Überlebt die Idee des Westens den russischen Ukraine-Krieg?

Seite 2: Neue Spaltung: Uneinigkeit im Westen und selbstbewusster Osten

Zuweilen waren die USA bereit, die Idee des Westens selbst aufzugeben und völlig neue geopolitische Grenzen zu ziehen. Als US-Präsident George W. Bush 2001 vor dem Kongress erklärte: "Entweder ihr seid auf unserer Seite oder ihr seid auf der Seite der Terroristen", hatte er sich, wenn auch nur vorübergehend, vom Westen abgewandt und war in ganz neue geopolitische Gebiete vorgedrungen.

Diese Bezeichnung war nicht von langer Dauer, da der "Krieg gegen den Terror" hinter vermeintlich unmittelbarere Bedrohungen – den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und die wachsende militärische Macht Russlands –, zurücktrat. Für Washington bedeutet der "Westen" jetzt einfach die Nato und nichts anderes.

Der Eifer von US-Präsident Joe Biden war am 9. August spürbar, als er die Entscheidung der US-Regierung bestätigte, die Anträge Finnlands und Schwedens auf Beitritt zur Nato zu genehmigen. "Unser Bündnis ist enger als je zuvor. Es ist geeinter als je zuvor und ... wir werden stärker sein als je zuvor", erklärte Biden. Ironischerweise war es noch vor vier Jahren Washington, das einen politischen Krieg gegen die Nato zu führen schien. Der damalige US-Präsident Donald Trump warnte die Verbündeten der USA vor "schwerwiegenden Konsequenzen", wenn sie ihre Ausgaben nicht erhöhen würden, und drohte, die USA könnten "ihren eigenen Weg gehen".

Trotz der übertriebenen Betonung von Geschlossenheit, Einheit und Stärke durch die USA machen nicht alle westlichen Nato-Mitglieder bei der amerikanischen Euphorie mit. Die Risse der Uneinigkeit unter den europäischen Ländern – sowohl im Westen als auch im Osten – machen weiterhin täglich Schlagzeilen. Und während die US-amerikanischen Waffenhersteller und Energieexporteure als direkte Folge des Ukraine-Kriegs unglaubliche Gewinne machen, leiden andere westliche Volkswirtschaften.

Deutschland zum Beispiel steuert auf eine Rezession zu, da seine Wirtschaft bis 2023 um etwa ein Prozent schrumpfen soll. In Italien hat sich die Energiekrise verschärft, und die Preise für Diesel und andere Kraftstoffe sind in die Höhe geschossen, was sich auf wichtige Sektoren der italienischen Wirtschaft auswirkt. Andere Länder, vor allem in Ost- und Mitteleuropa, zum Beispiel Estland und Litauen, werden noch härter getroffen werden als ihre westlichen und wohlhabenderen Staaten im alten Westen.

Es ist offensichtlich, dass nicht alle westlichen Länder die Last des Krieges gleich teilen oder von den astronomischen Gewinnen in derselben Weise profitieren. Eine Tatsache, die die Geopolitik des Westens möglicherweise völlig neu definieren könnte. Doch unabhängig davon, wohin sich der Westen entwickelt, steht es außer Frage, dass der Osten sich endlich erhebt. Das ist ein bedeutendes historisches Ereignis, das eine völlig neue politische Geografie und wahrscheinlich auch neue Bündnisse begründen könnte. Es stellt auch eine Gelegenheit für den Süden dar, dem Westen und seiner ehernen Hegemonie endlich zu entkommen.

Dieser Artikel von Ramzy Baroud erschien ursprünglich auf CounterPunch.org.

Ramzy Baroud ist Journalist und Herausgeber der Palestine Chronicle. Er ist der Autor von fünf Büchern. Sein neuestes ist "These Chains Will Be Broken: Palestinian Stories of Struggle and Defiance in Israeli Prisons". Dr. Baroud ist Non-Resident Senior Research Fellow am Center for Islam and Global Affairs (CIGA) der Istanbul Zaim University (IZU). Seine Homepage ist: www.ramzybaroud.net.

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