Tunesien: Das politische Kräftespiel und der Auswanderungsdruck

Seite 3: Radikalislamisten im Parlament

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Besonders umstritten ist der Einfluss der, rund neun Prozent der Abgeordneten stellenden, radikalislamistischen Partei Al-Karama. Deren Chef Makhlouf hatte am 10. Juli d.J. versucht, einen Mann, der als dschihadistischer Gefährder gilt und unter Ausreiseverbot steht, Harfedh Barhoumi, in die Räumlichkeiten des Parlaments zu bringen. Daraufhin protestierte eine Polizeigewerkschaft offiziell gegen ihn, forderte die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität und organisierte zehn Tage später eine Demonstration im Zentrum von Tunis.

Makhlouf ging dabei mit Zustimmung von Habib Khedher, also des Büroleiters (directeur de cabinet) und Neffen von Parlamentspräsident Rached Ghannouchi, vor. Letzterer ist wiederum der langjährige Chef der Partei En-Nahdha.1

Diese hässliche Szene bot aber auch der bis dahin eher isolierten Oppositionspartei PDL ("Freie destourische Partei", vom Arabischen al-destour = die Verfassung) unter der Anwältin Abir Moussa einen willkommenen Anlass zur Profilierung. Ihre Partei ging daraufhin flugs das Büro des oben erwähnten Habib Khedher besetzen.

Letzterer erklärte kurz darauf seinen Rücktritt und Rached Ghannouchi akzeptierte dies. In Wirklichkeit stellt sich die Situation allerdings eher so dar, dass er aufgrund des sich aufbauenden Drucks aus dem Amt flog. Zu seinem Nachfolger wurde Ahmed Mechergui bestimmt.

Doch auch der in dieser Angelegenheit besonders aktive PDL handelte dabei keineswegs als über alle Zweifel erhabene Verteidigerin der Demokratie. Um eine solche handelt es sich beim PDL gewiss nicht. Diese 2013 gegründete Partei ist weitgehend ein Sammelbank von ehemaligen Funktionären und Anhängern der bis im Januar 2011 herrschenden Diktatur unter Ben Ali. In deren letztem Jahr war die heute 45jährige Abir Moussa stellvertretende Generalsekretärin der Staatspartei RCD ("Verfassungsmäßige demokratische Sammlung"), die im Januar 2011 aufgelöst und deren Vermögen einzogen wurde - Moussa trat als Verteidigerin vor Gericht auf - und in dem Amt für Frauenpolitik zuständig.

Zwei Gesichter der Reaktion: islamistisch versus polizeistaatlich

Dabei ist Abir Moussa selbst keineswegs Frauenrechtlerin und in vielen Fragen gesellschaftspolitisch eher reaktionär:. So tritt die Dame vehement gegen eine Entkriminalisierung von Homosexualität ein, befürwortet Anal-Untersuchungen durch die Polizei, die in Tunesien vorkommen, und sie verwirft eine Rechtsgleichheit für eheliche und außerehelich geborene Kinder.

Moussa hasst jedoch die Islamisten aller Couleur und wirft ihnen eine Gefährdung des modernisme vor, also des Modernisierungsanspruchs, den die tunesische Staatsmacht seit dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit - Habib Bourguiba, er regierte von 1957 bis 1987 - erhebt.

Bourguiba, selbst Autokrat, hat tatsächlich einige Modernisierungsleistungen besonders auch auf dem Gebiet der Frauenrechte durchgesetzt, was man von seinen Nachlassverwaltern und besonders seinem Amtsnachfolger Ben Ali nicht behaupten kann. Zu Legitimationszwecken bezeichnete Ben Ali sich jedoch mitunter als Garanten dieser historischen Fortschritte, während er den Status quo verwaltete. Abir Moussa und ihre Partei beziehen sich faktisch auf Bourguiba wie auch Ben ’Ali gleichermaßen und wollen deren Kontinuität fortsetzen, vor allem unter dem Gesichtspunkt eines starken Staates.

Bisweilen wird die Partei unter Amir Moussi deswegen sogar als die tunesische Ausgabe der extremen Rechten dargestellt. Dies ist allerdings zumindest stark vergröbernd, denn die ihr - zumindest im vordergründigen politischen Spiel - als Gegenpol entgegenstehenden Kräfte wie die Radikalislamisten von Karama sind keineswegs linker oder progressiver als sie selbst. Auch die Art und Weise, in welcher Karama-Chef Seifeddine Makhlouf die politische Auseinandersetzung mit der politischen Gegenspielerin Abir Moussi suchte - Makhlouf bezeichnete sie unverblümt als "Mikrobe" - spricht nicht dafür, dass Karama & Co. eine demokratisch-humanistische Alternative zu Moussi & Co. darstellen würden.

Insofern kann auch nicht von einer Links-Rechts-Polarisierung zwischen beiden Kräften gesprochen werden. Richtig wäre es vielmehr, festzustellen, dass es in Tunesien wie in anderen arabischsprachigen Ländern, aber auch der Türkei, je zwei Gesichter der Reaktion gibt: eine islamistische Version und eine autoritäre, polizeistaatliche oder militärische, vordergründig laizistische. Die demokratischen oder progressiven Kräfte müssen sich ihren Weg irgendwo zwischen ihnen suchen.

Infolge der Auseinandersetzungen um die Umtriebe Makhloufs führten die PDL-Abgeordneten, deren Partei 16 Sitze zählt, eine Sitzblockade im Parlament durch. Das war übrigens keine Premiere, denn Abir Moussa und ihre Leute hatten schon im Dezember ein Sit-in durchgeführt, damals auch im Plenarsaal übernachtet und die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes behindert.

Die PDL-Fraktion hat den Ruf, Sitzungen mitunter zu chaotisieren und mit skrupellosen Aktionen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Durch die Provokationen von Karama schaffte die Partei der Ben Ali-Nostalgiker dies nun auf der ganzen Linie, und indem sie sich zum Gegenpol zu den Islamisten aufschwang, gewann sie erheblichen Auftrieb.

In einer Meinungsumfrage vom 14. Juli bei Kapitalis sollen 29 % die Absicht bekundet haben, künftig für den PDL zu stimmen - diese Internetzeitung ergreift jedoch deutlich Partei für die innenpolitischen Gegner der Islamisten, was sie am 21. Juli in einem Leitartikel auf die Idee zuspitzte, falls man "zwischen Erdogan und Al-Sisi wählen" müsse, sei der ägyptische Präsident dem türkischen vorzuziehen, so dass eine Objektivität nicht unbedingt gewährleistet ist. Bei der Wahl im Oktober hatte die Partei gut sechs Prozent erzielt, dürfte sich jedoch tatsächlich derzeit im Aufwind befinden.

En-Nahdha angeknackst

Einen Erfolg konnte der PDL feiern, indem er ein Misstrauensvotum gegen Rached Ghannouchi auf seinem Posten als Parlamentspräsident organisierte, über das am 30. Juli abgestimmt wurde. Dabei ging es vor allem darum, ihm zu vorzuwerfen, eine eigene aktive Nebenaußenpolitik zu entwickeln, vor allem in Bezug auf den Kriegsschauplatz im Nachbarland Libyen.

Dort begünstige er, lautete der Vorwurf, die "Achse" aus der Türkei und Qatar sowie der in Tripolis amtierenden "Regierung der nationalen Übereinkunft" mit islamistischer Beteiligung. Diese bekämpft in Libyen eine entgegengesetzte "Achse" aus Saudi-Arabien, dem ägyptischen Regime und dem ostlibyschen Machthaber Marschall Khalifa Haftar - unterstützt auch durch Wladimir Putin und Emmanuel Macron.

Rached Ghannouchi dementierte in der Sitzung, dabei eine ideologisch orientierte Außenpolitik zu verfolgen, während die mehr oder minder verbündete Partei Karama sich sehr affirmativ in der Richtung äußerte, es gebe die Seite der Guten und die der Bösen in Libyen. Letztlich stimmten 97 Abgeordnete für den Antrag, das waren 81 mehr, als die PDL-Fraktion an Abgeordneten zählt.

Die Unterstützung kam vor allem aus den Reihen des "demokratischen Blocks", von Tahya Tounès, aber in dieser Frage auch von Qalb Tounès. Die Partei von Ex-Präsidentschaftskandidat Karoui - die mit dem Herzen - kündigte an, den Fraktionszwang für diese Abstimmung aufzuheben. 18 ihrer 27 Abgeordneten scheinen jedoch ungültig gestimmt zu haben, wohl aus Rücksicht auf En-Nahdha, da mit ihr ansonsten Bündnisgespräche laufen.

Da zwölf Stimmen für die erforderliche absolute Mehrheit - diese beginnt bei 109 Mandaten - fehlten, kam Ghannouchi als Parlamentspräsident nochmals davon. Durch den Aufmerksamkeitserfolg des Misstrauensantrags ist er dennoch politisch ziemlich angeschlagen. Dennoch, oder deswegen, kann En-Nahdha sich derzeit eher keine Auflösung der ARP leisten und ist auf Bündnismöglichkeiten angewesen.