Türkische Popdiva vor dem Kadi

Die Sängerin Bülent Ersoy steht vor Gericht, weil sie die Moral der Truppe untergraben und zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen haben soll

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Trotz erheblicher Fortschritte auf dem Felde der Meinungsfreiheit gibt es noch immer Grenzen, die in der Türkei nicht ungestraft überschritten werden. Dies bekommt nun ausgerechnet die populäre Sängerin Bülent Ersoy zu spüren, die als Transfrau zwar schon für manchen Skandal sorgte, in politischen Fragen bislang allerdings als zurückhaltend und eher unbedarft galt. Weil sie im vergangenen Februar in der TV-Casting-Show Popstar Alaturka, dem türkischen Pendant zu „Deutschland sucht den Superstar“, spontan die Militäroperationen im Nordirak kritisierte, steht die Diva nun seit Mittwoch in Istanbul vor Gericht.

Angeklagt ist sie nach dem berüchtigten Paragraphen 318 des türkischen Strafgesetzbuches, mit dem „die Entfremdung des Volkes von der Armee“ geahndet wird. Bei dem Fernsehauftritt im Februar hatte Ersoy erklärt, sie würde ihren Sohn, wenn sie denn einen hätte, „niemals in diesen Krieg, der von anderen am Schreibtisch ausgeheckt wird, schicken“. Auch den Märtyrerkult, der um gefallene türkische Soldaten betrieben wird, beurteilte die Sängerin skeptisch: „Immer dasselbe Gerede. Die Kinder sterben, Tränen, Trauer, Beerdigungen... und dann immer diese Klischees.“

Bülent Ersoy bei Popstar Alaturka

„Jeder Türke wird als Soldat geboren“

In der Anklageschrift wird Ersoy zum Vorwurf gemacht, das „hohe Ansehen“, das die türkische Armee in der Bevölkerung genieße und das in Sprichwörtern wie „Jeder Türke wird als Soldat geboren“ zum Ausdruck komme, mit Füßen getreten zu haben – und das auch noch zu einem Zeitpunkt, als die türkischen Truppen „unter schwierigen winterlichen Bedingungen auf ausländischem Boden im Kampfe gegen den Terror“ standen. Dank ihrer Popularität seien die Worte bestens dazu geeignet gewesen, die „Moral der Truppe“ zu untergraben und „Propaganda für den Feind“ zu treiben, argumentiert die Staatsanwaltschaft.

Die heftige Reaktion, die Ersoy durch ihre an sich harmlose Kritik ausgelöst hat, ist symptomatisch für weite Teile der türkischen Gesellschaft, die gegenüber den zwölf Exkursionen, die die türkischen Streitkräfte seit dem vergangenem Dezember in den Nordirak unternommen haben, bislang insgesamt eine recht unkritische Reaktion an den Tag legte. Die Härte, mit der die Sängerin nun gerichtlich abgewatscht wird, hängt auch damit zusammen, dass sie sich als einzige Vertreterin des türkischen Mainstream, dem sie trotz ihrer für türkische Verhältnisse schrillen Rolle als Transsexuelle zugerechnet werden kann, gegen die Militäroperationen gestellt hat – und so die Verfolgungswut der Staatsanwälte auf sich zog, die sonst gemeinhin eher der türkischen Linken und den Kurden vorbehalten bleibt.

Doch um den Vorwurf, Propaganda für die PKK getrieben oder dem Ansehen des Militärs geschadet zu haben, geht es bei dem jetzigen Prozess nur zweitrangig. Ohnehin läuft gegen Ersoy parallel ein Verfahren vor einem Amtsgericht in Ankara, in dem der Straftatbestand „Beleidigung der Armee“ im Vordergrund steht. Bei dem jetzt in Istanbul eröffneten Prozess geht es hingegen vornehmlich um die „Wehrkraftzersetzung“ nach Paragraph 318. Durch ihre Äußerung habe Bülent Ersoy den Standpunkt vertreten, „dass die Familien ihre Söhne nicht in die Armee schicken sollen... und die Soldaten in diesem Krieg einen sinnlosen Tod sterben“, lautet der zentrale Punkt in der Anklageschrift. Dadurch habe die Diva zu „Fahnenflucht“ und vor allem zu „Wehrdienstverweigerung“ aufgerufen.

Tatsächlich ist ein Aufruf zur „Wehrdienstverweigerung“ in der Türkei noch immer strafbar – aus dem einfachen Grunde, weil es in dem Land noch immer kein Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt. Als letztem Mitgliedsstaat des Europarates herrscht in der Türkei die allgemeine Wehrpflicht, ohne dass die Alternative eines Zivildienstes bestünde oder die Verweigerung des Dienstes an der Waffe aus Gewissensgründen anerkannt würde. Für jeden männlichen Türken ab 20 Jahren ist die Ableistung des fünfzehnmonatigen Grundwehrdienstes obligatorisch.

Allzweckwaffe gegen Kritiker

Ohne es vermutlich zu wollen, hat Ersoy also durch ihre Worte, sie würde ihren Sohn nicht in die Armee schicken, um ihn dann im Kampf gegen die PKK „verheizen“ zu lassen, den militärischen Zwangsdienst in der Türkei insgesamt in Frage gestellt. Und gegen Kritiker, die ein „Recht auf Kriegsdienstverweigerung“ und die Einrichtung eines zivilen Ersatzdienstes einfordern, schaltet das türkische Militär bereits seit 1989 regelmäßig die Staatsanwaltschaften ein. Die rechtliche Grundlage bildet dabei immer Paragraph 318, der nun auch in dem Prozess gegen Ersoy zum Zuge kommt.

Insbesondere die bekannte Publizistin Perihan Magden kann ein Lied von den Konsequenzen singen, die bereits die Forderung nach Zivildienst nach sich ziehen kann. Als sie im Jahre 2006 für das Nachrichtenmagazin Yeni Aktüel einen Artikel zu dem Thema verfasste, vertrat sie den Standpunkt, dass Wehrdienstverweigerung ein Menschenrecht sei und auch ein ziviler Ersatzdienst einen wertvollen „Dienst am Vaterlande“ darstelle:

Es ist nicht hinnehmbar, dass nur mit der Waffe in der Hand dem Vaterland ein Dienst erwiesen werden kann. Das Aushelfen in einem Kindergarten, das Fahren eines Krankenwagens oder Englischunterricht in einem Waisenheim stellen einen ebenso wertvollen Dienst dar.

Dem Militär ging selbst diese Ansicht schon zu weit, die Journalistin landete vor Gericht. Auch andere bekannte Journalisten, wie etwa Tugrul Eryilmaz, Ibrahim Cesmecioglu oder Gökhan Gencay standen wegen Paragraph 318 bereits vor dem Kadi.

Keine Änderung in Sicht

Es ist eher unwahrscheinlich, dass Bülent Ersoy wegen ihrer Kritik und ihrem angeblichen Aufruf zur „Kriegsdienstverweigerung“ ins Gefängnis wandern wird. Nur selten hat bislang eine Anklage wegen Paragraph 318 auch tatsächlich zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt, in den meisten Fällen stufen die türkischen Richter das Recht auf freie Meinungsäußerung höher ein. Doch hindert dies das Militär und die Staatsanwaltschaften nicht daran, weiterhin regelmäßig Klagen wegen Paragraph 318 ins Rollen zu bringen. Offensichtlich setzt man dabei auf die abschreckende Wirkung, die durch die Prozesse entfaltet wird.

Denn die Kriminalisierung der Debatte trägt dazu bei, dass in der Türkei an der allgemeinen Wehrpflicht bis heute nicht ernsthaft gerüttelt wird und auch die Einführung eines Zivildienstes bislang kein Thema ist. Die schweren Vorwürfe, die gegen Bülent Ersoy mit der jetzigen Anklage erhoben wurden und die ihr einen Anstrich als „Vaterlandsverräterin“ verpasst haben, werden im übrigen dafür sorgen, dass sich Prominenz und Intellektuelle auch weiterhin Zurückhaltung auferlegen.

Allein der EU-Beitrittsprozess könnte dafür sorgen, dass sich an der rigiden türkischen Auffassung von Wehrpflicht in absehbarer Zeit doch noch etwas ändert. In EU-Berichten zu den Reformschritten sind die Einführung eines Rechts auf Wehrdienstverweigerung und eine Revision des „Wehrkraftzersetzungs-Paragraphen“ 318 schon mehrfach angemahnt worden. Mit einem schnellen Politikwechsel Ankaras ist allerdings kaum zu rechnen. Denn jede Änderung an der Wehrpflicht oder an Paragraph 318 würde unweigerlich einen Konflikt mit dem einflussreichen türkischen Militär heraufbeschwören – und Ärger mit seinen Generälen hat Ministerpräsident Tayyip Erdogan derzeit wahrlich schon genug (In der Türkei steht das Verbot der Regierungspartei bevor).