Whistleblowing: Wenn Mut nicht belohnt wird

Spechblase mit Ausrufezeichen in Rollstuhl

Drei Münchner Tramfahrer weigern sich, eine Straßenbahn mit Bundeswehrwerbung zu steuern. Das Gewissen spielt auch im Job eine wichtige Rolle. Doch wer Missstände aufdeckt, riskiert alles.

Das Gewissen kann auch im Arbeitsverhältnis eine Bedeutung haben. Aus Gewissensgründen weigern sich drei Tramfahrer in München, eine Straßenbahn zu steuern, die Werbung für die Arbeit bei der Bundeswehr macht. Die Weigerung gründet auf Paragraf 4 Absatz 1 des Grundgesetzes, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert.

Die Fahrer haben auch eine Petition unter dem Slogan "Sagt mit uns Nein zur Bundeswehrtram!" bei change.org gestartet und fordern "Die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) darf sich nicht länger zum Rekrutierungsinstrument der Bundeswehr machen!"

Das Bundesarbeitsgericht hat 1989 dazu entschieden:

Sieht sich ein Arbeitnehmer aufgrund einer Gewissensnot nicht in der Lage, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, ergibt sich hieraus eine Einschränkung des Direktionsrechts des Arbeitgebers.

BAG 24.05.1989, Az. 2 AZR 285/88

Auch Whistleblower, etwa im Pflegebereich, handeln aus Gewissensgründen. Unwürdige Zustände in Pflegeeinrichtungen werden meist von Beschäftigten aufgedeckt, die andere auf solche Missstände hinweisen. Ein Team um den Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff deckt immer wieder Negativbeispiele in Heimen oder Krankenhäusern auf.

Ein Extrembeispiel dokumentierte während der Pandemie Andrea Würtz – für das Gesundheitsamt Miesbach – in einer Seniorenresidenz auch mit Fotos ihrer Handykamera:

Auf ihnen sind bis auf die Knochen abgemagerte Bewohnerinnen und Bewohner zu erkennen, mit zentimeterlangen Finger- und Fußnägeln, mit eitrigen und blutenden Wunden. Würtz fotografiert Aufenthaltsräume, in denen Bewohner nach vorn gekippt in ihren Rollstühlen sitzen, die sich nicht aus eigener Kraft aufrichten können.

Manche Zimmerwände sind mit Exkrementen verschmiert, Böden voller Flecken von Urin, Blut und Erbrochenem. Bei einem Bewohner ist seit Wochen der Urinbeutel nicht ausgewechselt worden, die Flüssigkeit hat sich braun verfärbt, ist flockig.

Aktuelle Sozialpolitik

Gewissenskonflikt des einzelnen Beschäftigten

Beim "Whistleblowing" geht es um ein Handeln des Einzelnen aus einem Gewissenskonflikt heraus – mit dem Ziel, eine Verbesserung zu erreichen. Dazu wird ein Dritter eingeschaltet, eine Behörde oder die Medien. Darunter fallen Hinweise aus den Reihen der Belegschaft. Der Begriff leitet sich aus dem Englischen ab: "to blow the whistle", also "in die Alarm-Pfeife blasen".

Angestellten, die in der Öffentlichkeit auf massive Probleme oder illegales Verhalten hinweisen, drohen teilweise gravierende Sanktionen, die von Abmahnung bis hin zur Kündigung reichen können. Denn das Recht auf Meinungsfreiheit steht gegen die "Treuepflicht im Arbeitsverhältnis". Denn diese verpflichtet die Arbeitenden zur Verschwiegenheit über dienstliche Angelegenheiten.

Vor dem Schritt an die Öffentlichkeit müssen innerbetriebliche Konfliktmechanismen ausgeschöpft werden. Nur wenn dies offensichtlich erfolglos erscheint, weil etwa der Geschäftsführer selbst eine Straftat in erheblichem Ausmaß begangen hat, kann ausnahmsweise auch der direkte Weg zu den zuständigen Behörden gesucht werden.

Seit 2023 gibt es das "Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen", kurz Hinweisgeberschutzgesetz genannt. Ziel ist der Schutz von Personen, die Hinweise auf Gesetzesverstöße in Unternehmen oder Behörden geben.

Eine zentrale, externe Meldestelle hat das Bundesamt für Justiz (BfJ) eingerichtet:

Die Information über einen Verstoß muss im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit der hinweisgebenden Person bekannt werden", informiert die Stelle auf ihrer Homepage. "Es können auch Personen Verstöße melden, deren Arbeitsverhältnis zwischenzeitlich beendet wurde. Gleiches gilt für hinweisgebende Personen, die sich in einem Bewerbungsverfahren befinden.:Bundesamt für Justiz

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stärkte in einem Grundsatzurteil bereits im letzten Jahrzehnt die Rechte der Whistleblower (EGMR 21. 07. 2011, 28274/08). Die Kündigung einer Pflegerin, die auf Missstände hinwies, wurde für unzulässig erklärt:

Die fristlose Kündigung hat das Recht der Beschwerdeführerin auf Meinungsfreiheit aus Artikel 10 EMRK unter dem Gesichtspunkt des sogenannten Whistleblowings verletzt.

Die deutschen Gerichte hätten zwischen dem legitimen Interesse des Arbeitgebers an der Wahrung seines Rufs und dem Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung nicht hinreichend abgewägt und keinen angemessenen Ausgleich geschaffen. Es besteht ein öffentliches Interesse an den von der Altenpflegerin offengelegten mutmaßlichen Pflegemängeln.

Dies insbesondere deshalb, weil die betroffenen Menschen mit Pflegebedürftigkeit möglicherweise nicht selbst auf die Missstände aufmerksam machen konnten.

Nach Auffassung des EGMR musste die Altenpflegerin bei der vorliegenden Sachverhaltskonstellation auch keine weitere, der Strafanzeige vorhergehende innerbetriebliche Klärung versuchen. Zwar habe sie ihrer Arbeitgeberin zum ersten Mal in der Strafanzeige besonders schweren Betrug vorgeworfen. Die vorhergehenden Hinweise auf den zugrunde liegenden Sachverhalt hatten dem genügt.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Ein riskantes Vorgehen, das Geduld erfordert

Allerdings weist Stefan Sell, Professor an der Hochschule Koblenz, auf die Risiken aus Sicht der Beschäftigten hin: Der Altenpflegerin wurde eine Entschädigung von 10.000 Euro und 5.000 Euro für die entstandenen Kosten zugesprochen, ihren Arbeitsplatz hat sie allerdings verloren.

Ein Streit erfordert Durchhaltevermögen: Die Ereignisse, die zu ihrer Handlung geführt haben, traten 2003 und 2004 auf, während die Entscheidung des EGMR im Jahr 2011 fiel. Nach Einschätzung der Richter überwiegt hier das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der Altenpflege das Interesse des Unternehmens an seinem Ruf.

Klar ist aber auch: Das Risiko liegt beim einzelnen, mutigen Beschäftigten. In jedem Fall hat immer eine Interessenabwägung zu erfolgen, deshalb lassen Gerichtsentscheidungen beim Whistleblowing kaum prognostizieren.

Nicht aufgegeben hat Andrea Würtz. In dem Ratgeber "Altenpflege – Kämpfen statt Kündigen" wollen Würtz und Bastian Klamke zeigen, wie Pflegekräfte ihren Berufsalltag nachhaltig verbessern können. Sie appellieren an die Beschäftigten:

Jetzt ist die Zeit gekommen, um endlich aufzustehen: Nehmen wir uns und unsere Kompetenzen in den Blick. Erinnern wir uns daran, warum wir uns für diesen Beruf entschieden haben. Nehmen wir die Angehörigen ernst, indem wir ihnen zuhören.

Das Buch versteht sich ausdrücklich als Aufforderung zur Gegenwehr – statt zur Kündigung. Würtz und Klamke verschweigen nicht, wie miserabel der aktuelle Zustand der Altenpflege ist. Sie stellen dar, welche Möglichkeiten Pflegekräfte haben, um gegen Missstände vorzugehen. Und möchten aufzeigen, wo sich bei Dauerbelastung Hilfe holen lässt.

Die Autoren erinnern daran: Der Zweck des Heimgesetzes ist es, "die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner von Heimen vor Beeinträchtigungen zu schützen".

Das Buch macht auch deutlich, wie schwer die Möglichkeiten des Einzelnen sind. Eine tarifliche Festlegung von Mindestbesetzungsregelungen und einen Belastungsausgleich für die Angestellten, wie sie die Gewerkschaft Ver.di in der Charité durchgesetzt hat, setzt aber gemeinsame Aktivitäten der Beschäftigten voraus.