Ukraine: Blinken die USA Richtung Rückzug?

Seite 4: Die EU in einer multipolaren Realität

Letztlich finden sich Deutschland und die EU in einer Realität wieder, vor der die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bereits vor drei Jahren gewarnt hat. In ihrem Papier zur strategischen Autonomie Europas wiesen Barbara Lippert und andere darauf hin, dass der internationale Einfluss, den die EU haben könnte, ungenutzt bleibt. Unter anderem müsse die Kommission darauf achten, dass klare Zielmarken für bestimmte Maßnahmen gesetzt werden, sonst bestehe die Gefahr, dass sich "bestimmte Sanktionen zum Dauerzustand entwickeln".

Grenzen europäischer Handlungsfreiheit würden sich auch beim Umgang mit amerikanischen Sanktionen zeigen, welche die "wirtschaftliche und politische Souveränität Europas untergraben". Zu diesem Zeitpunkt zwang die US-Regierung europäische Unternehmen aus dem ihrer Meinung nach "gesamtwirtschaftlich eher unbedeutenden Iran-Geschäft", unterminierte aber schon damit die Glaubwürdigkeit einer europäischen Außenpolitik.

Perspektivisch könnten ähnliche Sanktionen der USA Europas Handlungsspielraum auch gegenüber anderen Ländern einschränken, die die US-Regierung als "Schurkenstaaten" oder strategische Konkurrenten unter Druck zu setzen oder zu bestrafen sucht. Dies beträfe dann die für europäische Wirtschaftsinteressen weitaus wichtigeren Märkte Russland und China.

Barbara Lippert et al., SWP, 2019

Der Kontext der Debatte um strategische Autonomie war damals, dass der republikanische Präsident Donald Trump auch die EU-Staaten und insbesondere Deutschland recht offen als Konkurrenten behandelte. Einerseits nutzten die USA nach Einschätzung der SWP zunehmend die finanzpolitische Verletzbarkeit der Europäer, um mit Sekundärsanktionen "sowohl außenpolitische als auch unternehmerische Interessen Europas zu konterkarieren". Außerdem versuchte die US-Regierung durch Einfuhrzölle auf einzelne Waren die Europäer zu höheren Einfuhren amerikanischer Waren zu bringen. Das betraf etwa die Stahl- und Aluminiumbranche, aber auch die für Deutschland volkswirtschaftlich strategische Autoindustrie.

Eine Reaktion auf die Diskussionen um strategische Autonomie innerhalb der EU war, dass sowohl die außenpolitischen Berater von Donald Trump, aber auch die Außenpolitiker aus dem Biden-Team zu dem Schluss gelangten, man habe die Alliierten in Europa "kontraproduktiv entfremdet". Entsprechend wurden etwa die Strafzölle neu verhandelt.

Ab Januar 2022 wurden die verhängten Sonderzölle auf Stahl und Aluminium aus der EU teilweise und auf Zeit wieder aufgehoben. Präsident Biden wollte die Zölle nicht vollständig zurücknehmen, da auch seine Regierung selbstverständlich die amerikanische Produktion und somit Arbeitsplätze sichern will. Im Gegenzug setzte die EU ihre Zölle auf eine Reihe von amerikanischen Produkten wie Whiskey, Jeans und Harley-Davidson-Motorräder aus.

Nur wenige Wochen später fuhren die Aluminium- und Stahlhersteller in ganz Europa allerdings ihre Produktion runter – wegen der gestiegenen Energiepreise. Als eines der ersten Werke in Deutschland stoppten die Lech-Stahlwerke in Bayern im März die Fertigung. Eine Produktion sei wirtschaftlich nicht sinnvoll, die Situation habe sich durch den Krieg in der Ukraine "dramatisch verschärft". Das Elektrostahlwerk produzierte zuvor nach eigenen Angaben über eine Million Tonnen Stahl jährlich. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl wies darauf hin, dass die Branche etwa 2,1 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr verbraucht, ohne eine gesicherte Versorgung drohen Zwangsabschaltungen.

Dieses Beispiel illustriert, welche Dimensionen zu beachten sind, wenn die EU ihre Interessen in einem multipolaren Umfeld bestimmen will, andererseits weist es auf die übergreifenden Effekte hin, die insbesondere die Energiepolitik zu einem strategisch wichtigen Thema machen. Die enormen Gewinne in diesem Bereich führen natürlich dazu, dass nicht alle beteiligten Akteure eine schnelle diplomatische Regelung des Konfliktes in der Ukraine für sinnvoll halten müssen.

Rot-Grün-Gelb hat energiepolitisch eine ganze Reihe von hastigen Maßnahmen ergriffen, bei denen Zielmarken fehlen, widersprüchlich oder klar kontradiktorisch sind. Der gravierendste Effekt ist sicherlich, dass das unmittelbarste Ziel des Energieembargos gegen Russland nicht erreicht wird, nämlich den russischen Staatshaushalt finanziell einzuschränken. Sogar die zugrundeliegende Annahme, geringere Einnahmen aus Rohstoffexporten würden die militärischen Fähigkeiten eines Staates einschränken, ist schon fragwürdig. Fakt ist, dass die russischen Exporterlöse aufgrund schnell steigender Rohstoffpreise trotz geringeren Absatzes bis auf weiteres zunehmen.

Die energiepolitischen Maßnahmen gegen russische Unternehmen verfehlen hinsichtlich sämtlicher denkbarer Ziele die Wirkung. Weder schaffen sie einen sichere noch eine finanziell günstigere Energieversorgung. Auch unter klimapolitischen Gesichtspunkten sind die Entscheidungen von Rot-Grün-Gelb eine Katastrophe. Den Ansprüchen einer "wertebasierten" oder an Menschenrechten orientierten Außenpolitik genügt der Energieschwenk gleich gar nicht, wenn etwa beim Kohlelieferanten Kolumbien allein in diesem Jahr bereits 86 Menschenrechtsaktivisten ermordet wurden, viele davon in Zusammenhang mit Rohstoffkonflikten.

So führt die hauptsächlich von Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock (beide Grüne) verantwortete Energiepolitik zu zahlreichen merkwürdigen Effekten. Hätte vor wenigen Wochen irgendein Comedian den Sketch aufgelegt, dass Joe Biden der Bundesregierung "erlaubt" Erdöl aus Venezuela zu importieren, hätte das bei Laien sicher für gute Unterhaltung gesorgt.

Aber natürlich profitieren andere Akteure massiv von der widersprüchlichen Energiepolitik der Bundesregierung. Strukturell befindet sich die EU in einer Situation, in der alle größeren Anbieter von Öl und Gas, sowohl Russland als auch die USA, und auch allerlei Lückenfüller wie Indien oder Ägypten, natürlich ein Interesse an hohen Preisen auf dem europäischen Markt haben. Die amerikanische Energiediplomatie arbeitet seit zehn Jahren intensiv daran, die Anteile russischer Unternehmen aus dem lukrativen EU-Markt zu übernehmen. Andererseits produzieren Anbieter aus Übersee aber auch die höchsten Kosten. Nach Angaben der amerikanischen Energieverwaltung (EIA) ist Europa mittlerweile zum wichtigste Abnehmer für US-LNG-Exporte geworden, allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2022 nahmen die EU-Staaten 74 Prozent aller amerikanischen Flüssiggasexporte ab.

Von der Entwicklung profitieren nicht nur amerikanische Unternehmen und Investoren. Kurz nachdem Wirtschaftsminister Habeck die Monarchie Katar besucht hatte, fragten Experten, woher katarische Unternehmen zusätzliche Kapazitäten für Deutschland nehmen sollten. "Wir wollen unsere US-Flüssiggasanlage Golden Pass in Texas, an der Qatar Energy 70 Prozent hält, bereits 2024 so weit haben, dass wir nach Deutschland liefern können", beantwortete Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al Thani die Frage gegenüber dem Handelsblatt.

Das zweite Politikfeld, das dringend hinsichtlich des Status Quo Ante geprüft werden muss, ist sicherlich die Rüstungspolitik. Nachdem die Bundesrepublik über 70 Jahre zu einem unbewaffneten Riesen im Zentrum Europas herangewachsen war, beschlossen Rot-Grün-Gelb kurzerhand ein militärisches Sondervermögen von unglaublichen 100 Milliarden Euro.

Die größten Einzelposten daraus erhalten zunächst die amerikanischen Rüstungshersteller Lockheed Martin für 35 F-35-Kampfflugzeuge und Boeing für 60 H-47 Chinook-Hubschrauber. In den bisher diskutierten Kosten sind Wartung und Bewaffnung noch nicht enthalten, ohnehin müssen die für Waffen und Munition vorgesehenen Steuergelder in Höhe von 20 Milliarden aufaddiert werden. Hinzukommt, dass die Bundesregierung ankündigte, von nun an die "verbindliche Untergrenze" von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Aufrüstung zu investieren, das hätte allein im vergangenen Jahr 2021 mindestens 71,4 Milliarden Euro entsprochen.

Unabhängig von der Frage, wie viele Arbeitsplätze deutsche Steuerzahler in den USA subventionieren, wäre es selbstverständlich sinnvoll, schon jetzt darüber nachzudenken, was Deutschlands Nachbarn in zehn Jahren von einer hochgerüsteten Bundesrepublik halten werden.

Erfahrungsgemäß wird es ihnen gleichgültig sein, welche Gründe Scholz und Baerbock im Frühjahr 2022 für diese Entscheidung öffentlich anführten oder tatsächlich hatten. Nicht nur Länder, deren Politik historisch maßgeblich auf einer Angst vor deutscher Hegemonie in Europa fußt, wie zum Beispiel Großbritannien und Polen, dürften sich bei dem Gedanken unwohl fühlen, einem hochgerüsteten Deutschland gegenüber zu stehen. Stichwort Sicherheitsdilemma.

Allerdings haben die aktuellen Regierungsparteien ihre möglicherweise extrem kurzsichtige Entscheidung, eine gravierende Zäsur in der Sicherheitspolitik Deutschlands herbeizuführen, auch gleich mit einer Grundgesetzänderung abgesichert. Insofern gehören die aktuellen Aufrüstungsbeschlüsse ganz weit oben auf die Liste vom Status Quo Ante Bellum.