Überlegungen zum demokratischen Potential des Web 2.0
Seite 5: Web 2.0, Öffentlichkeit und Demokratie
Die Entwicklung der sogenannten neuen Medien, insbesondere des Web 2.0, beflügelt erneut die demokratischen Phantasien vieler Menschen. Die bisher vorgestellten Paradigmen interpretieren diese neuen Medien unterschiedlich.
Während das liberale Paradigma darin vor allem eine weitere Plattform für Informationen sieht, ist aus der deliberativen Warte das Web 2.0 eine ideale technische Idee, um Diskussionen ortsunabhängig und inklusiv zu gestalten. Zivilgesellschaftliche Akteure haben es hier leichter, sich zu äußern. Das partizipatorische Paradigma findet hier nun all das technisch realisiert, was Benjamin sich von den zu seiner Zeit neuen Medien erwartet hat: Eine völlig freie Plattform, auf der alle die gleichen Zugangschancen und Möglichkeiten haben, ihre Standpunkte in den öffentlichen Diskurs zu befördern. Zumindest theoretisch. Aber, wie steht es denn eigentlich wirklich um die partizipativen Möglichkeiten des Web 2.0?
Web 2.0, Öffentlichkeit und Demokratie - optimistische Variante
Die Revolutionen in Nordafrika, die Aufstände in Iran und China werden in den Medien oder sollte man besser sagen: in der Öffentlichkeit - gefeiert als das Ergebnis neuer Öffentlichkeiten im Internet, gesteuert und befeuert durch Facebook und Twitter, Email, Smartphones etc. Diese Ereignisse sollen - quasi pars pro toto - zeigen, dass das 21. Jh. aufgrund der technisch-medialen Revolution keine Autokratien mehr duldet, Demokratie und Menschenrechte setzen sich überall durch.
Web 2.0, Öffentlichkeit und Demokratie - realistische Variante
Wie üblich bleiben solch optimistische Betrachtungen nicht lange ohne störende Relativierungen. Da diese meist interessanter und aus politiktheoretischer Perspektive deutlich interessanter sind als die optimistischen Betrachtungen, werde ich im Folgenden versuchen zu zeigen, inwiefern eine kritische Betrachtung des Web 2.0 für das Verständnis des Verhältnisses und der Bewertung von Öffentlichkeit und Demokratie im Netz wichtig ist.
Evgeny Morozov gibt in seinem Buch The Net Delusion. How not to liberate the World zu bedenken, dass die neuen Medien ebenso große Unterdrückungspotentiale haben wie solche der Emanzipation11 Walter Benjamins Dreierschema der Indienstnahme von Medien und der Unschuld der medialen Technik scheint hier durch. So macht Morozov darauf aufmerksam, dass das Internet und seine neuen Möglichkeiten nicht nur Bürgerrechtler, Netzaktivisten und sonstige Revolutionäre ermächtigt, sondern eben auch die Geheimpolizei, die Zensoren und die Propagandamaschinerien moderner autoritärer Regime. Und er ist der Ansicht, dass, zumindest im Moment, die autoritären Regime die Oberhand haben.
Die sogenannten Internetrevolutionen hätten auch nicht im Internet stattgefunden. Sicher, es gab Facebookseiten zur iranischen und tunesischen Revolution und getwittert wurde auch. Doch im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Verbreitung von Internetzugängen, Smartphones etc. in den betroffenen Ländern nicht ausreichte, um die Proteste effektiv anzuleiten und zu dirigieren.
Was der Westen in den Medien gefeiert hat, war eine vor allem von Exilanten getragene mediale Begleitmusik der eigentlichen Revolutionen. Diese wurde in den betroffenen Ländern vielleicht wahrgenommen, hatte aber nicht wirklich die Bedeutung, die ihr im Westen beigemessen wurde. Vielmehr habe das Kaffeehaus und die Mund-zu-Mund-Propaganda, die SMS und das altmodische Telefonat die Revolutionen effektiv und schnell verbreitet und am Leben gehalten.
Was die neuen Medien demzufolge geleistet haben, war die Schaffung einer großen transnationalen Öffentlichkeit, die die Sache der Oppositionellen und der Exilanten ungleich stärker machte - mit gravierenden Folgen für die nationale Öffentlichkeit und den nationalen Diskurs.
Fehlender politiktheoretischer Medienbegriff
Neben solchen unklaren Öffentlichkeitsverhältnissen ist ein weiteres Problem ein fehlender Medienbegriff, der uns dazu befähigt, analytisch sauber mit den neuen Medien und ihren Folgen umzugehen. Das Web 2.0, soweit stimmen alle (natürlich nicht alle!) zu, ist ein Konglomerat aus allen "alten" Medien, die gleichzeitig verwendet werden können. Darüber hinaus lässt es reziproke Kommunikation zu, es ist ein Pull-Medium und immer, überall verfügbar. Die Autorenschaft ist oft verschleiert, so dass Kommunikation nicht mehr eindeutig zurechenbar ist.
Damit aber fehlen Anhaltspunkte über politische Absichten und Haltungen. Man hat kein Koordinatensystem der Einordnung und Bewertung mehr. Zudem führen die neuen Filtertechniken bei Google, Facebook usw. dazu, dass für den einzelnen Nutzer die Informations- und Meinungsvielfalt des Internets mehr und mehr verschwindet, so zumindest Eli Pariser in seinem neuen Buch The Filter Bubble. What the Internet is Hiding from You12.
Der heutige Nutzer des Web 2.0 spiegelt sich durch die aus wirtschaftlichem Interesse betriebene Personalisierung immer nur in seinen eigenen Vorlieben und Peers. Unbekanntes, Fremdes, außerhalb der eigenen Lebenswelt Existierendes bekommt der Nutzer nicht mehr zu sehen, weder bei Google, noch bei Facebook. Folglich kann man der webbasierten Kommunikation und der aus ihr resultierenden Öffentlichkeit nicht mehr den gleichen Status einräumen wie zuvor. Die Öffentlichkeit wird durch das Web 2.0 ubiquitär, ephemer, opak, privat und ortlos. Dies hat Konsequenzen für ihre legitimatorische Kraft und ihr Verhältnis zur Demokratie.
Eine neue Pathologie des Symbolbewusstseins?
Es steht zu befürchten, dass das Informationsangebot im Internet, um mit Cassirer zu sprechen, zu einer sich langsam entwickelnden Pathologie des Symbolbewusstseins führt. Die Pluralität des menschlichen Miteinanders wird gerade dort ausgeblendet, wo die Ideologie lautet, dass es freier und pluraler gar nicht mehr zugehen kann: im Web 2.0.
Diese Pathologie hätte zur Folge, dass die Welt in ein Mosaik unsolidarischer, nichts voneinander wissender Interessengruppen zerfällt, die natürlich auch keine politische Öffentlichkeit im Sinne einer Gemeinwesen begründenden Öffentlichkeit bilden können. Der Monomythos der Zukunft könnte daher "umfassende Informiertheit durch das Internet" heißen.
Waren die Medien für Kant tatsächlich noch sinnvolle und positive "Extensions of Man", so ist das bei Cassirer, Benjamin und Habermas nur der Fall, wenn die Medien tatsächlich zu einem einigermaßen unbehinderten Einsatz gelangen können. Die "Extension of Man", die durch das Web 2.0 der Idee nach weiter forciert wird, wird durch die Phänomene der Selbstspiegelung durch Filterinstrumente in ihr Gegenteil verkehrt. Für das Web 2.0 gilt also in gleichem Maße Benjamins Modell der Indienstnahme, die den Wert des Mediums für eine offene Gesellschaft bemessen lässt.
Politische Forderung
Die politische Forderung muss daher im Sinne der Demokratie und Öffentlichkeit lauten, dass alle Filtermechanismen öffentlich gemacht werden müssen und jederzeit die Option für alle Internetnutzer besteht, diese Filter für sich zu deaktivieren, um so eine demokratische Auseinandersetzung mit dem Medium des Web 2.0 tatsächlich zu ermöglichen und um zu verhindern, dass das Internet ausschließlich zu einem riesigen Einkaufszentrum inklusive ideologischer Indoktrinationsanstalten verkommt.