Über die aktuelle Gefährlichkeit unterkomplexen Denkens

Seite 3: Ganzheitlichkeit und Interessendurchsetzung

Der Hinweis auf den Populismus von Politikern:innen, verweist auf den Aspekt des Erkenntnis leitenden Interesses. So weiß Putin sicherlich, dass die ukrainische Regierung nicht aus drogenabhängigen Terroristen besteht. Dennoch behauptete er dies, um ukrainische Politiker:innen abzuwerten, aus dem Kreis akzeptierter Humanität auszuschließen, um sie anschließend anzugreifen und militärisch vernichten zu können.

Auch Jair Bolsonaro dürfte wissen, dass der Amazonas eine wichtige planetare ökologische Funktion hat. Er bestreitet dies aber und lässt die Zerstörung des Regenwaldes aber aus politischen und ökonomischen Interessen heraus zu.

Auch weiß die EU-Kommission sicherlich, dass Gas und Kernenergie keine nachhaltigen Energiequellen sind, obwohl sie mit ihrer derzeit dem EU-Parlament zur Abstimmung vorgelegten Taxonomie dies einfordert. Ganzheitliches Denken, das zu einer Ablehnung dieser Energiequellen im Sinne von Nachhaltigkeit führen würde, wird hier zugunsten der Interessendurchsetzung einzelner EU-Staaten abgeschaltet. Ganzheitliches Denken würde einen Gegensatz zwischen fossiler und nuklearer Energieerzeugung und der Bekämpfung der Klimakrise im Sinne von Nachhaltigkeit erkennen.

Allerdings ist es trotz dieser Versuche, ganzheitliches Denken und Handeln durch unterkomplexe Vorgehensweisen zu ersetzen, weiterhin wichtig, über Bildungsprozesse insbesondere im politisch-historischen Bereich, in politikwissenschaftlicher Analyse und Beurteilung und im alltäglichen politischen Denken und Handeln einen ethisch vertretbaren politischen Einfluss im Ganzen auszuüben.

Hierzu ist es in Diskussionen zukünftig wichtig, unterkomplexes Denken als solches kenntlich zu machen und die systemischen Zusammenhänge zu konkretisieren. Hierbei ist das ‚Interesse‘ eine zentrale Kategorie, das hinter den Argumenten eines Akteurs in ökonomischer, politischer oder ökologischer Hinsicht hervor scheint bzw. sich durch eine kritische Analyse erkennen lässt.

Besonders in der jetzigen Situation, bei der ein regionaler militärischer Konflikt dabei ist, sich in einen Weltkrieg mit ungeheuren Auswirkungen zu verwandeln, ist es wichtig, unterkomplexes Denken zu vermeiden.

Es müssen in einem ganzheitlichen Sinne folgende Fragen gestellt und beantwortet werden: Welche systemische Wirkung in politischer, ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht und welche existenzielle Wirkung für den Einzelnen wird die Eskalation des Kriegs in der Ukraine auf die Ukraine, aber auch für den Rest der Welt haben?

Welchen Einfluss hat z.B. der Krieg in der Ukraine auf die Welternährungslage? Welche Maßnahmen, wie z.B. die weitere Lieferung schwerer Waffensysteme oder die zukünftige Sperrung des ukrainischen Luftraums, werden welche Wirkungen für die Eskalation des Konfliktes haben? Mit welchen Mitteln können die russische Föderation und die ukrainische Regierung dazu bewegt werden, sich für ernsthafte Friedensverhandlungen zu öffnen, d.h. auch Kompromisse einzugehen?

Wie werden sich verschiedene andere Akteure, wie z.B. China oder die Vereinten Nationen, zu einer weiteren Eskalation des Krieges verhalten? Welches ist der zentrale friedenspolitische Beitrag eines Staates, wie z.B. der Bundesrepublik Deutschland, eine Deeskalation des Kriegs zu bewirken? Welches sind die Hindernisse und was sind die förderlichen Bedingungen für eine neue Friedensordnung? Wie kann eine sinnvolle Friedensordnung mit Hilfe welcher Schritte erreicht und hinterher wirkungsvoll kontrolliert werden? Was kann der planetaren Zivilisation passieren, wenn keine Deeskalation des Konflikts gelingt?

Dies alles sind aus aktuellem Anlass Fragestellungen, die das Verhältnis des Teils zum Ganzen, die Beziehungen der Teile untereinander in ihrem Einfluss auf das Ganze und die Frage nach der Gestaltung des Ganzen betreffen. Sich diese Fragen nicht gründlich und unterkomplex zu stellen und zu beantworten, ist für den einzelnen Menschen, für Gesellschaften, transnationale Institutionen sowie für das gesellschaftliche Ganze im planetaren Kontext äußerst gefährlich.