US-Komplexitätsforscher: Interplanetares Projekt gegen Klimawandel

Seite 2: Extraterrestrisches Gedankenexperiment

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"Es gibt zwei Wege, ein Problem zu lösen", sagt Krakauer, "entweder man adressiert es direkt oder man stellt eine deutlich schwierigere Aufgabe und löst das Problem en passant." So steht im Zentrum von InterPlanetary eine Frage galaktischer Dimension: "Was wäre nötig, um eine interplanetare Zivilisation zu gründen?"

Es ist ein Gedankenexperiment. Indem der Mensch sich vorstelle, wie er zu fernen Planeten reist und diese besiedelt, überwinde er seine Egozentrik und wende sich dem Überlebenswichtigen zu, erklärt der Forscher. Bevor man eine Kolonie auf dem Mars oder einem Asteroiden errichten könne, müsse man ja erst einmal eine Vielzahl wissenschaftlicher, technischer, sozialer, psychologischer, ökologischer, ökonomischer und ethischer Fragen klären: Welche Bedeutung haben planetare Zyklen für die Evolution des Menschen? Wie gründet man ein Gesellschaftssystem, das nicht innerhalb kürzester Zeit kollabiert? Wie baut man in lebensfeindlichen Umgebungen Nahrung an?

Alle Fähigkeiten und Technologien, die zum Überleben im All nötig seien, trügen gleichzeitig dazu bei, das Fortbestehen von Leben auf der Erde zu sichern: "Sich den Herausforderungen des Weltraums zu stellen, bedeutet, sich mit der Komplexität des Lebens zu befassen."

Drastischer Perspektivwechsel

InterPlanetary "verändert die Perspektive drastisch, vergrößert die Maßstäbe und refokussiert die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche", erklärt Krakauer. Das imaginäre Szenario zwinge jeden, sich mit der globalen Tragweite seines lokalen Verhaltens auseinander zu setzen. InterPlanetary soll nachhaltige Lösungen hervorbringen, neue Fragen aufwerfen und dem Mensch ins Bewusstsein rufen, was wertvoll ist. Damit trüge das Projekt letztlich auch dazu bei, "Antworten auf die fundamentalste aller Fragen zu finden: Welchen Sinn hat das Leben im Universum?"

Das etwas missverständliche Projektmotto "Ändern wir die Welt - einen Planeten nach dem nächsten" empfiehlt nicht etwa, den Problemen der Erde zu entfliehen. "Im Gegenteil", sagt Krakauer. InterPlanetary appelliere an alle Menschen, Verantwortung für die Erhaltung der Biosphäre "und was jenseits von ihr liegen mag" zu übernehmen. Es verdeutliche die Wichtigkeit der Komplexitätswissenschaft für das Wohlergehen der Erde und "ihrer künftigen Diaspora".

Alexander Gerst hat den Perspektivwechsel real erlebt. "Er verändert einen als Mensch", sagte der ESA-Astronaut nach seiner Rückkehr von der Internationalen Raumstation. Die Weltraumperspektive zeige, so der Geophysiker, wie "klein, schutzbedürftig und zerbrechlich" die Erde sei und wie klein die Gebiete wären, an denen sich Bodenschätze gewinnen lassen. "Da wird jedem sofort klar, dass wir anders mit unseren Ressourcen umgehen müssen." Auch Gersts Heimatbegriff sei ein anderer geworden: "Man realisiert, dass Heimat nicht der kleine Ort ist, an dem man geboren ist, sondern der Planet."

Wissenschaft ist nicht genug

Das Santa Fe Institut steht für Partizipation: Bei der Lösung komplexer Probleme nutzen die Forscher das komplementäre Wissen und die Erfahrung von Nicht-Wissenschaftlern wie Schriftstellern, Filmschaffenden und Spieleprogrammierern. Denn diese stellen Fragen in neue Zusammenhänge und helfen, Lösungen zu finden, die außerhalb gewohnter Denkmuster liegen.

So diskutiert etwa Romanschriftsteller und SFI-Trustee Cormac McCarthy (Kein Land für alte Männer, Die Straße) mit Forschern Themen wie den Ursprung der Sprache und das Unbewusste (The Kekulé Problem). Ebenso ging der Dramatiker und Schauspieler Sam Shepard (Paris, Texas, Vergrabenes Kind) im Institut ein und aus. Auch InterPlanetary ist "radikal inklusiv": Es richtet sich nicht nur an Wissenschaftler, sondern auch an die breite Öffentlichkeit, Bildungsinstitutionen und die Wirtschaft.

Globales Framework für transdisziplinäre Forschung

Das Santa Fe Institute entwickelt gerade Strukturen und Werkzeuge für weltweite transdisziplinäre Forschung, Kommunikation und Zusammenarbeit. Dazu gehört das webbasierte Forum "InterPlanetary Life Support". Es gliedert sich in Themenbereiche, die Forschungsgebiete der Komplexitätswissenschaft abbilden und zugleich relevant für die Weltraumfahrt und -kolonisierung sind. Zu den Themen zählen Architektur, Städte, Gesellschaft, Wirtschaft, natürliche und künstliche Intelligenz, komplexe Zeit, autonome Ökosysteme, planetares Recht und Astrobiologie. Die neue Open-Source-Plattform soll für jeden frei zugänglich und nutzbar sein.

Aufgabe der Komplexitätswissenschaft ist es laut Krakauer, "die Zusammenhänge und Interdependenzen komplexer Systeme offensichtlich zu machen und allgemein verständlich darzustellen". Nur wenn der Mensch die Zusammenhänge verstünde, könne er ein "planetares Bewusstsein" entwickeln, also ein ganzheitliche Denkweise, die das menschliche Handeln und dessen Folgen im Kontext des gesamten Planeten betrachtet.

Interplanetarisches Festival ab 2018

Im Juli fand eine InterPlanetary-Podiumsdiskussion statt, an unter anderen der Science-Fiction-Autor und Spieledesigner Neal Stephenson (Snow Crash, Anathem) und eine Teilnehmerin einer simulierten NASA-Marsmission teilnahmen. Drehbuchautor und Regisseur Jonathan Nolan (The Dark Knight, Interstellar) wurde per Film zugeschaltet. Das Erzählen von Geschichten im spekulativen Modus, meint er, habe einen evolutionären Zweck: "Wir simulieren alternative Realitäten und probieren sie aus."

Ab Juni 2018 soll in Santa Fe jährlich ein InterPlanetary-Festival mit Technik-Expo, Open-Air-Konzerten und Science-Fiction-Filmen stattfinden. "Die Besucher können mit Drohnen spielen oder Mondlandefähren und Photovoltaikanlagen bauen. Die Leute sollen Spaß haben wie beim Burning Man oder auf der Comic Con", erklärt Krakauer. Denn er ist überzeugt: "Ein optimistischer Ansatz ist wertvoller als ein apokalyptischer oder politischer." Santa Fe scheint wie gemacht für eine Veranstaltung dieser Art. Roswell, Los Alamos und Richard Bransons Weltraumbahnhof Spaceport America liegen quasi um die Ecke.