Trump: "Diese hässlichen Anarchisten müssen SOFORT gestoppt werden"

Bild: CHAZ

In Seattle wurde eine "Capitol Hill Autonomous Zone" (CHAZ) von Protestierenden nach dem Abzug der Polizei eingerichtet. Ein Experiment nach dem Vorbild der Occupy-Bewegung

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In Seattle haben Aktivisten, die nicht zentral organisiert sind, Capitol Hill, ein Viertel in Seattle, spontan am Montag übernommen und zur staats- und vor allem polizeifreien "Capitol Hill Autonomous Zone" (CHAZ) erklärt, nachdem die Bürgermeisterin Jenny Durkan von der Demokratischen Partei am Montag eine Polizeistation hat räumen lassen und die Polizei abgezogen hat, um den Konflikt zu deeskalieren. Die zuvor errichteten Barrieren wurden nun von den Besetzern übernommen, in CHAZ gibt es Wohnhäuser und Geschäfte, die Besetzer wollen zeigen, dass es ein Leben auch ohne Polizei gibt. Davor hatte es zwei Wochen lang Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften gegeben.

Bild: CHAZ

Natürlich wird diese erklärte territoriale Unabhängigkeit der Seattle-Kommune schnell wieder den realen Machtverhältnissen weichen, wie das auch bei den Platzbesetzungen der Occupy-Bewegung nach der Finanzkrise der Fall war. Jetzt eignen sich die Menschen den öffentlichen Raum an, errichten Zelte und siedeln Projekte an. Es gibt Musik, Filmvorführungen (beispielsweise "Paris is burning"), eine Rednerecke, kostenloses Essen, eine kleine Bücherei, einen Kaffeestand, eine "Farm" und Ideen, wie sich eine neue Stadtgemeinschaft herstellen lässt. Auch eine Website. Da wird die Abschaffung der Polizei gefordert, Amnestie für alle Demonstranten, Freilassung von Häftlingen, wenn sie wegen Haschisch oder nur wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt inhaftiert wurden, die Abschaffung von Jugend- und Privatgefängnissen, Kontrolle der Mieten, kostenlose College-Ausbildung etc.

Vor allem geht es hier, trotz verstreuter Gerüchte, friedlich zu, zumindest so lange, bis nicht wieder Polizei und/oder die Nationalgarde anrückt (Video). Zu den Gerüchten trägt auch die - schwarze - Polizeichefin Carmen Best bei, die sich hinter ihre Polizisten stellt und erklärt, dass der Abzug der Polizei nicht auf ihren Entschluss, sondern aufgrund von politischem Druck erfolgt sei.

Aber die Besetzung zeigt, dass es mit den Demonstrationen gegen Polizeigewalt eine Protestbewegung gibt, die sich allerdings nur dort eine Zeitlang festsetzen kann, wo demokratische Politiker regieren, die sich auch deswegen mit ihr solidarisieren und die Kritik an der Polizei aufnehmen, um sich gegen Trump und seine Republikaner in Stellung zu bringen. Der Gouverneur lässt gerade eine schon etwas zurückliegende Tötung durch Polizisten neu und unabhängig untersuchen, die eingesetzte Nationalgarde war unbewaffnet, der Polizei wurde der Polizeigriff, mit dem Floyd erstickt wurde, verboten, die Bürgermeisterin versucht, der Polizei beizubringen, deeskalierend vorzugehen und behaupteter Polizeigewalt nachzugehen, die Polizisten müssen Namensschilder tragen und ihre Bodycams bei allen Einsätzen während Demonstrationen angeschaltet zu lassen. Die Bürgermeisterin sucht den Dialog mit den Protestierenden.

Die Seattle-Kommune, die beweisen will, dass die Polizei für ein friedliches Zusammenleben nicht erforderlich ist, ist mittlerweile auch ins Schussfeld von US-Präsident Donald Trump geraten. Er hatte schon zuvor demokratischen Gouverneuren und Bürgermeistern gedroht, das Militär zu schicken, wenn sie die Unruhen nicht beenden. Seitdem versucht er, sich mit Law&Order-Ausrufen für seine rechte Anhängerschaft zu positionieren, für die alles, was links ist, die Anhänger der Demokraten eingeschlossen, ein Anathema ist. Gestern drohte er erneut mit Gewaltanwendung gegen die "heimischen Terroristen, die Seattle eingenommen" hätten:

Der radikal linke Gouverneur JayInslee und die Bürgermeisterin von Seattle werden auf eine Weise verspottet und ausgespielt, wie dies unser großes Land noch nie gesehen hat. Holt euch eure Stadt JETZT zurück. Falls ihr das nicht macht, werde ich es tun. Das ist kein Spiel. Diese hässlichen Anarchisten müssen SOFORT gestoppt werden. BEWEGT EUCH SCHNELL!"

Donald Trump

Weil er anstatt "stopped" "stooped" schrieb, wird Trump nun lächerlich gemacht. Washington-Gouverneur Jay Inslee antwortete ebenfalls darauf anspielend auf Trumps Tweet: "A man who is totally incapable of governing should stay out of Washington state's business. "Stoop tweeting." Jenny Durkan antwortete hart und mit dem demonstrativ gesetzten Hashtag "BlackLivesMatter": "Mach uns alle sicher. Geh zurück in deinen Bunker." Unter Trump ist das nun gängige politische Kultur geworden. Bei den Protesten vor dem Weißen Haus wurde Trump, der den Demonstranten mit "Vicious Dogs" and "Ominous Weapon" gedroht hatte, kurz zu seinem Schutz in den Bunker des Weißen Hauses gebracht.

Bild:CHAZ

Als das publik wurde, scheint dies Trump, der den starken Mann vor seinen rechten Anhängern spielen will und muss, so gewurmt zu haben, dass er meinte, er habe den Bunker nur zu einer Inspektion besucht. Am Tag darauf ließ er den Weg zur "Präsidentenkirche" von Demonstranten räumen und schritt, vereint mit dem Verteidigungsminister Mark Esper und General Mark Milley, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff und damit der höchste Militär, zur Kirche, um dort mit einer Bibel zu posieren. Offensichtlich war den beiden nicht klar, dass sie zu Statisten in einem Schauspiel wurden. Esper distanzierte sich von Trumps Forderung, das Militär in Städte zu schicken, und ließ die meisten der zur Unterstützung der Nationalgarde nach Washington verlegten Soldaten wieder abziehen. Milley sagte, er hätte nicht an Trumps Aktion teilnehmen sollen.

CHAZ jedenfalls ist zu einem neuen öffentlichen Ort in einer Stadt geworden, wo sich Protest und der Wunsch nach Gesellschaftsveränderung formiert, ohne dass es bislang eine gemeinsame politische Zielrichtung oder Führer gibt. Der kollektive Protest erinnert an die Besetzung des Tahrir-Platzes im Arabischen Frühling, an die Platzbesetzungen der Occupy-Bewegung oder die spanischen Empörten.

Aus den Vorgängerbewegungen, die großes Aufsehen fanden und Hoffnungen erweckten, entstand nichts Bleibendes. Occupy versiegte, die Empörten institutionalisierten sich als Partei (Podemos), die aber jeden Biss verloren hat, Tahrir führte letztlich zu einer neuen Diktatur. Vielleicht kann die Protestbewegung in den USA nach dem Mord an Floyd im Wahljahr tatsächlich politische Veränderungen bewirken. Sie wird von Demokraten und Republikanern, von Trump und Biden entsprechend instrumentalisiert.

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