Türkischer Operettenkrieg

Mutmaßlich türkische Panzer in Syrien. Bild: Eldorar al-Sham

Ein widerwärtiger Großmachtpoker wird um die Leiche Syriens geführt - auf dem Rücken der Selbstverwaltung in Rojava

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Das gestrige Treffen zwischen US-Vizepräsident Biden und dem türkischen Präsidenten Erdogan wurde in Moskau achtsam verfolgt. Die Annäherung zwischen Moskau und Ankara habe Washington "nervös" gemacht, freute sich die staatliche Nachrichtenagentur Sputniknews anlässlich der jüngsten Türkei-Visite von US-Vizepräsident Joe Biden.

Washington werde versuchen, eine "Linie zu ziehen" und von Ankara eine Erklärung für die geopolitische "Kehrtwende" verlangen, die zu einer Annäherung zwischen Russland und der Türkei führte. Biden werde Erdogan zu überzeugen versuchen, dass er nicht mit Russland kooperieren solle, um "die syrische Krise zu lösen", erklärte ein russischer Analyst gegenüber Sputniknews.

Inzwischen dürfte klar sein, dass im Gefolge der Biden-Visite in Ankara eher im Kreml das große Nervenflattern einsetzt. Die spektakuläre Annäherung zwischen Erdogan und Putin in den vergangenen Wochen wurde durch eine Reihe von wirtschaftspolitischen Projekten flankiert - doch zentral waren geopolitische Zugeständnisse beider Seiten. Die Türkei ließ ihre Forderung nach dem Sturz des Assad-Regimes fallen, während zugleich das mit Russland verbündete Assad-Regime die syrischen Kurden angriff und Moskau den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien tolerierte. Die Kurden Nordsyriens wurden mit diesem rücksichtslosen geopolitischen Manöver Putins Erdogan zum Fraß vorgeworfen, um diesen möglichst weit aus der NATO zu lösen, die dem türkischen Regime sein syrisches Abenteuer zuvor aufgrund russischer Vorbehalte verwehrte (Türkische Offensive in Syrien mit US-Unterstützung).

Biden bewies in Ankara, dass die USA die Verschlagenheit und Rücksichtslosigkeit Moskaus locker überbieten können. Er bot den Türken auf einem Silbertablett in aller Öffentlichkeit mehr an, als es Moskau je in diplomatischen Unterredungen tun konnte. Der Kreml stimmte der Intervention der Türkei in Syrien zu, sonst hätte es ja russische Proteste und Drohungen in deren Vorfeld gegeben - doch die USA unterstützen dieses imperialistische Abenteuer Ankaras zugleich mit Luftschlägen und Militärberatern.

Zugleich verriet Biden die Kurden, die von Moskau in aller Stille fallen gelassen wurden, möglichst öffentlichkeitswirksam in einer fast schon infantilen Geste - offensichtlich, um Erdogan zufriedenstellen. Der US-Vizepräsident forderte in Ankara die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG auf, sich sofort östlich des Euphrats zurückzuziehen, das vor kurzem vom IS unter großen Opfern befreite Manbij aufzugeben und alle Hoffnungen auf Selbstverwaltung und Autonomie in Syrien fallen zu lassen. Tiefer kann ein medienwirksam inszenierter Verrat an den Kräften, die maßgeblich den IS in Syrien bekämpften, kaum gehen.

Die USA agieren auf der geopolitischen Bühne noch rücksichtsloser als Moskau

Ankara kann dies als vollen Erfolg feiern. Aus der Sicht der türkischen Staatsislamisten handelte es sich um ein geschicktes Lavieren zwischen den Großmächten USA und Russland, um ein Maximum an Zugeständnissen bei ihrem Krieg gegen die Kurden und die Selbstverwaltung in Syrien zu erreichen. Nachdem Moskau - in der Hoffnung auf eine Lockerung der Westbindung der Türkei - grünes Licht für die türkische Invasion gab, ließ sich Ankara von den USA alle gewünschten Zugeständnisse auf dem Silbertablett präsentieren, um die Türkei in der NATO zu halten - und zugleich die eigene Präsenz im Bürgerkriegsgebiet zu stärken.

Das Geheimnis dieses amerikanischen Erfolgs: Die USA agieren auf der geopolitischen Bühne noch widerwärtiger, noch rücksichtsloser als Moskau. Moskau verrät die Kurden implizit, indem der Einmarsch der türkischen Soldateska toleriert wurde. Kurdische Aktivisten beurteilten jüngst das Schweigen Moskaus als eine Zustimmung zu der Invasion und forderten Russland auf, eindeutig Stellung zu beziehen. Bei Washington ist das ja nicht mehr notwendig. Die USA machen das offen, vor aller Welt. Washington kann Ankara den Verrat ihrer offiziellen Verbündeten anbieten, die bisher militärisch beim Kampf gegen den IS unterstützt wurden.

Was noch vor kurzem wie ein ebenso skrupelloser wie genialer geopolitischer Schachzug Putins aussah, entpuppt sich nun als ein außenpolitisches Desaster des Kremls - vergleichbar in etwa mit der russischen Zustimmung zur militärischen Intervention des Westens in Libyen. Russland hat von Ankara Zusagen erhalten: die Zusage, Pipelineprojekte zu realisieren, ein russisches Atomkraftwerk zu kaufen, und - dies ist zentral - Assads "Rolle" in einer "Übergangsphase" zu akzeptieren. Im Gegenzug für diese wolkigen Zusagen stoßen jetzt türkische Panzer samt US-Beratern auf nordsyrisches Territorium vor, während sich die gesamte "westliche Wertegemeinschaft" voll hinter den berüchtigten NATO-Partner Türkei stellt. Auch die Bundesregierung zeigte Verständnis dafür, dass Ankara nun ihren Krieg gegen die Kurden führen will.

Dem Kreml scheint es immerhin inzwischen zu dämmern, dass Putin hier ausmanövriert wurde und Russland nun als der große Verlierer bei der türkischen Syrienintervention dasteht. In ersten Stellungnahmen erklärten russische Vertreter des Außenministeriums noch ihre vorsichtige Unterstützung des türkischen Syrienabenteuers. Die Türkei müsse nur "ihr Vorgehen mit der syrischen Führung abstimmen", so fasste die Tageszeitung Die Zeit die ersten Reaktionen Moskaus zusammen. Aber genau dies tut Ankara offensichtlich nicht.

Der überschäumende, mit verdrängten Minderwertigkeitskomplexen angereicherte türkische Imperialismus, der Erdogans neo-osmanischen Krieg in Syrien antreibt, wird allein am historischen Datum des Einmarsches deutlich: Am 24. August 1516 konnte das Osmanische Reich die Schlacht von Mardsch Dabiq gegen die Mamluken für sich entscheiden, mit der ganz Syrien unter osmanische Fremdherrschaft geriet.

Als klar wurde, wie innig die amerikanisch-türkische Kooperation bei dem Militärabenteuer ist, das letztendlich dazu beiträgt, die Verstimmungen im westlichen Lager zu überbrücken, vollführte Moskau rasch eine Neubewertung, bei der die Intervention nun kritisiert wird. Man sei "besorgt" über die türkischen Operationen in Syrien, die "innerethnische Spannungen" befördern würden, hieß es nun in einer vorsichtigen Stellungnahme des russischen Außenministeriums.

Vom geopolitischen Schmierentheater zum Operettenkrieg gegen den IS

Nun geht das türkische Regime, das selbst interne deutsche Regierungseinschätzungen als einen der größten regionalen Terrorunterstützer benennen, mit aller Macht gegen die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) vor, die sich als die effektivste Kraft im Kampf gegen den Islamischen Staat zeigte. Und dies alles läuft unter dem Label des "Antiterrorkriegs". Dem geopolitischen Schmierentheater, das Biden und Erdogan in Ankara aufführten, folgte somit ein absurd anmutender Operettenkrieg gegen den IS in der Grenzstadt Jarabulus bzw. Dscharabalus - der umgehend in Angriffe gegen die SDF übergeht.

Mit großem Getöse und mehrtägigen Bombardements wurde der endlich beginnende "Krieg" der Türkei gegen den Islamischen Staat - die bislang diese dschihadistische Genozidmiliz nach Kräften unterstützte - eingeleitet. Drohnen schwirrten um Jarabulus, das Artilleriefeuer wollte nicht verstimmen, Kampfflugzeuge flogen risikoreiche Einsätze, türkische Spezialeinheiten machten sich bereit, dem Tod ins Auge zu blicken. Als dann der Einmarsch erfolgte, spazierten die von Ankara angeheuerten islamistischen Milizionäre durch eine verlassene Geisterstadt.

Es gab keine Kämpfe um Jarabulus, da der IS den Abzug seiner Kämpfer aus der Stadt angeordnet hat. Es handelte sich hierbei sozusagen um ein kleines Geschenk unter dschihadistischen Glaubensbrüdern. Jarabulus wurde den türkischen Invasoren quasi besenrein übergeben, ohne auch nur die berüchtigten IED zu verstecken, wie sonst beim IS üblich. Es gab keine Kämpfe der türkischen Armee gegen den Islamischen Staat und keine Verluste der islamistischen Milizen in der Grenzstadt, die den Anhang der türkischen Invasionstruppen bilden. Und es kann als gesichert gelten, dass auch zukünftig der Terror des Islamischen Staates in der Türkei sich nur gegen die Gegner Erdogans richten wird.

Doch inzwischen toben heftige Gefechte rund um die syrische Grenzstadt. Die türkische Armee ging umgehend dazu über, das Feuer auf die Einheiten der SDF zu eröffnen, die in das Niemandsland vordrangen, das vom Islamischen Staat in Erwartung der türkischen Invasion geräumt wurde. Berichten zufolge soll der IS seine verbliebenen Truppen in Al Bab zusammenziehen, um eventuelle Vorstöße der SDF in Richtung des Kantons Afrin abzuwehren.

Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die SDF erklärten nach dem Beginn des Einmarsches, sich den Forderungen Bidens und Erdogans nach einem Rückzug aus dem westlich des Euphrats gelegenen Gebieten zu widersetzen. Ein Sprecher der YPG sagte, dass die Volksverteidigungseinheiten den türkischen Angriff als eine "feindliche Intervention" betrachten, die sich ausschließlich gegen die Kurden richte. Als Teil der SDF werde man nicht auf die Forderungen der Türkei oder anderer Mächte eingehen. Rojava weigert sich somit, bei dem Schmierentheater mitzuspielen.

Damit droht den SDF der Verlust der militärischen Unterstützung Washingtons, während die Angriffe des türkischen Militärs auf Einheiten des SDF in der vergangenen Nacht laut kurdischen Angaben rasch zunahmen. Dabei sollen gerade lokale arabische Einheiten der SDF den türkischen Invasoren südlich von Jarabulus Widerstand leisten. Der Operettenkrieg der Türkei gegen den IS wandelte sich schon nach wenigen Stunden in einen türkischen Vernichtungsfeldzug gegen die Selbstverwaltung in Rojava.

Trotz der massiven Überlegenheit der türkischen Militärmaschinerie dürfte der Eroberungszug Erdogans alles andere als glatt verlaufen. Die SDF sind gerade keine kurdische Marionettenorganisation, wie von der Türkei immer wieder behauptet. In der breiten militärischen Selbstverteidigungsallianz Rojavas stellen Kurden nur noch 60 Prozent der Gesamtmannstärke.

Dies ist eine Einschätzung eben der US-Administration vom März 2016, die nun in Ankara die SDF so spektakulär in Game-of-Thrones-Manier verriet. Laut Josh Earnest, dem Sprecher des Weißen Hauses, seien die SDF dabei, sich in eine "vielfältige" Organisation zu wandeln, die erfolgreich arabische, assyrische und turkmenische Mitglieder integriere. Viele der rund 40 Prozent nichtkurdischer Mitglieder der SDF seien Freiwillige aus "keinen Kampfverbänden" in den vom IS befreiten Gebieten.

Die Anziehungskraft der SDF resultiert aber letztendlich aus dem Prinzip der basisdemokratischen, netzwerkartigen Selbstverwaltung, die sie militärisch schützen sollen. Ankara geht es somit auch darum, dieses neuartige gesellschaftliche Organisationsprinzip auszulöschen, das auf die Bewohner einer durch autoritäre Regime, religiösen Wahn und Staatszerfall verwüsteten Region eine enorme Anziehungskraft ausübt.