Übersetzungen aus dem Urwald
Rebellion und Literatur: Subcomandante Marcos als Schriftsteller und der Roman "Unbequeme Tote"
Es war ein historischer Moment. Ein Augenblick, so legendär, wie Martin Luther King Jr.'s Marsch auf Washington. Alle sprachen darüber, die Zeitungsmeldungen überschlugen sich, nicht wenige waren aus weit entlegenen Teilen der Erde herangereist, um sich der Karawane anzuschließen, die von Chiapas nach Mexiko Stadt zog. In der mäandernden Menschenmasse befanden sich Kinder und alte Frauen, überwiegend aus der einheimischen Bevölkerung; vor allem aber Kämpfer aus den Reihen der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN, die gegen die Missstände in ihrem Land eintreten. Im Südosten des zentralamerikanischen Landes waren sie aufgebrochen, um am 11. März 2001 ihrem politischen Wortführer zu horchen: Subcomandante Marcos. Als sie in der Hauptstadt eintrafen, erwartete sie allerdings nicht das Marktgeschrei eines linken Guerilla-Ideologen. Stattdessen Poesie. Marcos trat vor die Menge und tat das, was er am besten kann: Er sprach in literarischen Rätseln und agitierte mit denkwürdigen Metaphern.
Seit mehr als 10 Jahren schon hält Marcos die Welt auf diese Weise in Atem. Statt mit Kugeln, leitet er den zapatistischen Aufstand in Chiapas mit Worten. Mit Worten, die von seiner Literaturbeflissenheit genauso zeugen, wie von seiner Erfindungsgabe (Ein poetischer Revolutionär aus Mexico). Spielerisch versteht er es die Realität der ärmsten Region Mexikos mit kulturellen Codes zwischen Brigitte Bardot und Bertold Brecht, sowie indigenen Mythen wie Popol Vuh zu verweben – und mit großem sowohl literarischen, als auch politischen Erfolg.
Marcos gilt heute nicht nur als Sprachrohr einer politisch reformierten Linken, sondern auch als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Lateinamerikas. Gegenwärtig liegen drei Neuerscheinungen vor, die es erlauben, das wohl spannendste Phänomen der Gegenwartsliteratur näher kennen zu lernen: Ein literaturwissenschaftliches Buch von Kristine Vanden Berghe, eine Neuauflage der zapatistischen Kommuniques, sowie der erste Vorstoß des Rebellenführers in den Krimi-Kosmos: „Unbequeme Tote“.
Öffentlichkeitsarbeit im Dschungel
Als Marcos den Waffen abschwor und sich auf den Kampf mit Worten verlegte, begann eine Phase unermüdlicher Textproduktion. Seine so genannten Kommuniques haben Weltruhm erreicht. Die mexikanischen Rebellen verstehen es bestens, die Massenmedien für ihre Zwecke zu nutzen. Sie lassen ihre Verlautbarungen global via das Internet kursieren, während Tageszeitungen wie La Jornada für die Verbreitung im Printbereich sorgen. Der Bekanntheitsgrad ist aber auch auf die ausgefallenen Inhalte zurückzuführen: In den Kommuniques wird die Realität von Einheimischen einer großteils analphabetischen, stadtfremden und prämodernen Region mit politischen Analysen des mexikanischen Staates im neo-liberalen Kontext gegengelesen. Diesen Balanceakt hat Marcos zu einer Kunstform erhoben. Er vermag es nicht nur zwischen diesen Ebenen zu übersetzen, sondern er versteht es auch, seine Erzählungen mit Bezügen zur Weltliteratur als komplexes, intertextuelles Gewebe zu gestalten.
Immer wieder kehrende Charaktere wie ein Insekt namens „Don Durito“ oder ein alter Einheimischer namens „Antonio“ pendeln zwischen realistischer und fantastischer Narration. Daraus ergibt sich die besondere Spannung der Texte, die Grenzen zwischen Gefundenem und Erfundenem verwischen lassen. Längst hat Marcos die Chance erkannt, die diese Textproduktion bietet. Mit seinen Schriften erobert er die Herzen von Massen. Außenstehende bekommen auf diese Weise etwas von der Realität einer Bevölkerungsgruppe mit, die um eine gerechte Stellung in ihrer Gesellschaft ringt. Längst hat Marcos daher auch angefangen, seinen Wirkungskreis zu erweitern und beispielsweise speziell für Kinder konzipierte Texte zu verfassen. Immerhin sind sie die Zukunft eines Landes, das er nicht an die globalen Konzerne und die korrupte Regierung verloren sehen will. Ganz klar: Literatur ist vor diesem Hintergrund ein politisches Instrument. Gewaltlos, aber nicht machtlos. Statt Kugeln, durchbohren Worte den Morast der mexikanischen Gesellschaft.
Neuer Typus des Intellektuellen
Obwohl Marcos schon so viel veröffentlicht hat, obwohl ihm von Literatur-Ikonen wie Susan Sontag und Carlos Fuentes Talent und Größe bescheinigt worden sind – die Literaturproduktion der Zapatisten ist erst jetzt umfassend untersucht und beschrieben worden. Ohne Kristine Vanden Berghes eingangs genanntes Buch wäre Marcos zwar immer noch ein Held, aber sein literarischer Reichtum keineswegs so erschlossen. Die belgische Lateinamerika-Spezialistin untersucht Frauenfiguren, Verweise auf Literaturgeschichte und Popkultur, sowie Spuren von indigenen Traditionen in den Erzählungen von Marcos, und sie kommt zu dem Schluss, dass seine Stärke in seiner Fähigkeit als Übersetzer liegt. Der in Mexiko-Stadt geborene Mestize gilt ihr als überragender Vermittler zwischen der ländlichen Bevölkerung, der Regierung und den weltweit verstreuten Bühnen der Multitude. So sehr der Rebellenführer dadurch zur Ikone geworden ist, so sei das, was er am besten beherrsche, so Vanden Berghe, sich zurückzunehmen.
Damit personifiziere Marcos einen paradigmatisch neuen Intellektuellen-Typus: Im Gegensatz zu bisherigen Rebellenführern, die als Kopf und Stimme von unterprivilegierten Massen in Erscheinung getreten sind, stellt Marcos seine Führungsrolle immer wieder öffentlich in Frage und präsentiert sich alternativ dazu als „Verstärker“. Statt derjenige zu sein, der die Einheimischen erzieht, sie über die Errungenschaften der städtischen Zivilisation unterrichtet und sie auf diese Weise zu aufgeklärteren politischen Subjekten macht, tritt Marcos als lernwilliger, auf die Hilfe und Betreuung der Einheimischen angewiesener Novize auf, der seinen akademisch-kosmopolitanen Hintergrund niemals über die indigene Kultur stellt. Er kommuniziert damit immer: Aus einer nicht-kolonialen Perspektive müssten auch die Staatslenker Mexikos auf Chiapas blicken. Wie er können auch sie etwas von den Einheimischen, die sie gemeinhin als Ausgestoßene behandeln, lernen.
Mit dieser Haltung, die in seinen Erzählungen genauso zum Ausdruck kommt, wie im para-militärischen Alltag, definiere Marcos, so Vanden Berghe, die Rolle des Intellektuellen neu. Nicht zuletzt, weil im Zuge dessen der Aufstand wahrhaftig als ein „von unten“ motivierter strukturiert und durchgeführt werden kann. Es gibt noch weitere Anzeichen für den innovativen Charakter des Zapatistensprechers, etwa, dass er den politischen Wirkungskreis der Rebellion nicht à la Chávez im lateinamerikanischen, sondern im nationalen Kontext absteckt.
Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass Vanden Berghe Marcos nicht verklärt, wie so häufig geschehen. Dass sie stattdessen auf Widersprüche verweist, ja, Paradoxien geradezu zum identitätsstiftenden Prinzip des Subcomandante erklärt. Für mich wird seine ambivalente Erscheinung am deutlichsten durch die Tatsache unterstrichen, dass er immer maskiert ist. Theoretisch könnte nach seinem Tod jeder andere seine Rolle einnehmen. Nicht von ungefähr lautet einer der Slogans: „Wir alle sind Marcos“. Die Frage, die sich aber stellt: Könnte ein anderer auch so gut wie er „übersetzen“?
Mexikanisches Kreuzworträtsel
Die Übersetzer-Qualitäten von Marcos kommen in „Unbequeme Tote“ bestens zur Geltung (Literarisches Ping-Pong in Mexiko). Der Roman beginnt im Leben eines zapatistischen Detektivs, dessen innerer Monolog den Leser durch den mexikanischen Urwald bis hin nach Mexiko-Stadt trägt, wo er einen Kollegen treffen will. Seine Rede stolpert und holpert vor sich hin. Er wiederholt sich, drückt sich ungeschickt aus, macht grammatische Fehler. Aber bald wird klar, dass der Autor nicht nachlässig gewesen ist. Schließlich spricht der kleine, ein bisschen dickliche, grauhaarige und über 60 Jahre alte Mann die Sprache der unteren Klassen. Wie Miriam Lang, die Übersetzerin des Romans, präzisiert, spreche der Protagonist an vielen Stellen ein „grammatikalisch falsches Spanisch, das teilweise vereinfacht ist, teilweise antiquiert, aber auch Formulierungen und Redewendungen aus den in Chiapas gesprochenen Maya-Sprachen wie Tzotzil oder Tzeltal einfach wörtlich ins Spanische überträgt“. Sie musste dafür ein neues, „falsches“ Deutsch entwickeln.
Dann taucht ein schwuler Filipino auf, der in Spanien zu Hause ist und in Chiapas zu der internationalen Helfer-Brigade gehört, die den zapatistischen Aufstand unterstützt. Wieder wechselt die Sprache, wieder eine Lebenswelt. Diese hier gehört zu den lustigsten. Der Roman hat in diesen Passagen ein atemberaubendes Tempo und eröffnet eine ungewohnte Perspektive auf die Region und den Aufstand. Es ist zwar bekannt, dass ausländische Aktivisten die Zapatisten unterstützten; dass sie nach Chiapas flocken, als wäre es eine Neuauflage von Woodstock oder eine Anti-G-8-Großdemonstration. Doch wird die Touristenbrille hier erstmals aufgesetzt, um weitere Facetten des Alltags in Chiapas zu Tage zu fördern. Dies geschieht mit viel Humor, etwa wenn es darum geht zu erklären, warum die Helfer sich als „Klub des kaputten Kalenders“ zusammengetan haben und jenseits romantisierender Heroismen.
Die perspektivische Achterbahn bekommt durch Marcos' Koautor eine besondere Würze: Mexikos Star-Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II gesellt sich ab dem zweiten Kapitel dazu und rollt die Geschichte aus der mexikanischen Hauptstadt auf. Aber worum geht es eigentlich in diesem Roman? Die Ermittlungen der Detektive führen in die verdrängte Geschichte Mexikos und damit in die Welt von Staatsverbrechern, rechtsradikalen Netzwerken, korrupten Politikern, gierigen Supermächten und skrupellosen Konzernen. In den Kellern der Nation liegen Leichen – Opfer eines Regimes der Unterdrückung. Tote, die man nicht vergisst. Tote, die beginnen, Nachrichten auf Anrufbeantwortern von ehemaligen Freunden zu hinterlassen. Ihre Stimmen gleichen den süßen Bären, lilafarbenen Drachen und flauschigen Rentieren aus Zeichentrickfilmen. Das verleiht dem bisweilen düsteren Stoff eine fantastische Note. Ist zugleich aber auch das faszinierend-bizarre Rätsel, das es zu lösen gilt. Der Krimi wäre jedoch kein wirklich aufregender Roman, wenn die Lösung das Geheimnis nicht im Leben erhalten würde. Und wenn sie nicht zugleich auch politische Aufklärungsarbeit leisten würde. In dieser Hinsicht hat „Unbequeme Tote“ einiges zu bieten. Wie Lang, die selbst häufig in Chiapas weilt und die beiden Autoren persönlich kennt, zu verstehen gibt:
Taibo und Marcos wollten explizit einen politischen Kriminalroman verfassen. Ihr Text interveniert zum Teil direkt ins politische Geschehen, er greift aktuelle Ereignisse aus den Monaten seines Entstehens auf und verwebt sie mit dem Erzählfaden. So eröffnet das Buch die Möglichkeit mehrerer Lektüren: es kann einfach als Kriminalroman rezipiert werden, oder aber als politisches Manifest, oder aber als eine Beschreibung der extrem unterschiedlichen Lebenswelten, die das heutige Mexiko konstituieren.
Marcos | Taibo II: Unbequeme Tote. Assoziation A, 2005. 240 Seiten. 16.80 EUR
Kristine Vanden Berghe: Narrativa de la rebelión zapatista. Iberoamericana, 2005. 224 Seiten. 18 EUR
Subcomandante Marcos: Botschaften aus dem lakandonischen Urwald. Nautilus Verlag, 2005.352 Seiten. 14,90 EUR