschaft in Kiew nieder.

"Verlust ethischer Normen"

Der ukrainische Oppositionspolitiker Viktor Medwetschuk warf ukrainischen Regierungspolitikern vor, sie würden über Toten spotten. Nach Meinung des Politikers hat die ukrainische nationale Idee "moralische und ethische Prinzipien aus dem Bewusstsein der ukrainischen Macht verdrängt".

Der Autor dieser Zeilen kann sich nicht erinnern, dass russische User in den letzten drei Jahren Freude und Spott über den Tod von ukrainischen Soldaten geäußert haben. Sich über Tote lustig machen, ist eine Spezialität des ukrainischen Nationalismus und ein Zeichen, dass die Nationalisten in Kiew mit dem, was sie bisher erreicht haben, nicht zufrieden sind, und sogar fürchten, dass es unter einem Präsidenten Trump für sie noch schwieriger wird.