"Tunesier wollen keine Pornosites"

Piratenparteimitglied Slim Amamou in der Regierung und mittendrin in der Staatsräson?

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Kaum ein Begriff kann in diesen Zeiten so schnell verbrennen wie der der Revolution. Er ist zum Branding geworden; der duftende Name Jasmin, den man der aktuellen tunesischen "Revolution" angetragen hat, macht es nicht besser, eher im Gegenteil. Mit dem griffigen Etikett wird das Vokabular unangenehmer Verkäufer bedient und eine Sehnsucht nach Euphorie. Das Interesse an den genauen Umständen scheint dagegen im selben Maße zu erlöschen – lieber äugt die Öffentlichkeit nach Ägypten oder andere arabische Staaten, dorthin, wohin der euphorisierende Revolutionsfunke gerade aufmerksamkeitsböig getrieben wird. Tunesien bietet die Möglichkeit zu beobachten, wie sich ein genuin sozialer, säkularer, spontan ausgelöster Protest aus der Mitte einer arabischen Gesellschaft - der es immerhin geschafft hat, einen Tyrannen aus dem Land zu jagen - weiterentwickelt gegen Widerstände, die durch eine jahrzehntelange autoritäre Herrschaftsausübung fest verankert sind.

Die Revolution ist beendet, seit Ben Ali geschasst wurde. Was wir gerade beobachten und woran wir teilnehmen, ist die Demokratie, die sich auf den Weg macht.

Slim Amamou (slim404)

Unter welchen Spannungen die politischen Veränderungen in Tunesien geschehen, zeigt sich gut an seiner Person: Slim Amamou, Mitglied der tunesischen Piratenpartei, während der Proteste politischer Häftling mit internationaler Aufmerksamkeit, jetzt Regierungsmitglied im Amt eines Staatsekretärs für Jugend und Sport. Amamou, der als twitternder Botschafter der Protestbewegung verstanden und gelesen wurde, sendet jetzt aus der Regierung heraus. Der Platzwechsel bringt anscheinend auch eine veränderte Stellung zur Staatsräson mit sich, Konflikte, die sich an widersprüchlichen Äußerungen zeigen und an einer anderen Einstellung zur Zensur.

So äußert Slim am Abend des 23. Januars gegen 18 Uhr noch persönliche Sympathie für Pornoschauen: "Jungs, ich bin wie ihr, ich möchte Pornos in aller Ruhe im Internet anschauen. Ich werde für den Präsidenten stimmen, der mir das gewährleistet." Am Vormittag des folgenden Tages antwortet er dem Bloggerkollegen und Autor der für die sozialen Proteste zentralen Bloggerplattform nawaat.org, Astrubal, auf eine entsprechende Frage:

Man kann nicht alles von der Zensur ausschließen und freigeben (i.O. "décensurer"), weil die Tunesier keine Pornosites wollen. Und es gibt Gesetze dagegen.

Zuvor hatte er Astrubal erklärt: "Ich kümmere mich um die Zensur. Es geht augenblicklich darum, eine Site nach der anderen von der Zensur zu befreien, von Fall zu Fall ('au fur et a mesure')." Und: "Es gibt keine Zensur mehr, es gibt nur schwache, unzulängliche Systeme, die man ausbessern muss."

Dies ist in seiner Ehrlichkeit und Transparenz entwaffnend und verblüffend. Dass Slim Amamou nicht in ideologisch bornierter Sturheit handelt, wird allein schon dadurch sichtbar, dass er mit einem emphatischen Zitat ("Wir sind noch immer an diesem Punkt") auf den aktuellen Artikel seines Kollegen Astrubal hinweist, der anhand deutlicher Beispiele unmissverständlich dokumentiert, dass "Zensur und Manipulation" im tunesischen Internet noch immer gängige Praxis sind - und zwar nicht nur, was Pornosites betrifft, sondern auch Informationsquellen - und der Informationsethos weiterhin gegängelt und verletzt wird. Der Zugang zum Internet bleibt nach wie vor beschränkt.

Regimewechsel und Zensur

Über die im Artikel genannten Einzelfälle hinaus geht es um Grundsätzliches. Zwar kann man verständliche Gründe gegen Internetseiten mit pornografischen Inhalten oder Inhalten, die Gewalt schüren, Seiten von terroristischen Organisationen etc.(alles Kategorien, auf die Slim Amamou verweist) anführen, aber demgegenüber steht das enorme Problem, dass damit ein Zensurapparat, eine Zensurinfrastruktur intakt und am Wirken bleibt, die jederzeit von einem autoritär gesinnten Regime missbraucht werden können. Die Möglichkeit, dass in Tunesien wieder ein sogenannter starker Mann, eine eher repressiv gesinnten Regierung wieder an die Macht kommt, ist real gegeben.

Eine für das Selbstverständnis der neuen Demokratie wichtige Frage wäre auch, ob die Tunesier überhaupt damit einverstanden sind, dass ihre Entscheidung darüber, ob sie Pornos mögen, an eine Behörde delegiert wird, kontert Astrubal. Seine Analyse kommt zum Ergebnis, dass die "Charakteristika der Internetpolizei identisch mit der bleiben, die unter Ben Ali praktiziert wurde. Einzelne Personen, die hinter Bildschirmen sitzen, entscheiden in aller Heimlichkeit darüber, was für die Tunesier zugänglich sein soll."

Auch der Hinweis auf die konkrete Fälle, über die "nach und nach" - im französischen Original ist es die Redewendung "au fur et a mesure", was man sinngemäß vielleicht mit dem Zusatz "nach Maßgabe des Einzelfalls" übersetzen könnte, entschieden werde, lässt der Willkür sehr viel Raum: Statt die Zensur generell aufzuheben, behalte man eine Liste blockierter Seiten und bis sich dann einer darum kümmere, seinen persönlichen Launen, seiner Moral und seinen Überzeugungen folgend. Der Artikel schließt damit, dass TV-Nachrichten noch immer mit fragwürdigen Quellen und manipulativ arbeiten. Der Weg zur Freiheit ist schwer und es gibt keinen Grund für Westler, hier eine besserwisserische oder pädagogische Haltung einzunehmen, auch hierzulande gibt es fortlaufend Versuche, den Zensurapparat in verfeinerter Form am Leben zu halten.

Was den Fortgang der Protestbewegung betrifft, die nun gegen die Basis der Autokratie Ben Alis, die Staatspartei RCD, ankämpft, so gab es gestern zum ersten Mal die Meldung, dass Hunderte von "jungen Männern" für die Regierung demonstrierten - und gegen das "Chaos". Gleichsam zur Illustrierung des Chaos wurde im selben Bericht erwähnt, dass eine Gruppe gewalttätiger Hooligans für Zerstörung und Ausschreitungen sorgten. Es waren, wie sich später herausstellte, Anhänger zweier großer rivalisierender Clubs, die gegen Restriktionen in Stadien protestierten, die unter Ben Alis Herrschaft eingeführt wurden. In einen manipulativen Zusammenhang gerückt, kann man mit solchen Meldungen "au fur et a mesure" dem sozialen Protest genau das nehmen, was ihn mitgetragen hat: die Unterstützung und Sympathie der Öffentlichkeit.