Ukraine: Blinken die USA Richtung Rückzug?

Seite 3: Zweierlei Status Quo Ante

Die EU-Staaten wären also gut beraten, sich nicht nur zu überlegen, ob und wie der Ukraine-Krieg zu einem Ende kommt, sondern auch welches Szenario sie für den Tag danach anstreben. Andernfalls besteht die sichere Perspektive, dass die Ukraine-Krise langfristig durch den europäischen Raum mäandert.

Diese Herausforderung, sich Gedanken über die eigenen Ziele zu machen, ist umso dringender, als der Ukraine-Konflikt nur ein Baustein einer echten Multikrise ist. Zudem wird niemand anders die Aufgabe übernehmen, die Kampfhandlungen zu beenden. Mit Blick auf die außenpolitische Debatte in den USA lässt sich zwar feststellen, dass einzelne Stimmen betonen, wie günstig die Situation für einen Verhandlungsfrieden wäre. Der außenpolitische Mainstream und auch die Regierungslinie sehen jedoch keine Friedensregelung vor.

Diese Haltung zeigt sich exemplarisch an den strategischen Gedankenspielen von Liana Fix und Michael Kimmage. Sie lassen die beiden Szenarien außen vor, die unmittelbar zu einem Ende der Kämpfe führen würden, nämlich den Verhandlungsfrieden sowie die vollständige militärische Niederlage der Ukraine. Stattdessen diskutieren sie drei Möglichkeiten, die als Sieg der Ukraine gelten könnten.

Interessant an diesen Überlegungen ist vor allem, dass sie davon ausgehen, dass keines dieser drei Sieg-Szenarien den Konflikt beendet. "Ein ukrainischer Sieg würde also nicht eine Lockerung der westlichen Unterstützung für die Ukraine, sondern ein noch stärkeres Engagement erfordern", so ihre Argumentation.

Dabei bewerten sie einen "kleinen Sieg", der die russischen Streitkräfte auf die Positionen vor dem 24. Februar 2022 zurückdrängt, als das plausibelste Ziel. Ein "großer Sieg", der die vollständige Rückgewinnung der ukrainischen Souveränität, einschließlich Kontrolle über die Krim und den Donbass bedeuten würde, sei schon "weit weniger wahrscheinlich". Ein "überragender Sieg", eine umfassende militärische Niederwerfung Russlands durch die Ukraine, bezeichnen sie als ein "Hirngespinst", eine "berauschende Vision, die jedoch nichts mit der Realität zu tun hat".

Anhand dieser Definitionen würde sich die Frage stellen, was die EU-Staaten bereit sind, in einen kleinen Sieg der Ukraine zu investieren, der den Konflikt mit Russland wahrscheinlich auf Dauer stellen würde, und dies im Wissen, dass ein Verhandlungsfrieden jederzeit möglich ist, er aber von russischer, amerikanischer und ukrainischer Seite erkennbar schmerzhafte Kompromisse verlangt.

Unter Bezug auf die Aufforderung von Henry Kissinger, zum Status Quo Ante Bellum zurückzukehren, macht es also einen erheblichen Unterschied, ob dieser Zustand mit politischen Mitteln erreicht wird, oder wie von Fix, Kimmage und anderen nahegelegt, Ergebnis einer weiteren militärischen Eskalation ist. Dieser zweite, militärisch errungene Status Quo Ante bezieht sich nur auf die territoriale Kontrolle Kiews über sein Territorium, würde aber für die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen in Europa keineswegs eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor Februar 2022 bedeuten.

Im Gegenteil müssten kostenintensive Maßnahmen wie überbordende Rüstungsausgaben und die Subventionierung des ukrainischen Staatshaushalts zumindest aufrechterhalten werden, während gleichzeitig drastische volkswirtschaftliche Schäden, sprich staatliche Einnahmeeinbußen, aus Sanktionen und wirtschaftlicher Isolierung Russlands, hingenommen werden.

Natürlich ist eine solche Entwicklung keineswegs zwangsläufig. Zu den tragischen Begleitumständen dieses Konflikts gehört, dass ein Ansatz für die friedliche Regelung sehr früh auf dem Tisch lag. Bereits Ende März legten ukrainische Diplomaten einen Rahmen für ein Abkommen in Istanbul vor, der von beiden Seiten zumindest vorläufig unterstützt wurde.

Im Mittelpunkt des Vorschlags steht ein Tauschgeschäft: Kiew würde auf seine Ambitionen verzichten, der Nato beizutreten, und im Gegenzug für Sicherheitsgarantien sowohl durch seine westlichen Partner als auch von Russland dauerhaft neutral bleiben. Diese Konstruktion, dass geopolitische Rivalen langfristig die Sicherheit der Ukraine gemeinsam und außerhalb einer Bündnisstruktur garantieren, bewertet etwa Samuel Charap von der RAND Corporation als neues Modell für eine mögliche Regelung internationaler Konflikte. Es ist auch der Kern des Vier-Punkte-Plans, den der italienische Ministerpräsident Mario Draghi dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, vorlegte.

Dieser Plan sieht lokale Waffenstillstände vor, um die Evakuierung der Zivilbevölkerung zu ermöglichen und die Voraussetzungen für einen allgemeinen Waffenstillstand zu schaffen, der "zu einem dauerhaften Frieden führt", so der italienische Außenminister Luigi Di Maio.

Der erste Schritt wäre demnach ein Waffenstillstand und die Entmilitarisierung der Frontlinien. Der zweite Punkt besteht in dem Übereinkommen, dass die Ukraine ein neutrales Land bleibt, dessen Sicherheit von einer noch nicht identifizierten Gruppe von Ländern garantiert wird. Die Details sollen auf einer Friedenskonferenz erörtert werden. Der dritte Punkt sieht ein bilaterales Abkommen zwischen Russland und der Ukraine zur Klärung der Zukunft der Krim und des Donbass vor. Dort sollen die kulturellen und sprachlichen Rechte geregelt sowie der freie Personen-, Waren- und Kapitalverkehr garantiert werden.

Ein Ziel könnte sein, dass die Krim und der Donbass nahezu vollständige Autonomie genießen, auch in Verteidigungsfragen, aber formal Teil der Ukraine sein sollen. Der vierte Punkt wäre ein multilaterales Friedensabkommen zwischen der Europäischen Union und Russland, das einen schrittweisen Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine und die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Moskau vorsieht.

Die Regelungen im Istanbul-Format würden also langfristig einem multilateralen Ansatz entsprechen, in dem die Ukraine zur Schnittstelle zwischen EU-Raum und Russischer Föderation wird, möglicherweise zum Vorteil für alle drei Parteien. Allerdings bringen gute Ideen und Konzepte wenig, solange sie niemand durchsetzt.

Natürlich folgte es einer gewissen Logik, dass Mario Draghi zuerst nach Washington fuhr, um diesen zweiten Anlauf für Verhandlungen vorzustellen. Dort wird jedoch jede Verhandlungslösung routinemäßig als "Diktatfrieden" und "Appeasement" gebrandmarkt. US-Präsident, Außenminister und Verteidigungsminister wiederholen in unterschiedlichen Variationen, was auch die amerikanische Botschafterin bei der Nato und frühere Nationale Sicherheitsberaterin von Joe Biden, Julie Smith, in Warschau klarstellte: "Wir wollen eine strategische Niederlage Russlands."

Diese Orientierung auf einen überwältigenden Sieg bzw. langandauernden Konflikt blockiert natürlich jede diplomatische Perspektive, während in der Ukraine weiter gestorben wird und in den EU-Staaten die Kosten in die Höhe schnellen.