Überlegungen zum demokratischen Potential des Web 2.0

Seite 2: Ernst Cassirers Konzept der Pluralität der symbolischen Formen

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Etwa 140 Jahre später fand sich Ernst Cassirer in der erstaunlichen Lage wieder, in der repräsentativen Demokratie der Weimarer Republik von Demokratiefeinden und Antisemiten umstellt zu sein.

Cassirer erlebte die Weimarer Republik zunächst als politische Befreiung. Hier endlich war die Pluralität und Offenheit aller gesellschaftlichen Institutionen gegeben, die eine freie und vielfältige Öffentlichkeit gewährleistete, die Cassirer als essentiell für die Existenz des Menschen als "animal symbolicum" verstand. Aber genau diese Pluralität der symbolischen Formen sah er auch hier schon wieder durch die Feinde der Demokratie gefährdet. Er beobachtete eine Verengung des Denkens, die Wiedereinführung völkischer und nationalistischer Mythen, Rassenwahn und Antisemitismus.

Diese Tendenzen gefährdeten die freie und individuelle Entfaltung der symbolischen Formen, die man mit Cassirer als Medien der Weltwahrnehmung und Weltkonstruktion bezeichnen kann. Sie erst befähigen den Menschen in einem "Pluriversum" zu leben und sich zurechtzufinden.4 Diese symbolischen Formen sind natürlich keine Medien im normalen Wortgebrauch, doch ist ihre Funktion dieselbe, die wir heute den Massenmedien zuschreiben: Die Herstellung von Weltkenntnis und Weltkonstruktion.

Pathologie der Welterkenntnis

Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme, der Gleichschaltung und der Säuberung aller gesellschaftlichen Institutionen und des öffentlichen Dienstes wurde die Öffentlichkeit durch eine totale Scheinöffentlichkeit ersetzt, Erfahrung und Gestaltung der Welt durch die symbolischen Formen war nicht mehr möglich, da nun alle symbolischen Formen von einem - um mit Odo Marquard zu sprechen - neuen Monomythos durchtränkt und gelähmt wurden.5

Bei Cassirer kann man schon implizit lesen, was dann Walter Benjamin in seinem grundlegenden Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit explizit ausführt: nämlich dass sich die Technik der Medien dem Politischen gegenüber neutral verhält. Es kommt immer auf die Indienstnahme der Technik an, die den Wert der Medien für eine plurale Öffentlichkeit bemessen lässt.6

Demokratietheoretisch haben wir also mit Cassirer einen weiteren Vertreter des liberalen Ansatzes, der jedoch den Kreis der räsonierenden Öffentlichkeit umfassend gestalten würde.