Trump gewährt Aufschub für Einfuhrzölle

Von der Agenda 2010 zur Exportweltmeisterschaft - kurze Geschichte der Exportausrichtung der Bundesrepublik

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Trump ließ am 1. Mai Gnade walten. Weniger als vier Stunden vor Inkrafttreten der amerikanischen Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium hat die US-Regierung der EU, Mexiko und Kanada eine letztmalige Fristverlängerung bis zum 1. Juni gewährt. Damit sollen die Verhandlungen um neue Handelsabkommen, die zwischen EU und USA geführt werden, ohne handelspolitische Eskalation zum Abschluss gebracht werden können.

Dieser Aufschub verschafft vor allem dem Exportweltmeister Deutschland eine kurze Atempause. Kein anderer Industriestaat ist dermaßen stark von Exportüberschüssen abhängig wie die Bundesrepublik. 2017 exportierte die Bundesrepublik laut Statistischem Bundesamt Waren im Wert von 1,27 Billionen Euro, bei einem Überschuss in der Außenhandelsbilanz von 244,9 Milliarden Euro. Hieraus ergibt sich ein extremer deutscher Leistungsbilanzüberschuss von 7,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der mehr als doppelt so hoch ist wie derjenige Chinas. Deutschland ist somit Exportüberschussweltmeister.

Deutschland, du Schnorrer!

Das Problem, das aus einem hohen, dauerhaften Außenhandelsüberschuss resultiert, beschrieb beispielsweise die Frankfurter Rundschau anlässlich der Veröffentlichung der Zahlen des deutschen Leistungsbilanzüberschusses von 257 Milliarden Euro für 2017 (Leistungsbilanz ist eine um Geldüberweisungen erweiterte Handelsbilanz):

Politisch brisant sind diese 257 Milliarden, da sie dem Betrag entsprechen, um den sich das Ausland 2017 neu bei Deutschland verschuldet hat. Sprich: Deutschland lebt auf Pump - der anderen Staaten. Das führt immer wieder zu Kritik zum Beispiel der US-Regierung, aber auch der EU-Kommission.::FR

Deutschland exportiert somit letztendlich Schulden ins Ausland - eben jene Schulden, über die sich die veröffentlichte Meinung hierzulande so gerne aufregt, um später die deutschen Exportüberschüsse zu bejubeln. Diese Politik, mittels Exportüberschüssen die volkswirtschaftlichen "Nachbarn" zu ruinieren, wird seit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts als Beggar-thy-Neighbor-Politik bezeichnet.

Deutschland lebt somit auf Kosten seiner Handelspartner. Präziser formuliert: Die Fassade einer heilen kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in der Bundesrepublik wird durch die Deindustrialisierung und Verschuldung derjenigen Länder und Wirtschaftsräume aufrechterhalten, die ein Handelsdefizit mit der Bundesrepublik aufweisen.

Die gilt auch für die Vereinigten Staaten, die 2017 ein Handelsdefizit von 64,2 Milliarden US-Dollar gegenüber dem Exportüberschussweltmeister Deutschland verzeichneten. Das Weiße Haus - das schon in der Ära Obama hinter verschlossenen Türen die deutschen Exportoffensiven kritisierte - hat somit schlicht und einfach diese gegebenen Zusammenhänge skandalisiert, die zuvor aus Rücksicht auf die neoliberale Ideologie tabuisiert waren.

Geständnisse eines Exportjunkies

Diese extreme Exportfixierung der deutschen Wirtschaft ist aber keine ahistorische Konstante, sondern Folge eines konkreten historischen Prozesses. In den 70er oder auch den 90er Jahren des 20. Jahrhundert über wies die Bundesrepublik - mit Ausnahme eines kurzen Zwischenhochs in der zweiten Hälfe der 80er Jahre - keinen nennenswerten oder gar extremen Leistungsbilanzüberschuss auf (Der Aufstieg des deutschen Europa).

Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss explodierte aber regelrecht mit der Einführung des Euro - und zwar hauptsächlich gegenüber den Ländern der Eurozone. Deutschlands Überschuss in der Leistungsbilanz gegenüber den Ländern der Eurozone stieg von rund 10 Milliarden Euro 2001 auf mehr als 100 Milliarden im Krisenjahr 2007. Nach Ausbruch der Eurokrise gingen die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber dem im Schäublerischen Spardiktat versinkenden Euroraum sehr schnell zurück. Diese europäischen Einbrüche in der Leistungsbilanz wurden aber überkompensiert durch rasch zunehmende Überschüsse gegenüber den Schwellenländern, Südostasien - und vor allem den USA und Großbritannien.

Das Handelsdefizit der USA gegenüber Deutschland ist von 29 Milliarden Dollar bei der Euroeinführung über 44 Milliarden beim Krisenausbruch 2007 auf die besagten 64 Milliarden 2017 angestiegen. Dieses Ungleichgewicht wurde, wie gesagt, auch von der Obama-Administration kritisiert, die aber nicht bereit war, den Streit dermaßen eskalieren zu lassen, wie es der nationalistische Rechtspopulist Trump derzeit tut.

Zwei Faktoren trugen dazu bei, dass die Bundesrepublik derzeit zum Weltmeister im Schuldenexport avancieren konnte, der jährlich Handelsüberschüsse von mehr einer knappen Viertelbillion Euro erwirtschaftet (und folglich Auslandsschulden in eben solchem Ausmaß generiert). Zum einen ist es der Euro in seiner historisch einmaligen Funktion als gemeinsame Währung sehr unterschiedlicher, miteinander in Konkurrenz stehender Volkswirtschaften; zum anderen ist es der durchschlagende Erfolg der Agenda 2010, der zu einem massiven Anstieg der deutschen Exporte beitrug.

In Relation zu der Wirtschaftsstärke der Bundesrepublik ist der Euro immer strukturell unterbewertet, da sich in diesem Währungsraum auch Länder wie Portugal oder Griechenland wiederfinden, die den Wert dieser Währung tendenziell nach unten drücken. Der Euro nahm den Euroländern zudem die Möglichkeit, auf die ohnehin gegebenen Produktivitätsvorteile der deutschen Industrie mit Währungsabwertungen zu reagieren, wie es - etwa im Fall Italiens - jahrzehntelang üblich war.

Die Agendapolitik mit ihrer Prekarisierungsstrategie beförderte gezielt die Exportausrichtung der Bundesrepublik, indem sie den Preis der Ware Arbeitskraft - in Relation zu den europäischen Konkurrenten - drückte. Die Schaffung des europaweit größten Niedriglohnsektors, die niedrig gehaltenen Lohnstückkosten (Anteil der Löhne an den Kosten einer Ware), forcierten absichtlich den Schuldenexport in die Eurozone, der dann in der europäischen Schuldenkrise gipfelte.

Nach Ausbruch der Eurokrise konnte die deutsche Industrie eine Neuausrichtung ihrer Exportoffensiven auf Absatzmärkte jenseits der Eurozone vollführen, da der Euro, der sich jahrelang am Rande des Zerfalls befand, gegenüber anderen Währungsräumen tendenziell an Wert verlor - und so Exporte begünstigte. Zugleich wirkte das Schäublerische Spardiktat, das dem Währungsraum nach Krisenausbruch in Form der Austeritätspolitik oktroyiert wurde. Die Eurozone, die vor Ausbruch der Eurokrise eine relativ ausgeglichene Leistungsbilanz hatte, entwickelte ab 2012 einen extremen Leistungsbilanzüberschuss gegenüber dem außereuropäischen Ausland.

Berlin formte sein "deutsches Europa" nach seinem Ebenbild zu einem einseitig auf Export ausgerichteten Wirtschaftsraum: Die extremen Handelsüberschüsse der Bundesrepublik gegenüber der Eurozone, die vor Krisenausbruch gewissermaßen eine "innereuropäische Angelegenheit" waren, wandelten sich zu extremen Handelsüberschüssen der Eurozone gegenüber dem außereuropäischen Ausland.

Selbstverständlich werden die europäischen Handelsüberschüsse zum großen Teil durch den deutschen Handelsüberschuss akkumuliert, wie es etwa am Beispiel des Handels zwischen der Eurozone und den Vereinigten Staaten evident wird. Von dem Handelsüberschuss von 120 Milliarden Euro, den die Eurozone gegenüber den USA im vergangenen Jahr akkumulierte, entfallen rund 50 Milliarden Euro auf die Bundesrepublik. Zum Vergleich: Der Handelsüberschuss Europas gegenüber den USA betrug im Krisenjahr 2008 nur 48 Milliarden Euro. Das US-Defizit hat sich somit binnen einer knappen Dekade nahezu verdreifacht.

Systemkrise und Exportideologie

Dennoch ist diese Machtkonstellation, in der die Bundesrepublik vermittels Beggar-thy-Neighbor-Politik zu einer "Zentralmacht Europas" (SZ) avancierte, die den binneneuropäischen Schuldenexport im Gefolge der Eurokrise "globalisierte", kein reines Produkt deutschen Großmachtstrebens. Bei der Bundesrepublik handelt es sich vielmehr um einen Krisengewinner.

Inzwischen diskutieren selbst Wirtschaftskolumnisten auf Spiegel-Online, dass der Kapitalismus gerade zugrunde zu gehen scheine, und zwar "ganz ohne Revolution", wie es Henrik Müller formulierte. Dieser langfristige Krisenprozess, bei dem die zunehmenden Widersprüche des Kapitals dieses an die innere Schranke seiner Entfaltungsfähigkeit führen, motivierte auch die Agenda 2010.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt Deutschland aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und konjunktureller Stagnation als der "kranke Mann Europas", der gerade durch Hartz IV und Schuldenexport wieder zu einer scheinbar heilen Arbeitsgesellschaft gesunden konnte - auf Kosten der Verwüstung eben der Wirtschaftsräume, die die deutschen Exportüberschüsse aufnehmen.

Die Bundesrepublik konnte mit ihrem Schuldenexport deswegen erfolgreich sein, weil dieser in einer Zeitperiode der Globalisierung realisiert wurde, in der keine anderen großen Volkswirtschaften diese Strategie verfolgten. Die den kapitalistischen Krisenprozess charakterisierende Verschuldungsdynamik ermögliche es der Bundesrepublik, vermittels Exportüberschüssen von den konjunkturellen Effekten dieser gigantischen Defizitkonjunktur zu profitieren, ohne selber eine ähnlich extreme Verschuldungsdynamik hervorzubringen. Erst mit dem sich abzeichnenden Ende der Globalisierung und dem Aufstieg des Rechtspopulismus gerät diese deutsche Beggar-thy-Neighbor-Politik an ihre Grenzen.

In a nutshell: Extreme Exportausrichtung samt Agendapolitik und Hartz IV stellen Reaktionen der deutschen Funktionseliten auf den objektiven Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems dar. Die Exportausrichtung verschaffte der Bundesrepublik somit tatsächlich einen Aufschub gegenüber dem konkreten Durchbruch der Krisendynamik. Deutschland ist immer noch ein Industrieland, während dies für die USA nur noch bedingt gilt. Die Zeche für diesen Aufschub zahlten diejenigen Bevölkerungskreise, die von der damit einhergehenden Prekarisierung ergriffen wurden, wie auch die Bevölkerungen der Absatzmärkte der deutschen Exportindustrie.

Diese spezifisch deutsche Krisenkonstellation brachte eine entsprechende Exportideologie hervor, bei der die deutschen Exportweltmeisterschaften - und allgemein der Stolz auf die deutsche Wirtschaftsstärke - zu einem wichtigen Merkmal deutscher Identität wurden. Zugleich wurden die seit Jahren bekannten, evidenten Folgen dieser Beggar-thy-Neighbor-Politik in der Öffentlichkeit hartnäckig ausgeblendet oder negiert.

Dieser breit propagierte Wirtschaftsstolz diente auch als ideologische Entschädigung für all die Verzichtsforderungen, für all den zunehmenden Druck, der auf die bundesrepublikanische Arbeitsgesellschaft im Gefolge der Hartz IV-Reformen ausgeübt wurde. Und etwa zu einem raschen Anstieg psychischer arbeitsbedingter Erkrankungen führte.

Der krisenbedingt zunehmende Druck auf Lohnabhängige führte zur Etablierung eines "autoritären Kreislaufs" in all jenen Gesellschaftsmitgliedern, die sich eine Alternative zur kapitalistischen Dauerkrise nicht vorstellen können. Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat diesen irrationalen Konstituierungsprozess autoritärer und rechter Ideologien in der gegenwärtigen Krise präzise auf den Punkt gebracht:

Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele - präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen - verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht.

Oliver Decker

Die Agenda 2010 samt den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen kann somit als die eigentliche Geburtsstunde der neuen deutschen Rechten bezeichnet werden. Die neue Rechte ist ein Produkt des Neoliberalismus. Die neoliberale Verzichtspolitik, die von Schäuble europaweit exportiert wurde, förderte somit die autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen.

Je größer der Druck von "oben", etwa am Arbeitsplatz, desto größer der Hass auf die Krisenopfer unter all den Gesellschaftsmitgliedern, die die entsprechenden autoritären Dispositionen aufweisen. Der Unwille, sich gegen den Druck der Machtstrukturen zu wehren, führt somit zur autoritären Aggression gegen diejenigen, die machtlos sind. Der Masochismus des Untertanen, der sich gegen die zunehmenden Zumutungen nicht wehren will, verlangt nach sadistischer Satisfaktion. Dies wurde vor allem während der Eurokrise evident. Deswegen avancierte etwa Wolfgang Schäuble just dann zum beliebtesten Politiker Deutschlands, als er Griechenland leidenschaftlich demütigte und drangsalierte.

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