Über die Umwertung des Staates und das Grundrecht auf Sicherheit

Von "Freiheit stirbt mit Sicherheit" zu "Keine Freiheit ohne Sicherheit"?

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Der folgende Text ist zuerst erschienen in "antimilitarismus information (ami)", Ausgabe 12/98, eine Monatszeitschrift für Friedensforschung und Friedensbewegung, die seit 28 Jahren von StudentInnen in Selbstverwaltung erstellt und vertrieben wird. Im Kontext von "Lauschangriff", neuen Überwachungsverordnungen zu Telekommunikation und Telediensten, ECHELON und anderen Technologien zur politischen Kontrolle und Überwachung erschien es angebracht, diesen Text hier zweitzuveröffentlichen, der sich mit einem grundlegenden Wandel in der staatsrechtlichen Definition des Sicherheitsbegriffs auseinandersetzt.

Dem Tod und Schicksal sprech' er Hohn,
Nicht Gnad' und Furcht soll ihn bedrohn;
Denn, wie ihr wißt, war Sicherheit
Des Menschen Erbfeind jederzeit.

Shakespeare, Macbeth

Der vielbeschworene Wandel von der Klassengesellschaft zur Risikogesellschaft hinterläßt deutliche Spuren in den Apparaten und theoretischen Konzepten der "Sicherheits"Politik. Mit dem Übergang von der "Gefahrenabwehr" zur "Sicherheitsvorsorge" greift der Staat weit in das gesellschaftliche Vorfeld von Straftaten ein. Ein von konservativen Staatsrechtlern konstruiertes, angeblich im Grundgesetz vorhandenes "Grundrecht auf Sicherheit" dient dabei als Hebel, mit dem das Verhältnis zwischen Staat und Bürger umgekehrt wird. Die Grundrechte sind damit nicht mehr Abwehrrechte gegen den Staat, sondern erlauben diesem, durch die Normierung "öffentlicher Ordnung" in Bereiche einzudringen, die bisher Privatsache waren. Die Folge ist eine Ausgrenzung von Lebens- und Handlungsweisen, die nicht den Ordnungsvorstellungen der Sicherheitspolitiker entsprechen. Im derzeitigen Sicherheitsdiskurs wird als "schützenswerte Ordnung" zunehmend die des freien Marktes verstanden. Die Ausweitung des Marktprinzips auf das Gewaltmonopol in Form privater "Sicherheitsdienste" führt dabei zu einer neuen Verbindung von Klassen- und Risikogesellschaft, in der "Sicherheit" gekauft wird. Dieser Trend ist weltweit zu beobachten und nicht auf den Bereich der "inneren Sicherheit" beschränkt. Bisher sind vier mögliche Strategien gegen diese neoliberalrepressive Sicherheitspolitik erkennbar.

SICHERHEITSPOLITIK IM UMBRUCH

Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) fordert, die "öffentliche Ordung" als staatliches "Schutzziel" in den Polizeigesetzen zu verankern1; tausend Städte in den USA haben eine nächtliche Ausgangssperre gegen Jugendliche verhängt2; Gottfried Timm, Innenpolitiker der SPD im mecklenburgischen Landtag, legitimiert das schärfste Polizeigesetz der Republik mit dem Hinweis auf ein "Bürgerrecht auf Sicherheit" (3); während der Chaostage '96 wird ein Reporter, der sich die Haare gefärbt hatte, aus der Hannoverschen Innenstadt verwiesen4; Kerstin Müller, Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, verspricht, daß ihre Partei in Zukunft das "Sicherheitsbedürfnis der Menschen ernstnehmen" wird5; die NATO zählt seit 1991 Drogenhandel, Bevölkerungswachstum, Terrorismus und Migration zu den "Sicherheitsrisiken", zu deren Bekämpfung sie Krieg führen können muß.

Kein Zweifel: Es bewegt sich etwas in der Sicherheitspolitik. Die genannten Beispiele sind jedoch weder allein das Ergebnis geschickt geführter rechter Kampagnen, noch haben sie ihre Ursache nur in dem quasi "natürlichen" Drang der Sicherheitsorgane, ihre Kompetenzen zu erweitern. Hinter all dem steckt eine umfassendere gesellschaftliche Entwicklung, in der das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern neu bestimmt wird. Der Soziologe Ulrich Beck hat dies als den Übergang von der ersten zur zweiten Moderne, von der Klassengesellschaft zur Risikogesellschaft, beschrieben.6

Dieser Prozeß verläuft jedoch nicht geradlinig, sondern ist immer wieder Gegenstand und Ergebnis von politischen Kämpfen und sprachlichen (Um)Deutungen. "Sicherheitspolitik betreibt, wer die Bedrohung definiert", so der Politikwissenschaftler Christopher Daase7. Einen wesentlichen Teil des aktuellen Sicherheitsdiskurses hat der Berliner Polizeiführer Kilian treffend auf den Punkt gebracht:

"Wenn keener mehr nach Berlin kommt, weil er Angst hat, dann ham wa keene Steuern mehr, und dann könn' wa uns auch nüscht mehr koofen."(8 )

Sicherheitsvorsorge und staatliche Moral

Was zunächst auffällt, ist eine zunehmende Neugierde des Staates gegenüber der Gesellschaft. Noch 1983 war die Volkszählung vom Verfassungsgericht beschränkt worden, weil die wenigen Daten der Fragebögen nicht vollständig anonymisiert waren. Das damals von den Karlsruher Richtern entwickelte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, auch ein Erfolg der AntiVolkszählungsBewegung, scheint heute vergessen. Noch vor der Legalisierung des Lauschangriffs wird bereits darüber diskutiert, ob die Voyeure der Polizei künftig dem Volk in die Schlafzimmer spähen dürfen.8 Bei der Neugierde geht es allerdings nicht darum, die Meinung der Untertanen zu erfragen, denn dazu könnte man auch Volksabstimmungen einführen. Es geht um das Wissen über die Verhaltensweisen des Volkes, um Herrschaftswissen. Auf jeder Demonstration und an öffentlichen Orten wird ohnehin seit Jahren gefilmt und verdatet, was die Rechner hergeben. Das Wissen des Staates über die BürgerInnen nimmt stetig zu.9

Gleichzeitig werden die Grenzen der Kriminalität ausgeweitet: Im liberalen Rechtsstaatsverständnis mußte noch der konkrete Verdacht einer bereits begangenen Straftat vorliegen, um eine Inhaftierung zu rechtfertigen. Seit 1989 kann dagegen in "Vorbeugehaft" genommen werden, wer lediglich im Verdacht steht, wiederholt schweren Landfriedensbruch begangen zu haben und von dem vermutet wird, daß er solches in Zukunft wieder tun werde.10

Es geht nicht mehr um Gefahrenabwehr, sondern um "Risikovorsorge"; aus Repression wird Prävention. Das niedersächsiche Polizeirecht erlaubt seit 1995 den "vorbeugenden Gewahrsam" bis zu vier Tagen bei der vagen Annahme, daß jemand "eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen könnte".11 Da diese neue Art staatlicher Repression nicht mehr auf einer bereits begangenen Straftat basieren muß, braucht die Polizei andere Kriterien, um aus der unüberschaubaren Menge aller potentiellen StraftäterInnen (merke: jeder FDPWähler ist ein potentieller Steuerhinterzieher) konkrete Individuen herauszufiltern.

Damit sind alltägliche Lebensumstände weit im Vorfeld eventueller Straftaten für Augen und Ohren des Staates interessant geworden. Die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung ist vergessen, verdächtig ist im Prinzip jeder, der einen abweichenden Lebensstil pflegt. Nicht mehr konkrete Taten, sondern beliebig definierbare gesellschaftliche Umgangsformen und Identitäten gelten als "krimonogen": Der Aufenthalt an einem bestimmten Ort, das Aussehen, häufiger Wohnortwechsel, Signalworte in der EMail und anderes.12 In der Risikogesellschaft kann alles und jeder zum Risiko definiert werden.13

Die überwachenden und repressiven Eingriffsbefugnisse des Staates reichen damit weit in die Gesellschaft hinein. Auch hier sind die USA wieder einmal Vorbild: Nach dem vielgelobten "New Yorker Modell" werden dort SchulschwänzerInnen von Spezialkommandos wieder zu SchülerInnen gemacht, öffentliche Biertrinker erkennungsdienstlich behandelt oder Schwarzfahrer wie Schwerverbrecher in Sammellager gebracht. Der CDURechtspolitiker Eylmann hält die nächtlichen Ausgangssperren für Jugendliche auch in Deutschland mittlerweile für "erwägenswert".

Bezeichnend für diese Entwicklung ist die Annäherung der Grünen an die Machtapparate. In Justiz und Polizeifragen waren sie als die wahren Liberalen angetreten und priesen ihr bürgerrechtliches Denken gegenüber der sich immer mehr auf Marktliberalismus einengenden FDP. Im Wahlkampf forderte die heutige Hamburger Vizebürgermeisterin Krista Sager einen höheren "polizeilichen Druck", wenn die Szene "nicht mehr sozialverträglich" ist.14 Der Staat definiert also künftig, welches Verhalten als "sozialverträglich" geduldet wird. Diese Funktion als Hüter der öffentlichen Verhaltensregeln, also der Moral, ist neu und in liberalen Staatstheorien nicht vorgesehen. In einer Zeit, in der soziale Normen durch die Individualisierung zunehmend aufgelöst werden15, fällt ironischerweise dem Staat eine moralische Rolle zu. Von Roman Herzog bis Manfred Kanther thematisieren die Verfechter der neuen Sicherheitspolitik entsprechend den "Wertewandel" 16. Politik wird moralisch, moralische Fragen werden zu politischen.

Dies stellt eine "kopernikanische Wende"17 in der Entwicklung moderner Staatlichkeit dar. Der Erfolg des modernen, säkularen Staates basierte letzlich darauf, daß er eine strikte Grenze zwischen politischen und gesellschaftlichen Fragen zog und sich auf Verfahrensregeln und Verteilungsfragen beschränkte. "Letzte" Entscheidungen über Wahrheit, Schuld oder Glauben wurden an die unabhängigen Instanzen Wissenschaft, Recht und Religion verwiesen. Diese "staatliche Neutralisierung" (Carl Schmitt) sicherte die allgemeine Anerkennung des Gewaltmonopols18.

Diese Konstruktion hielt genauso lange wie der ungebrochene Glaube an den Fortschritt. Seit den sechziger Jahren ist jedoch klar, daß die negativen Folgen von Großtechnologie und anderen Planungsorgien nicht mehr durch eine Umverteilung des größer werdenden Kuchens ("Wachstum") entschädigt werden können. Gentechnik und Atomenergie sind nur die bekannteren Beispiele dafür, daß man für jede Meinung ein wissenschaftliches Gutachten finden kann. Die Positionen bleiben letzlich Glaubensfragen, die mit allgemein anerkannter Vernunft oder mittels staatlicher Souveränität nicht entschieden werden können.19

Ebenso sind die neuen "Werte", die staatlicherseits gepredigt werden, partikulare Werte. Daß ein Konservativer wie Kanther wieder auf "Pünktlichkeit" setzt20, war zu erwarten, da es in der Logik der herrschenden Leistungsideologie liegt (vgl. Abschnitt VI). Genauso könnte man von entgegengesetzter Seite die Phantasie beschwören, weil nur sie kreative Lösungen erzeugen kann. Entscheidend ist: Die Werte und damit auch die staatlicherseits vorgegebenen Normen für "Sozialverträglichkeit" sind, egal wer sie verkündet, immer nur die Werte eines Teils der Gesellschaft. Der Staat wird parteilich.

Grundrechte und Staatssicherheit

Eine öffentliche Moral gibt es immer. In kleinen Gemeinschaften und traditionalen Gesellschaften wird sie noch durch den direkten Austausch zwischen den Menschen hergestellt und verändert. Das Neue an der öffentlichen Moral in modernen Gesellschaften ist, daß sie jetzt in der Interaktion zwischen Staat und Bürgern vermittelt, hergestellt und durchgesetzt wird. Konnte ein Herrscher sich in kleinen Fürstentümern noch verkleidet unters Volk mischen, um herrschaftswichtiges Wissen zu erhalten, so tritt zwischen Staat und Volk heute eine ganze Maschinerie. Datensammlung, Informationsverarbeitung und wissenschaftliche Statistiken ersetzen das Ohr des Fürsten.

Dieser Informationsfluß von BürgerInnen zum Staat kann prinzipiell demokratisiert werden durch Volksabstimmungen, imperatives Mandat, Anhörungsverfahren oder Bürgerbeteiligungen und vor allem durch eine Öffentlichkeit, in der die Moral hergestellt wird. Aufgrund der starken Stellung der Exekutive in der Sicherheitspolitik (vgl. Martin Winter in ami 12/98) und des Ausschlusses der Öffentlichkeit aus Belangen der "Staatssicherheit" konnten diese demokratischen Ansätze bisher nur punktuell, etwa bei "Skandalen", greifen.

Die herrschende Moral ist die Moral der Herrschenden - diese alte linke Einsicht stimmt auch für die Werte der erweiterten und präventiven Sicherheitspolitik. Für die Durchsetzung der staatlich verordneten Moral sorgen die Sittenwächter von Verwaltung und Polizei durch Verordnungen, Verbote und Gewalt. Je mehr im Zuge der "Risikovorsorge" die Grenzen zwischen Moral und Politik verschwimmen, desto größer muß die Maschinerie wachsen. Diese Sozialtechnologie stößt allerdings an verfassungsrechtliche Grenzen. Die bürgerlichen Freiheitsrechte sind ja im Zuge der Aufklärung gerade als Abwehrrechte gegen den autoritären Staat erkämpft worden und haben nach ihrer Aufhebung durch die Nationalsozialisten in der bundesrepublikanischen Verfassung eine besondere Vorrangstellung erhalten.21

Um diese Beschränkungen des Staates zu umgehen, haben die Sicherheitspolitiker zwei Diskursstrategien entwickelt: Abwägung und Umdefinierung. In der Abwägungsfalle ist bereits gefangen, wer sich am Sicherheitsdiskurs beteiligt, sich also auf einen inhaltlichen Streit über Größe und Art der Unsicherheit einläßt: Da in einer freien Gesellschaft ein gewisses Maß an Unsicherheit nicht zu vermeiden ist, können je nach politischer Großwetterlage immer wieder neue Bedrohungslagen und Sicherheitsrisiken konstruiert werden, sei es die RAF, der Briefträger mit DKPParteibuch, die Organisierte Kriminalität oder "aggressive Bettelei".

Nachdem diese "Unsicherheiten" durch großangelegte Polizeimaßnahmen entsprechend dramatisiert werden, folgt in der Regel die Forderung nach Waffengleichheit von Staat und (konstruierter) Bedrohung. Wer dabei auf rechtsstaatliche Prinzipien, Datenschutz oder Grundrechte pocht, erhält die Ettiketten "übertrieben" und "lebensfern". Besonders hartnäckige KritikerInnen von staatlichen Begehrlichkeiten werden mit dem Verweis auf "Handlungsbedarf" als "Blockierer" gebrandmarkt und bekommen damit die Verantwortung für die Bedrohung zugeschrieben.22

Für das auf diese Weise dezimierte, aber immer noch störende Häuflein aufrechter BürgerrechtlerInnen hat sich die konservativen Ideologieschmiede etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Die Umdefinierung der Grundrechte und damit des Verhältnisses zwischen Staat und Volk. Als die Verfassungsrichter im Volkszählungsurteil 1983 aus der Menschenwürde ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hergeleitet hatten, reagierten einige konservative Staatsrechtler originell, aber konsequent: Sie erfanden ein Gegengrundrecht. Josef Isensee und der ehemalige CDU Verteidigungsminister Rupert Scholz entwickelten unter Berufung auf (ausgewählte) Staatstheoretiker ein "Grundrecht auf Sicherheit", das im Grundgesetz nicht auftaucht, aber implizit vorhanden sein soll.23 Was bedeutet es staatstheoretisch, wenn man diese Konstruktion zu Ende denkt?

Ein Problem dieser Konstruktion stellt bereits die Klagemöglichkeit dar: Wenn ich ein Grundrecht auf Sicherheit habe, mich aber dennoch unsicher fühle, kann ich dann vor das Verfassungsgericht ziehen? Ein weiteres Problem ist die Unschärfe des Sicherheitsbegriffs. Isensee laviert zwischen "Schutz des Bürgers vor dem Übergriff anderer"24 und der "seelische[n] Unbefangenheit (..), sich frei zu bewegen". Daher dürfte es ziemlich unmöglich sein, juristisch die Grenze zwischen Sicherheit und Unsicherheit zu ziehen.

Wichtiger ist aber, was auf der Ebene staatlichen Handelns aus diesem "Grundrecht" folgt: Die individuellen Menschen und Bürgerrechte nimmt jeder selbst wahr. Das Grundrecht auf Sicherheit dagegen kann nicht individuell wahrgenommen werden, da "Sicherheit" einen gesellschaftlichen Zustand bezeichnet: Wie sicher kann ich mir über das Verhalten anderer sein?25 Gefordert ist nach dieser Konstruktion also der Staat. Damit der Einzelne sein "Grundrecht auf Sicherheit" wahrnehmen kann, muß der Staat diese Sicherheit zur Verfügung stellen. Gefordert ist damit aktives staatliches Handeln, "Sicherheitspolitik" eben. "Je mehr der Staat danach seinen Sicherheitsapparat aufbläht, um so mehr betreibt er Sicherheitsvorsorge für seine Bürger. Er ist nämlich der logische und strukturell ganz unvermeidbare Hüter dieses Grundrechts des einzelnen", analysiert Ulrich K. Preuß.26

Mit der Erfindung des "Grundrechts auf Sicherheit" ist also ein grundlegender Adressatenwandel verbunden: Das "Grundrecht auf Sicherheit" stellt kein Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat mehr dar, sondern einen Anspruch des Staates an die Bürger. Um eine umfassende Sicherheit zu gewährleisten, müßte der Staat möglichst viele Unsicherheiten Isensee: "humanes Restrisiko"27 vorbeugend ausschalten. Dadurch haben wir jetzt die Kollision zweier Grundrechte, die auf gleicher Ebene liegen: Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und persönliche Freiheit, und das Grundrecht auf Sicherheit.28 Damit ist das staatstheoretische Fundament für die Abwägungsstrategie gelegt.

Isensee und Scholz gehen aber noch einen Schritt weiter: Sie sagen, daß die anderen Grundrechte ohne Sicherheit überhaupt nicht wahrgenommen werden können. Sicherheit erhält damit den Status eines "Supergrundrechtes".29 Die staatliche Sicherheitsvorsorge kollidiert also nicht mit anderen Grundrechten, mit denen sie auf der gleichen Ebene liegt. Sie ist jetzt deren Bedingung. Das "Grundrecht auf Sicherheit" bildet demnach die Grundlage aller anderen Grundrechte. Mit dieser Umdeutung kann der Staat beliebige Grundrechtseinschränkungen damit begründen, sie dienten ja nur der Herstellung von Sicherheit, damit die BürgerInnen ihre Grundrechte wahrnehmen können. Der Datenschutz muß also geradezu eingeschränkt werden, damit man das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wahrnehmen kann.30 Wer das "Grundrecht auf Sicherheit" akzeptiert, ist damit in der Umdefinierungsfalle gefangen.

Diese komplizierte staatstheoretische Konstruktion hat sich mittlerweile im politischen Alltagsdiskurs eingenistet und wird unreflektiert auch von Sozialdemokraten und liberalen Juristen verwendet.31 Wiederum läßt sich diese Entwicklung beispielhaft bei den Grünen zeigen. War ihr Grundsatz früher "Freiheit stirbt mit Sicherheit", so faßte die Süddeutsche Zeitung das Motto ihres im Sommer vorgestellten Sicherheitskonzeptes zusammen: "Keine Freiheit ohne Sicherheit"32. Damit sind sie nicht nur in die Abwägungs-, sondern auch in die Umdeutungsfalle getappt. "Sicherheit" bildet nun die allgemein anerkannte Grundlage für staatliches Handeln, und Manfred Kanther müßte seine Behörde konsequenterweise in "Ministerium für Staatssicherheit" (MfS) umbenennen. Wohlgemerkt: Durch solche Diskursstrategien ist noch nichts getan, aber vieles erlaubt bzw. legitimiert.

Diese Logik ist im Sicherheitsbegriff implizit schon immer angelegt: "Die Unklarheit des Inhalts erlaubt nun jedermann, mit dem Wort seine eigenen Wünsche zu verbinden, und damit ist die Bedingung geschaffen, daß dem Wort als solchem Symbolcharakter zukommt, daß allein das Hören oder Sehen des Wortes genügt, um eine emotionale Erregung hervorzurufen. Damit kommt ihm eine ähnliche Funktion zu, wie dem Auslösereiz beim tierischen Instinkt."33

Ordnung und Ausgrenzung

Vor der Entstehung des neuzeitlichen Staates existierte "Sicherheit" als politischer Begriff überhaupt nicht. Seit seiner Etablierung durch den Staatstheoretiker Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert ist seine Bedeutung ständig erweitert worden. Der Grund dafür liegt im Verschwinden des mittelalterlichreligiösen Heilsversprechens, als der Mensch im Zuge der Aufklärung entdeckte, daß er seine Zukunft selbst gestalten kann und muß. Die Unwägbarkeiten des Lebens waren plötzlich kein gottgegebenes Schicksal mehr, sondern ein Problem aktiv herzustellender geplanter Zukunft. An die Stelle der religiösen Gewißheit der Erlösung im Jenseits trat die moderne Idee der Sicherheit in einer diesseitigen, innerweltlichen Zukunft. Nichts anderes ist Sicherheit: Verfügung über die Zukunft.34

Mit der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Wechselwirkungen wird immer weniger durchschaubar, wie die Zukunft gestaltet werden kann. Die stetige Vergrößerung individueller Freiheiten durch den Zerfall (oder: die Liberalisierung) sozialer Normen erhöht jedoch auch die Anforderungen an den Einzelnen, seine Zukunft selbst zu gestalten.35 Dieser "doppelten Ambivalenz" (FranzXaver Kaufmann) und der darin angelegten Zunahme von Unsicherheit wird mit einer modernen Idee begegnet: dem Streben nach Ordnung. Der Soziologe Zygmunt Bauman bezeichnet Ordnung als die wichtigste Idee der Moderne.36. Sicherheit in der Zukunft bedeutet damit Ordnung in der Gegenwart. Jede nur denkbare Ordnung auch die "öffentliche Ordnung", die Manfred Kanther als Staatsziel festlegen will, hat zwei Eigenschaften: Sie zieht a) Grenzen und ist damit b) das Ergebnis von Definitionskämpfen.

Wer eine Ordnung durchsetzt, um damit "Sicherheit" zu schaffen, muß klassifizieren, also Grenzen ziehen. Die Durchsetzung einer "öffentlichen Ordnung", also der Ordnung in öffentlichen Räumen, ist immer das Ergebnis von Grenzziehungen zwischen "ordentlichen Bürgern" und denen, die sich nicht einordnen lassen wollen oder können Hausbesetzer, Bettler, Sprayer, Arme und Fremde, kurz: allen alternativen Lebensentwürfen und praktiken. Diese Ausgrenzung findet mehr und mehr auch räumlich statt. Die Definition "gefährlicher Orte" in den Innenstädten erlaubt willkürliche Personenkontrollen, Platzverweise und "Verbringungsgewahrsam", d.h. das Aussetzen unerwünschter Personen am Stadtrand.37

Daß bei den Chaostagen die öffentliche Ordnung vom Staat mit Bürgerkriegsmitteln durchgesetzt wurde, lag nicht nur an der (angeblichen) Gefahrenlage, sondern auch daran, daß die Idee des Chaos der Gegenentwurf zur Ordnung ist. "Da die Souveränität des modernen Staates in der Definitionsmacht und deren Anwendung liegt ist alles, was sich selbst definiert oder der machtgestützten Definition entzieht, subversiv". Intoleranz, so Bauman, "ist daher die natürliche Neigung der modernen Praxis". Nicht umsonst heißt die Leitidee des New Yorker Polizeimodells "Zero Tolerance".

Jede durchgesetzte Ordnung ist also vor allem ein Sieg der Gewalt über die Unwägbarkeiten, Vielfältigkeiten und Ambivalenzen des selbstbestimmten Lebens, indem sie Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Jede Ordnung ist gleichzeitig ein Sieg über alternative Ordnungsvorstellungen, ebenso wie "Sicherheit" inhaltlich unterschiedlich gefüllt werden kann. Es sind durchaus Modelle einer demokratischeren oder gerechteren öffentlichen Ordnung denkbar, genauso wie es neben der "inneren" Sicherheit auch Konzepte "sozialer" oder "ökologischer" Sicherheit gibt. Alle diese Sicherheitskonzepte sind mit massiven Problemen verbunden38, aber sie verdeutlichen, daß jede durchgesetzte Ordnung und jeder hegemoniale Sicherheitsbegriff auch die Verdrängung von Alternativen bedeutet.

Der Markt als Heilsversprechen

Nach dem Ende der sozialistischen GegenOrdnung hat sich eine bestimmte, sehr partikular definierte Idee öffentlicher Ordnung durchgesetzt: Die kapitalistische Ordnung als neoliberales Heilsversprechen. An die Stelle Gottes, der Nation oder des Klassenkampfes tritt der Götze Markt als metaphysische Grundlage staatlichen Handelns, die sich der Notwendigkeit einer Begründung entzieht. Hier fällt zunächst ein scheinbares Paradox auf: Während einerseits mehr und mehr Teile staatlicher Aufgaben privatisiert werden, wachsen andererseits die Eingriffsbefugnisse des Staates in die Gesellschaft.

Die Ökonomisierung von Gesellschaft und Politik ist aber nicht das Ende von Politik, sondern selbst eine hochpolitische Angelegenheit. Die öffentliche Verengung von "Sicherheit" auf die Durchsetzung und Sicherung des Marktes bedeutet auch eine Politisierung der Ökonomie. Rupert Scholz stellt diese Verbindung in Personalunion dar: Als einer der Erfinder des "Grundrechts auf Sicherheit" ist er auch Vorsitzender des Sachverständigenrates "Schlanker Staat".39

Subversives Verhalten beginnt in dieser staatlich gestützten Marktordnung schon bei der Weigerung, die Innenstädte nur als Konsummeilen anzuerkennen. Andersherum gelten die Verlierer des Neoliberalismus nicht nur als NichtKonsumenten, sondern werden, sofern sie ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum fordern oder gar die Frage nach den Ursachen von Armut stellen, zum Sicherheitsrisiko und damit zu Staatsfeinden definiert.

Die Ausweitung staatlicher Interventions und Repressionsbefugnisse in Lebensbereiche, die früher nicht als "Sicherheitsprobleme" thematisiert, "versicherheitet"40, wurden, kann jedoch nicht unbegrenzt weitergeführt werden. Sie stößt nach der Umdeutung der Grenzen persönlicher Freiheitsrechte mittlerweile an eine weitere Grenze, die aber nicht durch einen neuen Sicherheitsdiskurs wegedefiniert werden kann: Die Kostengrenze. Bei der Bundeswehr ist der Konflikt zwischen Sicherheitspolitikern und Deregulierern (="Kostensenkern") schon deutlich erkennbar. Die Beschaffung des Eurofighters war vielleicht der letzte große Sieg der "Sicherheits"Fraktion, da angesichts leerer Kassen solche Großprojekte in Zukunft öffentlich kaum noch zu legitimieren sind. Aber auch die Polizei kann sich nicht um alles "kümmern".

Die Gewinner des Marktes, vor allem große Konzerne und die Betreiber der Konsumtempel, verfügen jedoch über genügend Kapital, um sich ihre Sicherheit zu kaufen. Die privaten Sicherheitsfirmen haben in den lezten Jahrzehnten einen unvergleichlichen Boom erlebt. "Wenn die Polizei überfordert ist, werden wir selber mit den Verbrechern aufräumen", so ein Funktionär des Potsdamer Taxifahrerverbandes41. Die zunehmende Privatisierung polizeilicher Aufgaben verstärkt dabei die Parteilichkeit des neuen Sicherheitskonzeptes, da die schwarzen Sheriffs direkt die Moral ihrer zahlungskräftigen Auftraggeber durchsetzen und nicht an die Reste rechtsstaatlicher Gleichheitsgrundsätze gebunden sind. Das Ergebnis ist, daß genuin staatliche Aufgaben der Logik des Marktes, also von Angebot und Nachfrage, unterworfen werden. Auch die zunehmende Umwandlung öffentlicher Plätze in private Einkaufspassagen ist ein Ausdruck dieser Entwicklung.42

Die Deregulierung führt also dazu, daß sich die Grenzen zwischen Ökonomie und Politik immer mehr verwischen. "Firmen verhalten sich wie Staaten, Staaten verhalten sich wie Firmen", so Lothar Brock und Mathias Albert.43 Ulrich Becks Feststellung, daß in der Risikogesellschaft die neue soziale Trennlinie nicht mehr wie in der Klassengesellschaft entlang der Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum verläuft, sondern entlang der Verteilung von Risiken44, trifft also nur zur Hälfte zu: Risiken bzw. ihre Bekämpfung sind ein hochprofitables Geschäft. In der Grauzone zwischen Gewaltmonopol und Gewaltmarkt entsteht eine neue Form von politischem Risikomanagement bzw. ökonomisierter Sicherheitspolitik.45

Globalisierung der (Un)Sicherheit

Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Politik und Apparate der "Inneren Sicherheit" in den Metropolen des Nordens. Gerade in schwachen Staaten der "Dritten Welt" übernehmen Söldnerfirmen zunehmend Teile des staatlichen Gewaltmonopols nach innen und außen. Der Staat ist dabei nur noch der formelle Auftraggeber, bezahlt werden die gemieteten Gewaltdienstleister direkt oder indirekt mit den Rohstoffen der von ihnen "gesicherten" Gebiete.46 Auch die NATO hat in ihrem "Neuen Strategischen Konzept" von 1991 die Wende von der reaktiven zur präventiven Kriegführung vollzogen anstatt "Sicherheit vor Bedrohung" zu gewährleisten, plant sie seitdem für "Sicherheit vor Risiken".47

Dieser neue Risikobegriff ist inhaltlich ähnlich unscharf und willkürlich gefüllt wie der geschilderte Begriff der "Inneren Sicherheit". Er zielt nicht mehr darauf ab, das NATOGebiet nach außen vor einem Aggressor zu schützen, sondern richtet sich auf die Folgen der globalen Durchsetzung des westlichkapitalistischen Modells. Das Militär wird dabei nicht mehr als letztes Mittel angesehen.

"Für einen Erfolg der Bündnispolitik ist ein von der politischen Führung des Bündnisses festzulegender kohärenter Ansatz erforderlich, wobei sie nach Bedarf die geeigneten Krisenbewältigungsmaßnahmen aus einer Palette politischer und sonstiger Optionen, darunter auch aus dem militärischen Bereich, auswählt."48

Aber auch ohne Kriegführung ist das Ordungsmodell, das der westlichen Außen- und Sicherheitspolitik zugrundeliegt, das westlichkapitalistische die sog. "Demokratie und Marktwirtschaft". Letzeres wird dabei groß, ersteres klein geschrieben, wie der Umgang mit autoritären Regimen in China, Nahost, Lateinamerika oder Afrika zeigt. Der Neoliberalismus als politisch festgelegte und partikularen Interessen dienende Idee, die durch den Maastrichter Vertrag oder das Welthandelsabkommen (GATT) institutionell abgesichert wurde, bildet die Grundlage des Glaubens an die Erlösung durch den Weltmarkt. Daß nach dem Ende des Ostblocks der militante Kampf des politischen Islam gegen dieses westliche Gesellschaftsmodell zugenommen hat, ist demnach nicht verwunderlich: Er stellt bisher die einzige Verbindung von Politik und Moral dar, die weltweit als Alternative zur Marktmoral genügend AnhängerInnen mobilisieren konnte. Beide Modelle sind insofern fundamentalistisch, als sie ein exklusives Ordnungsmodell darstellen.

Gegenstrategien

Die hier dargestellte Entwicklung ist doppelt bedenklich: Durch die inhaltliche und geografische Entgrenzung des (Un) Sicherheitsbegriffs auf beliebige soziale Verhaltensweisen sind einerseits die bürgerlichen Freiheitsrechte in Gefahr und bereits zu großen Teilen erodiert. Zum anderen werden durch die Verengung von sicherheitspolitischer "Normalität" auf die Logik des Marktes alternative Lebensformen und Praxen kriminalisiert, tabuisiert und ausgegrenzt. Was kann also getan werden? Bislang sind vier Gegenstrategien erkennbar:

  1. Sozialdemokratische Anpassung: Der neoliberalen Logik, die sich darauf beschränkt, jedem ein "Grundrecht" auf den Kauf von Sicherheit zuzugestehen, setzen die Sozialdemokraten den universalistischen Anspruch "Sicherheit für alle" entgegen. Gerhard Schröder begründet seine Position, daß "Sicherheit" ein klassisch sozialdemokratisches Thema sei, damit, daß nur die Reichen sich Sicherheit kaufen können, die SPDKlientel aber auf den Schutz des Staates angewiesen ist. Diese Strategie wird sich in der Praxis kaum durchhalten lassen. Schon der Aufwand für einen weiteren Ausbau des Polizeiapparates und umfassende sozialtechnische Maßnahmen ist nicht zu schaffen, wenn die "Unsicherheiten", wie geschildert, tief in der Gesellschaft aufgespürt werden müssen. Im Grundsatz folgt aus dieser Strategie nur eine etwas andere Ordnung, die aber wiederum nur durch Ausgrenzung funktionieren kann.
  2. Liberale Defensive: Die letzten BürgerrechtlerInnen in der FDP sowie ein Teil der grünliberalen Intelligenz beharren darauf, daß die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion gegenüber dem Staat nicht eingeschränkt werden dürfen. Sie präsentieren sich als "alternative Verfassungsschützer". Die lakonische Variante dieser Strategie besteht in dem Hinweis, daß die Jagd nach dem "Phantom Sicherheit" vergeblich ist.49 Ob die Schlußfolgerung nach dem Motto "Wir leben in unsicheren Zeiten na und?" außer für (materiell) gesicherte Professoren eine Perspektive bietet, beurteile ich eher skeptisch. Diese liberale Haltung ist weiterhin wichtig. Sie bleibt aber eine rein defensive Rückzugsposition, da sie keinerlei Ansätze für eine darüber hinaus gehende Gesellschaftskritik bietet.
  3. Postmoderne Dekonstruktion: Diese recht neue Strategie, die langsam auch in den sozialen Bewegungen Fuß faßt, setzt auf zwei Ebenen an: Sie weigert sich strikt, inhaltlich am Sicherheitsdiskurs teilzunehmen, sondern entlarvt diesen als herrschaftssichernd.50 Theoretisch und praktisch folgt daraus ein Lob der Unordnung und der Ambivalenzen gegenüber der Ordnung. Dies mündet in der intellektuellen Version in Ansätzen wie der Kommunikationsguerrilla, die den herrschenden Diskurs und seine Ordnung stören will.51 Als etwas praktischhandfestere Variante, aber mit ähnlicher Stoßrichtung, können die Chaostage und Aktionen zur Rückeroberung der Innenstädte ("Smokein", Graffiti) verstanden werden. 52 Diese "Strategie der Taktik"53 ist wichtig und mobilisierungsfähig, weil sie der sterilen Ordnung das herrschaftsfreie Lachen entgegensetzt. Da hier allerdings oft nur die Ordnung selber, nicht aber ihre Grundlagen, angegriffen wird, bevorzuge ich die letzte Variante, die
  4. Postmodern reflektierte Linke: Diese hätte von der Einsicht auszugehen, daß nicht alle Begriffe nach belieben dekonstruiert werden können. Zum einen muß anerkannt werden, daß es realen gesellschaftlichen Wandel gibt, auf dessen Grundlage linke Politik stattfinden muß, will sie eine Wirkung haben. Zum anderen ist ein Mindestmaß an Ideen nötig, mit denen eine Strategie ihr Ziel definieren kann. Hier gibt es neuerdings eine Annäherung zwischen Postmodernisten und Linken.54 Jaques Derrida, einer der bekannteren postmodernen Theoretiker, besteht angesichts der verschärften Kapitalverhältnisse wieder darauf, daß die Idee der Gerechtigkeit nicht dekonstruiert werden kann.55 Was allerdings bei diesem Bund verlorengeht, ist die linke Utopie einer kommenden sozialistischen Gesellschaft. Damit sind glücklicherweise keinerlei Ideen von "gerechter Sicherheit" mehr möglich. Aus der linken Gerechtigkeitsidee und der postmodernen Sensibilität gegenüber Ausgrenzungen aller Art folgt stattdessen eine Strategie, die nicht für die Marginalisierten, Ausgegrenzten spricht, sondern diesen selbst eine Stimme verleiht. Erste Ansätze, dies in eine politische Praxis umzusetzen, waren die verschiedenen Bündnisse gegen Sozialabbau, die von StudentInnen, Arbeits und Obdachlosen, MigrantInnen und anderen gebildet wurden. Ähnlich arbeiten auch Modelle akzeptierender Drogenarbeit, in denen die User nicht als individuelle Kriminelle, sondern als Menschen in einem sozialen Kontext gesehen werden.56

Angesichts der Komplexität der spät/postmodernen Unsicherheiten wird eine Erweiterung der kritischen Öffentlichkeit auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche, die weit über das politische System hinausreichen, immer notwendiger. Konsequent zuende gedacht, läuft dies auf eine Radikaldemokratisierung und Repolitisierung breiter gesellschaftlicher Fragen hinaus, wobei die Idee des Staates als Steuerungszentrum als antiquiert gelten darf.

Die Sicherheitsapparate sind nur ein Ansatzpunkt dieser Strategie. Gerade in der AntiRepressionsarbeit wäre eine stärkere Vernetzung allerdings dringend nötig, da es hier um die Grundlagen der Möglichkeit linker Politik überhaupt geht. Anstatt vor den enger werdenden Freiheitsgrenzen zurückzuschrecken, müssen diese in der konkreten Praxis, auch durch Formen zivilen Ungehorsams, erweitert werden. Wie sagte schon Goethes Faust:

"Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß."

Ralf Bendrath studiert Politische Wissenschaft an der Freien (aber unsicheren) Universität Berlin und ist Mitglied der amiRedaktion.