Überlegungen zum demokratischen Potential des Web 2.0
Seite 4: Habermas' Theorie der Öffentlichkeit
Jürgen Habermas' deliberative Demokratietheorie bietet hier das Mittelstück zwischen den beiden bisher deutlich hervorgetretenen Ansätzen: Habermas verortet seine Theorie in den modernen Massengesellschaften, also in einem massenmedial bestimmten Diskurs.
In seiner Habilitationsschrift von 1962 "Der Strukturwandel der Öffentlichkeit" äußert er sich ja bekanntlich noch sehr negativ über die Qualität einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit. Zu sehr ist er hier noch vom Kulturindustriedenken Adorno und Horkheimers beeinflusst, die doch ein sehr lineares Wirkungsmodell der Massenmedien hatten und vor allem die Eigenwilligkeit, Resistenzkraft und auch Intelligenz des Massenpublikums völlig unterschätzten.
Habermas lehnt sich nun in seinem Vorwort zur Neuauflage von 1990 an die Cultural Studies an und stellt mit Stuart Halls Aufsatz "Encoding/Decoding"8 fest, dass man idealtypisch drei Rezeptionsmodi berücksichtigen muss: den affirmativen, den oppositionellen und den synthetisierenden Rezeptionsmodus.
Man kann wohl ein wenig vereinfachend sagen, dass im Grunde diese drei Rezeptionsmodi bei allen zentralen Gegenständen der gesellschaftlichen Debatten in der Öffentlichkeit anzutreffen sind. Insofern ist eine öffentliche Meinung, wie sie im partizipatorischen Paradigma sich vorzustellen ist, nämlich als Summe der Einzelmeinungen, völlig unbefriedigend, weil man darauf schlecht allgemein gültige Entscheidungen fällen kann. Beim liberalen Paradigma fällt negativ auf, dass nicht die Gesamtgesellschaft repräsentiert ist, sondern die politische und ökonomische Elite überrepräsentiert ist. Dies führt zu den allgemeinen negativen Begleiterscheinungen die uns heute aus repräsentativen Demokratien bekannt sind: Politikverdrossenheit, Rückkehr ins Private, Protestwahlen.
Synthese des liberalen und partizipativen Paradigmas
Um aus diesem Dilemma zu entfliehen, versucht Habermas aus beiden Ansätzen das Positive zu vereinen und das Negative zu vermeiden. Die in Körperschaften organisierte Meinungsbildung, die zu verantwortlichen Entscheidungen führen soll, kann dem Ziel der kooperativen Wahrheitssuche nur in dem Maße gerecht werden, wie sie für alle Themen und Argumente durchlässig bleibt.9 Somit hofft Habermas auf das freie Zusammenspiel institutionell verfasster Willensbildung und nicht vermachteter Kommunikationsströme einer nicht organisierten Öffentlichkeit:
Die kommunikativ verflüssigte Souveränität bringt sich in der Macht öffentlicher Diskurse zur Geltung.
Jürgen Habermas
Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz werden bewertet und diskutiert. Diese Meinungen müssen dann aber "in Beschlüssen demokratisch verfasster Körperschaften Gestalt annehmen, weil die Verantwortung für praktisch folgenreiche Beschlüsse eine institutionelle Zurechnung verlangt". Insofern muss man mit Habermas festhalten, dass die Diskurse nicht herrschen, sondern mit ihrer kommunikativen Macht die administrative Macht beeinflussen und zwar im Sinne von Beschaffung oder Entzug von Legitimation.10 Eine zentrale Rolle spielen hier neben den Massenmedien die zivilgesellschaftlichen Akteure wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Bürgerrechts- und Umweltorganisationen etc.
Die massenmediale Vermitteltheit der Kommunikation spielt auch hier eine große Rolle, anders ist politische Kommunikation heutzutage auch gar nicht mehr zu denken. Insofern ist natürlich auch für Habermas klar, dass die Presse so frei und vielfältig sein soll wie möglich. 1990 ist es für Habermas noch fraglich, ob die Zivilgesellschaft schon stark genug ist, sich gegen die Medienmacht und ihre politischen und ökonomischen Interessen durchzusetzen. Ziel der Öffentlichkeit ist jedenfalls die Selbstbindung aller Akteure an einen diskursiv ermittelten Konsens. Damit soll eine Rationalisierung des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses unter Einbindung von Akteuren aus allen gesellschaftlichen Teilbereichen stattfinden.