Überlegungen zum demokratischen Potential des Web 2.0

Seite 3: Benjamin, der Tonfilm und die Politik

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Benjamin war davon überzeugt, dass der Tonfilm das avancierteste Medium seiner Zeit war und damit genau den Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen entsprach. Hier ist also schon ein wichtiger neuer Punkt angesprochen: Die Medien, um akzeptiert und auch der Lebensrealität der Menschen gerecht zu werden, müssen den gesellschaftlichen Wahrnehmungsgewohnheiten entsprechen. Der Tonfilm entspricht den Gewohnheiten der Menschen, die sie aus Arbeit und Freizeit haben, er spricht ihre Sprache. Dies macht ihn zum geeigneten Medium, um sie zu beeinflussen.

Der Tonfilm als audiovisuelles Medium ermöglicht nach Benjamin eine dreifache politische Indienstnahme:

  1. Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus
  2. Indienstnahme des Films durch die Kulturindustrie
  3. Politisierung des Films durch den Kommunismus

Während die ersten beiden das Verhältnis von Öffentlichkeit und politischem System nach Benjamin undemokratisch und autoritär steuerten und dafür die neuen Medien gezielt und intelligent einsetzten, lässt nur der dritte Punkt, die Politisierung des Films durch den Kommunismus, eine freie und demokratische, ja basisdemokratische Öffentlichkeit zu, die in einem direkten Begründungsverhältnis zur Demokratie steht - eine Assoziation, die heute nicht mehr unbedingt mit dem Kommunismus entsteht. Hier kann man dann nicht mehr von der Beeinflussung der Menschen durch den Film reden, sondern man muss vielmehr von einer Selbsterkenntnis sprechen.

Auch hier gilt - wie bei Cassirer: Bedingung für das Funktionieren dieser Selbsterkenntnis ist Pluralität und Freiheit. Benjamin geht aber noch einen Schritt weiter und fordert - wie zur gleichen Zeit Brecht - dass jeder zum Autor werde.

Inszenierte Politik avant la lettre

Darüber hinaus führt der Schritt zu den audiovisuellen Massenmedien auch zu einer Veränderung des Publikums, was wiederum Auswirkungen auf die Performanz des (politischen) Medienakteurs hat.

Nach Benjamin agieren die Politiker nun nach den gleichen Gesichtspunkten wie der Schauspieler vor der Kamera.7 Und mit dem Medium verändert sich nicht nur die Art und Weise der Kommunikation und ihrer Rezeption, sondern es verändert sich auch das Publikum. Von einem kleinen Fachpublikum hin zur allgemeinen Öffentlichkeit. Benjamin hat hier im Keim das Phänomen entdeckt, das seit Ende der 90er Jahre in der Politik- und Kommunikationswissenschaft diskutiert wird: "Inszenierte Politik" als Konsequenz der Medialisierung.

Benjamin ist, um bei dem Schema von Renate Martinsen zu bleiben, im partizipatorischen Demokratieparadigma anzusiedeln - zumindest solange man seiner Idealvorstellung und nicht seiner Ist-Darstellung folgt.