Tunesien: Das politische Kräftespiel und der Auswanderungsdruck
Seite 2: Koalition aus moderaten Islamisten, Radikalislamisten und Glücksritterpartei?
- Tunesien: Das politische Kräftespiel und der Auswanderungsdruck
- Koalition aus moderaten Islamisten, Radikalislamisten und Glücksritterpartei?
- Radikalislamisten im Parlament
- Ökonomische und soziale Nöte: Verstärkter Auswanderungsdruck
- Auf einer Seite lesen
Letzterem gegenüber steht im Parlament derzeit eine faktische Koalition aus den drei Parteien En-Nahdha mit 54 Abgeordneten, der "Koalition Karama" oder "Al-Karama" (der Name bedeutet im Arabischen "Würde") mit 19 und Qalb Tounès mit 38 Abgeordneten. Diese drei sprachen sich bei allen sonstigen Unterschieden zusammen für einen, aufgrund des Rückzugs Fakhfaks dann gescheiterten, Misstrauensantrag gegen die Regierung aus, wobei En-Nahdha und Qalb Tounès formal getrennt vorgingen.
Dabei zeichnet sich ein jedoch faktisches Bündnis ab, das allein noch auf keine absolute Mehrheit an Sitzen - das Parlament zählt ihrer 217 - kommt, jedoch möglichen künftigen Koalitionsbildungen den Weg ebnen soll.
Eine solche "Achse zu dritt" - in deren Zentrum die Partei stünde - explizit zu vertreten, fällt En-Nahdha jedoch schwer, erhebt die Partei doch seit einem Kongress im Mai 2016 den Anspruch, nicht mehr als islamistisch, sondern als von islamischen Ideen inspirierte, demokratisch-staatstragende Partei zu gelten. Tatsächlich existieren mehrere, strategisch mal mehr, mal weniger auseinanderstrebende Flügel in ihrem Inneren.
Bündnisse mit Al-Karama widersprechen jedoch jedem offiziellen Mäßigungsanspruch. Handelt es sich doch bei der letztgenannten Formation unter Führung des Anwalts Seifeddine Makhlouf um eine radikalislamistische, explizit salafistischen Ideen nahe stehende Organisation. Auch wenn einige im Juli in der tunesischen Presse erschienene Artikel nahelegen, Makhlouf seit unter dem alten Regime (1987 bis 2011) unter Langzeitpräsident Zine el-Abidine Ben Ali mutmaßlich Polizeispitzel an der juristischen Fakultät sowie Mitglied einer von einem Mitglied der Schwiegerfamilie Ben Alis geführten, offiziell zugelassenen Pseudo-Oppositionspartei - des PUP - gewesen.
Konnten Koalitionsparteien sich durchsetzen?
Was ist nun letztendlich passiert, wer hat sich durchsetzen können? Darauf gibt es keine Schwarz-Weiß-Antwort, sondern das Kräftemessen zwischen Präsident, designiertem Premierminister und Parlament liefert notwendig differenziert einzuschätzende Ergebnisse.
In der Gesamtschau scheinen sich jedoch, im Großen und Ganzen, die im Parlament vertretenden politischen Parteien - die dominierenden unter ihnen - insofern durchgesetzt zu haben, als der Staatspräsident sich bei der Auswahl einzelner Minister nicht gegen den Willen seines Premierministers durchsetzen konnte. Und dies, auch wenn die Regierung entgegen dem Willen der betreffenden Parteien zunächst als "Fachleute"- oder Technokraten-Kabinett mit einem vor allem von Wirtschaftsthemen geprägten Fahrplan angekündigt wurde. Doch die Parteien luden sich dann doch wieder an den Diskussionstisch ein.
Hinzu kommt, dass die oben erwähnte Partei Qalb Tounès - die Herzenspartei - am Tag der Abstimmung im Parlament über das Vertrauen für die neue Regierung, dem 02. September, zunächst von der Konstituierung einer "parlamentarischen Unterstützungsfront" für dieselbe sprach. In ähnlicher Weise präzisierte die Partei kurz zuvor, Qalb Tounès einen werde "politischen (Schutz-)Gürtel für den Regierungschef", und zwar gemeinsam mit En-Nahdha, bilden.
Letztendlich hat auch ein Teil der radikalislamistischen Partei Al-Karama, die zuvor ihre scharfe Ablehnung einer "Fachleute-Regierung" bekundet hatte, für die Einsetzung der Regierung unter Premierminister Mechichi votierte. Ein Drittel ihrer Parlamentsfraktion stimmte für ihn, ebenso wie die geschlossenen Parlamentsfraktionen von En-Nahdha, Qalb Tounès sowie der bürgerlichen "Reform"fraktion.
Dem Vernehmen nach rief dies innerhalb von Al-Karama jedoch Verwerfungen hervor. Am heutigen Sonntag wurde bekannt, dass ein Abgeordneter der Radikalislamisten ihre Fraktion nun verlässt, weil er gegen das angekündigte engere Paktieren mit Qalb Tounès im Parlament opponiere.
Al-Karama und En-Nahdha werden nicht allein eine (islamistisch inspirierte) Parlamentsmehrheit bilden können, da ihnen dafür Sitze fehlen, dürften jedoch erheblichen Einfluss nehmen können, wenn ihre taktischen Verbündeten ihnen dafür Raum gewähren. Al-Karama leitet seit Ende 2019 etwa den Verteidigungsauschuss im Parlament, En-Nahdha den für Innere Sicherheit. Dadurch üben sie einen politischen Einfluss auf die bewaffneten Staatsorgane aus.
Einen Streitpunkt mit Staatspräsident Saïd Kaïes bildet derzeit auch die Unabhängigkeit der JustizEn-Nahdha wird eine wachsende Einflussnahme auf selbige vorgeworfen - und auf die Auswahl des Justizministers im neuen Kabinett. Das ist nicht ganz ohne Brisanz, unter anderem weil Personen, zu denen Rached Ghannouchi in der Vergangenheit Kontakt hatte, in Ermittlungen wegen zweier 2013 begangener politischer Morde involviert sind.