Türkei wehrt sich gegen Vorwürfe der Legalisierung von Kindsmissbrauch
Das aufgrund eines Gerichtsurteils annulierte Gesetz soll noch vor Ablauf seiner Geltung durch ein neues ersetzt werden
Ende letzter Woche machte in europäischen Medien eine Meldung Schlagzeilen, die eigentlich schon etwas älter ist: Nachdem das oberste türkische Gericht im Juli entschied, dass das bisherige türkische Missbrauchsgesetz, das alle sexuellen Handlungen mit Personen unter 15 Jahren unterschiedslos als Missbrauch einstufte, nicht zwischen Babys und Jugendlichen differenziert und deshalb verfassungswidrig ist, stimmte das Parlament dafür, sich an die Verfassung und den Urteilsspruch zu halten und die Vorschrift zu annullieren.
Was in den meisten europäischen Medienberichten nicht stand, ist, dass das Gesetz auch nach seiner Annullierung noch bis zum 1. Januar 2017 gültig bleibt - und dass das türkische Parlament vor hat, in den gut vier Monaten bis dahin ein neues Gesetz zum Schutz vor sexuellem Missbrauch zu verabschieden, dass den Differenzierungsansprüchen der Verfassung genügt.
Begriffsmischung mit Empörungspotenzial
Außerdem fiel bei zahlreichen Berichten in europäischen Medien auf, dass sie für alle Personen unter 18 Jahren nicht den Begriff "Minderjährige", sondern den Begriff "Kinder" verwendeten. Damit erzeugen sie bei Fernsehzuschauern und Lesern Phantasien von Perversen, die Babys misshandeln, beschreiben aber gleichzeitig einen Tatbestand, der auch das einvernehmliche Liebesspiel zwischen einem 17-Jährigen und einer 18-Jährigen umfasst. In den USA kommt es immer wieder zu spektakulären Fällen, bei denen solche einvernehmlichen sexuellen Handlungen zwischen klar geschlechtsreifen Personen zu harten Haftstrafen und zu noch härteren Einträgen in ein Sexualstraftäterregister führen, die viele Menschen in der Obdachlosigkeit landen lassen (vgl. Sexualstraftäter wegen Nackt-Selfie? und Andere Länder, andere Tabus).
Vor zwei Tagen beschwerte sich der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in einem Interview mit der Bild-Zeitung, dass es eine Kampagne gegen sein Land gebe, an der auch europäische Medien beteiligt seien. Damit hat er wahrscheinlich nicht ganz Recht - aber auch nicht ganz Unrecht. Tatsächlich ist der Sachverhalt komplexer: Die AKP-Regierung hat sich durch ihre rechtsstaatlich eher bedingt angemessene Reaktion auf den Putschversuch vom 15. Juli, durch ihre Beteiligung an der Destabilisierung Syriens und durch die Förderung ausländischer Islamisten wie der Moslembrüder und der Hamas selbst in eine Lage gebracht, in der sie damit rechnen muss, sich Kritik von freien Medien anhören zu müssen.
Nimmt diese Kritik einen gewissen Umfang und eine gewisse Dynamik an, wird sie leicht zu einer Mode, bei der neben berechtigten Vorwürfen auch unberechtigte laut werden - oft in einem geifernden Tonfall, der früher auf Boulevardmedien beschränkt war und der heute besonders in Organen wie Spiegel Online auffällt, wie ein Gastbeitrag bei Felix von Leitner sehr anschaulich zeigt. Beispiele dafür wären neben der Türkei auch der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump, die britischen Brexit-Befürworter Boris Johnson und Nigel Farage oder der russische Staatspräsident Wladimir Putin.
Bei allen diesen Moden kommen Ressentiments an die Oberfläche: Bei Putin sind es Relikte aus dem Kalten Krieg, bei Johnson und Farage solche aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Fall der Türkei noch ältere Fantasien über orientalische Wollust, die Edward Said in seiner bekannten Werk Orientalismus beschrieb. Damals, im 19. Jahrhundert, galt der Islam mit seiner Vielweiberei und seinen Harems als dekadent und das Christentum galt als Gegenteil davon. Über hundert Jahre später haben sich diese Vorstellungen in der Jugend allerdings so weitgehend in ihr Gegenteil verkehrt wie sich die Migrationsströme der Kolonialzeit umkehrten.
Im Fall der aktuellen Anti-Türkei-Mode kommt noch hinzu, dass vor allem Teile der Linken in einer romantischen Vorstellungswelt gefangen sind, in der kurdische PKK-Anhänger keine Terroristen, sondern "edle Wilde" sind, wie in den Romanen Karl Mays. Anstatt zu versuchen, ein möglichst objektives Bild der Lage zu gewinnen und zu zeichnen, verstehen sie sich als Parteigänger und versuchen der vermeintlich "guten Sache" durch Weglassen, Ausschmücken und Hinzufügen zu dienen.
Türkischer Außenminister korrigiert schwedische Amtskollegin
Solche Berichte haben auch Auswirkungen auf die Politik: In Schweden, dessen Sexualstrafrecht selbst insofern problematisch ist, als es ermöglicht, dass Julian Assange wegen des Vorwurfs eines geplatzten oder weggerutschten Kondoms jahrelang auf engsten Raum gefangen gehalten wird, meldete sich die sozialdemokratische Außenministerin Margot Wallström zu Wort und forderte die türkischen Regierung via Twitter dazu auf, die Annullierung rückgängig zu machen, weil "Kinder" stärker vor sexuellen Missbrauch geschützt werden müssten. Ministerpräsident Stefan Löfven, ebenfalls ein Sozialdemokrat, schloss sich Wallströms Vorstoß kurz darauf an, worauf hin der türkische Außenminister sich bemüßigt sah, öffentlich richtigzustellen, dass der Tweet seiner schwedischen Amtskollegin "auf Falschinformationen beruht".
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