Türkei: Die assimilierte Opposition?

Seite 2: Die bürgerliche Opposition ist in Deckung gegangen

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Der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar ist inzwischen in Deutschland untergetaucht. Geht es nach Erdogan, soll er für seine engagierte journalistische Arbeit ins Gefängnis. Der deutsche PEN verleiht Dündar in diesem Jahr den Hermann-Kesten-Preis. "Mit Can Dündar und Erdem Gül zeichnen wir zwei mutige Kämpfer für die Meinungsfreiheit mit dem Kesten-Preis aus, die sich vehement gegen den Kurs von Präsident Erdoğan stellen, die Türkei zu einem autokratischen System umzubauen. Sie können sich in ihrem Kampf um die Freiheit des Wortes jederzeit auf die volle Solidarität ihrer deutschen PEN-Kollegen verlassen", sagte PEN-Vize Sascha Feuchert.

Dündar fühlte sich nachvollziehbarerweise in der Türkei nicht mehr sicher. "Es ist zur Zeit nicht möglich, sich sicher zu fühlen", kommentiert Murat. "Alles kann passieren, nichts lässt sich voraussehen." Er glaubt nicht an die neue Einigkeit, und auch nicht daran, dass sich die "Säuberungen" auf Gülen-Anhänger beschränken werden. "Das wirkt alles sehr panisch", sagt er, es könne jeden treffen. Wer gegen Erdogan sei oder die neue Einigkeit der Parteien mit Skepsis betrachtet, sagt er, der schweigt lieber. Zumindest in der Öffentlichkeit.

Es scheint so, als sei die urbane, bürgerliche Opposition, die sich vor allem in den Zentren von Istanbul und Izmir tummelt, in Deckung gegangen. Sie wissen sehr gut, wie viel das Phänomen großer Demonstrationen auch am Taksim-Platz wert ist: sie erinnern sich gut, wie jahrelang jede öffentliche oppositionelle Meinungsäußerung niedergeknüppelt wurde, und sie wissen, dass das auch jetzt geschehen würde, würde es jemand wagen, die neue Einigkeit infrage zu stellen.

Aber auch andere Gruppen, die gegen Erdogan stehen, werden unter Druck gesetzt. Ein Beispiel dafür sind die Aleviten (Die Aleviten in der Türkei stehen unter Generalverdacht); darüber hinaus gibt es eine Vielzahl kleiner und winziger Parteien, von denen aber keine eine nennenswerte Rolle spielt.

Außerparlamentarische Opposition ist aufgrund medialer Gleichschaltung sowie dem Damoklesschwert von Polizei- und Justizwillkür kaum noch möglich – und die Vielzahl linker und linksradikaler Kleinstparteien und Splittergruppen, die oft auch durch Gewalt auffallen, haben logischerweise keinen Rückhalt in nennenswerten Bevölkerungsteilen. Mit dem Ausschluss der HDP aus den laufenden parlamentarischen Entwicklungen und dem wieder aufgenommenen militärischen Konflikt mit der PKK sind die Kurden komplett außen vor und hätten auch in einem Bündnis von AKP, CHP und MHP keine Fürsprecher; Demirtas' Aufruf vom Juli, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen, verhallte ungehört.

Parteien sind in der Türkei nicht so wichtig wie charismatische Persönlichkeiten

Die Frage ist, in welche Richtung sich die Parteienlandschaft nun entwickelt. Klar ist, dass Erdogan nicht von seinem Vorhaben lassen wird, ein Präsidialsystem zu errichten, in dem selbst seine eigene Partei nur noch eine marginale Rolle spielen dürfte, was auch ein Phänomen der türkischen Politik ist: Parteien und ihre Programme waren nie so wichtig wie starke Einzelpersönlichkeiten. Das begann mit dem Personenkult um Atatürk und wird mit dem Erdogan-Kult sicher nicht enden.

Und in dieser Hinsicht ist die Opposition schwach. MHP-Chef Bahceli, dessen radikaler Nationalismus bisweilen faschistische Züge trägt, konnte noch nie die Massen begeistern; Kilicdaroglu wirkt eher blass und zehrt im Wesentlichen davon, dass es ihm gelang, die Traditionspartei CHP nach dem Rechtsruck unter Deniz Baykal wieder in Richtung Sozialdemokratie zu rücken, ohne dass es ihm aber gelang, der Partei ein griffiges neues Profil zu verpassen, das mehr wäre als eine Abgrenzung zur AKP.

Sowohl CHP als auch MHP hatten nach dem Putschversuch zurückhaltend auf Erdogans Gesprächsangebote reagiert, wenn auch beide Parteien bei Wahlen schon gemeinsam und auch gemeinsam mit AKP-Kandidaten gearbeitet hatten, so ist ein Schulterschluss dieser Ausmaße doch ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Es könnte ein Neuanfang sein, wenn Erdogan es ernst meinen würde; die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden großen Oppositionsparteien sich mit diesem Zug selbst abschaffen, steht aber auch im Raum. Denn letztlich ist nicht anzunehmen, dass Erdogan sich ihrer Kritik annehmen wird, wenn es um Machtfragen geht.

Bei einem viel diskutierten Auftritt in Deutschland im Jahr 2008 sagte Erdogan zu seinem Publikum, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschenrechte. Eine sich assimilierende Opposition als Sahnehäubchen auf ein zwangsassimiliertes Land dürfte ihm allerdings gelegen sein.