Ukraine-Debatte: "Neoheroen" gegen Habermas

Seite 2: Reaktionen auf Habermas: "Zeit, ins Bett zu gehen"

Wer für eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg eintritt, hat mit heftigen Reaktionen zu rechnen. Sie gehen bis zur persönlichen Diffamierung und Herabsetzung, wie sich zuletzt an der Debatte über das Manifest des Friedens von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht bestätigt hat.

Trotz namhafter Unterzeichner und Hunderttausenden, die den Aufruf in einer Online-Petition unterstützen, fiel die Kritik in der Debatte harsch aus.

Als "gewissenlos", "beschönigend und verlogen", bewertete etwa der Politologe Herfried Münkler den Aufruf, dem er eine Komplizenschaft mit dem Aggressor vorwarf. Nun könnte man einwenden – Beleidigungen und Diffamierungen, die eine unsägliche, auf den emotionalen Hund gekommene Debattenkultur (auf der anderen Seite lautet der insistierende Vorwurf "Bellizisten") verraten –, mal ins Off geschoben, dass der Aufruf dankbare Breitseiten für die Angriffe politischer Gegner liefert.

So war man gespannt, was dem Denker Jürgen Habermas, dem simplizistisches Denken keineswegs nachgesagt wird und schon gar nicht, wenn es um Diskurse geht, einfällt, wenn auch er für Verhandlungen eintritt, um das Abschlachten auf dem Kriegsgelände zu beenden. Und wie die Reaktionen auf den "Großintellektuellen" aussehen.

Lange Zeit war Habermas, der den kritischen Spielball der Frankfurter Schule in neuen Zeiten weitergespielt hat, eine wichtige Referenz für den liberalen Diskurs hierzulande in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Jetzt wird sein Text von einer prominenten Osteuropa-Historikerin mit "dämlich" und "Schnodder" auf Twitter, dem Debattenforum unserer Tage, abgefertigt ("Zeit, ins Bett zu gehen"). Im früher dominierenden Debattenforum der reichweitenstarken Medien wird er ebenfalls als altvordern abgekanzelt (Verhandlungen mit Russland? Das mag früher funktioniert haben) und als "apolitisch" bewertet (ein Plädoyer mit mehreren losen Enden.

Die negativen, zum Teil giftigen, Reaktionen, auch auf seinen in Ton, Diktion und Argumentation abwägenden Text von Habermas fallen auf. Das bestärkt den Eindruck, dass der Nachkriegskonsens, mit politischen Mitteln dafür zu sorgen, Kriege zu vermeiden, Geschichte ist.

Der Schritt für Schritt vorgehende Argumentation, die die Nachkriegsgeschichte mit in ihre Erwägung zieht, kann hier nicht wiedergegeben werden. Sie ist auf jeden Fall eine Auseinandersetzung wert. So verlagert der Starnberger Philosoph zum Beispiel die Diskussion darüber, ob der Westen mit den Waffenlieferungen an die Ukraine Kriegspartei ist, auf das Problem, dass die Unterstützer damit eine Mitverantwortung tragen.

Die "Qualitätssteigerung unserer Waffenlieferungen", so warnt Habermas, habe aus der "Perspektive eines Sieges um jeden Preis" eine Eigendynamik entwickelt, "die uns mehr oder weniger unbemerkt über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinaustragen könnte".

Nicht jede Debatte darüber, "wann Parteilichkeit tatsächlich in Parteisein umschlagen könnte", sollte man, "mit dem Argument tottreten, dass man allein schon durch so eine Debatte das Geschäft Russlands betreibe", zitiert Habermas den früheren SZ-Chefredakteur Kurt Kister, der in der Zeitung das Plädoyer für Verhandlungen mit einem Kommentar unterstützt.

Die Gedanken des Philosophen seien im Zeitalter der "neoheorischen Empfindsamkeit" besonders wichtig, assistiert Kister. Der "vorbeugende Charakter rechtzeitiger Verhandlungen" wird von Gegnern dieses Ansatzes allerdings auch in der vorgebrachten Form des Diskursethikers weiterhin prinzipiell als Schwäche gegen Putin oder paternalistische Haltung gegenüber der angegriffenen Ukraine empfunden und beurteilt.

Kritisiert wird auch, dass sich Habermas, der Putin übrigens mehrmals als Aggressor, der sich über das Völkerrecht erhebt, kennzeichnet, bei seinem Plädoyer für Verhandlungen überhaupt nicht zu den Inhalten der Verhandlungen äußert.