Ukraine-Krieg: Awdijiwka operativ eingekesselt

Seite 2: Ukrainische Truppen im Süden abgeschnitten

Um dieses 9. Quartier erobern zu können, müssen russische Truppen die Front im Süden begradigen. Denn dort halten ukrainische Streitkräfte noch den nördlichen Teil der ehemaligen Flugabwehrbasis "Zenit".

Dieser noch gehaltene Teil der alten Militärbasis befand sich auf dem Boden einer Tasche, die etwa 1,3 Kilometer breit und 1,6 Kilometer tief in russisches Gebiet hineinragte – doch erst gestern konnten russische Truppen diese Tasche zu einer Flasche eindrücken, die an ihrem Hals nur noch 700 Meter weit geöffnet ist.

Den Angreifern ist es gelungen, von der nordöstlich gelegenen Einfamilienhaussiedlung in die stark befestigte Datschensiedlung von Norden aus kommend einzubrechen. Damit sind die noch in der alten Militärbasis ausharrenden ukrainischen Truppen vom Nachschub aus dem 9. Quartier vollständig abgeschnitten, denn jetzt kontrollieren russische Kräfte alle Wege, die noch in den südlichen Teil der Flasche hineinführen. Auch in den südlichen Teil der befestigten Datschensiedlung kann nun kein Nachschub mehr gelangen.

Falls es den ukrainischen Truppen nicht gelingen sollte, die russischen Soldaten wieder zurückzudrängen, muss das Gebiet aufgegeben werden. Der Angriff auf das 9. Quartier, die sogenannte Zitadelle, könnte dann beginnen.

Spannungen in der Führung: Folgen der Ablösung von Saluschnyj

Auch wenn es dem Beobachter irrational erscheinen mag: Der ukrainische Präsident Selenskyj will die Stadt verteidigen – und das um jeden Preis. Unter anderem dieser militärische Starrsinn führte zur Entlassung des Fachmanns und Top-Generals Walerij Saluschny.

Der gelernte Jurist Selenskyj mischt sich offenbar immer mehr in die militärischen Belange der Ukraine ein. Saluschny wollte die Front begradigen und die ukrainischen Truppen auf besser ausgebaute und zu verteidigende Stellungen zurückziehen.

Zwar musste sich, wie oben schon genannt, die 110. Mechanisierte Brigade nach zwei Jahren ununterbrochenen Kampf in Awdijiwka jetzt zurückziehen.

Doch der neue Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Oleksandr Syrskyi, soll die Stadt halten, koste es, was es wolle. Das hat er schon einmal versucht, in der für die Ukraine sehr unvorteilhaft verlaufenden Schlacht um Bachmut. Dort hat er die ukrainischen Truppen kommandiert.

Jetzt scheint Syrskyi laut Aussagen des Military Summary Channels mindestens vier Reservebrigaden in und um die vor dem Fall stehende Stadt Awdijiwka geführt zu haben.

Selbst die 153 mechanisierte Brigade scheint sich darunter zu befinden. Diese ist erst im Oktober des vorigen Jahres als strategische Reserve aufgestellt worden. Doch die Brigade hat ein Problem: Es fehlt an adäquater Ausrüstung. Entweder wird sie mit deutschen oder sowjetischen Oldtimern ausgerüstet – keine gute Voraussetzung, um gegen die gut bestückte russische Armee zu bestehen.

Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wird Syrskyi versuchen, das Dorf Krasnohorivka anzugreifen und so die in der Stadt kämpfenden, eignen Truppen zu entlasten. Allerdings ist es für eine solche Operation eigentlich schon zu spät.

Und so verbleibt als Entsatzangriff eigentlich nur noch die Option über die O0542, die innerstädtisch zum jetzt abgeschnittenen Industrialʹnyy Prospekt wird. Aufgrund der drückenden Überlegenheit der russischen Streitkräfte ist die Operation gefährlich.

Forbes befürchtet denn auch ein Blutbad unter den ukrainischen Soldaten. Syrskyi kann zwar Brigaden schicken. Aber er kann seinen Soldaten nicht genügend Munition liefern:

Man kann aber nicht erwarten, dass die Ukrainer plötzlich eine Menge Munition übrig haben. In der Annahme einer langen Periode des zunehmenden amerikanischen Isolationismus und Autoritarismus investieren die europäischen Länder mehr in ihre eigenen Streitkräfte - und das bedeutet, dass sie mehr für die Produktion von Artilleriegranaten und Raketen ausgeben.

Es könnte jedoch viele Monate dauern, bis diese Munition ihren Weg in die Ukraine findet. Wenn also die Republikaner in den Vereinigten Staaten nicht einlenken und die USA irgendwie neue Hilfe für Awdijiwka beschleunigen können, werden die 110. Brigade und alle Einheiten, die sie verstärken, ihre rasch leeren Arsenale weiter abbauen.

Wenn es keine Munition mehr gibt, wird es keine Rolle mehr spielen, ob eine ukrainische Brigade in Awdijiwka steht oder zwei. Und die Entscheidung der ukrainischen Kommandeure, die Stadt zu verstärken, wird im besten Fall hinfällig sein.

Im schlimmsten Fall könnte dies zu einem Blutbad unter den ukrainischen Truppen führen, die versuchen, aus der Stadt, die sie nicht mehr verteidigen können, nach Westen zu fliehen.

Forbes

Bei dem Bemühen der ukrainischen Führung, neue Kräfte nach Awdijwka heranzuführen, hat sich offensichtlich eine schwere Tragödie ereignet. In der Kleinstadt Selydowe wurden anscheinend Truppen zusammengezogen, die etwa der Stärke einer halbe Brigade entsprachen, also ungefähr 1500 Mann.

Angeblich konnte Russland diese massive Truppenkonzentration aufklären und mit Streumunition bekämpfen. Zum Einsatz sollen Iskander-Raketen und Smertsch-Mehrfachraketenwerfer gekommen sein. Selydowe liegt nur rund 22 Kilometer von der Front entfernt, ist also auch durch russische Artillerie gut zu erreichen.

Es könnten bis zu 600 ukrainische Kämpfer getötet worden sein. Sollten sich die Informationen verdichten, dann wäre von einem schweren Fehler des neuen ukrainischen Oberbefehlshabers auszugehen.

Mehr Informationen finden sich auf dem Substack Simplicius The Thinker.

Ein möglicher Kaskadeneffekt?

Die Lage der ukrainischen Truppen in Awdijiwka ist verzweifelt. Durch das vollständige Abschneiden der einzig befahrbaren Straße hat die Führung in Kiew jetzt eigentlich nur noch die Option, ihre Soldaten zu retten – das für die Ukraine so wertvolle schwere Gerät kann sie bereits jetzt nicht mehr evakuieren.

Doch selbst die Evakuierung der bloßen Soldaten ohne Ausrüstung ist aufgrund der massiven russischen Feuer-Überlegenheit gefährlich und hochriskant. Die ukrainische Führung, und hier muss man ganz klar den Präsidenten der Ukraine benennen, der fachfremd einen Haltebefehl gegeben hat, hat den Zeitpunkt verpasst, die Truppen geordnet aus der Stadt zurückzuziehen und die Wehrkraft der dort eingesetzten Streitkräfte zu retten.

Auch die Chancen für einen Gegenangriff stehen schlecht, Russland kann Gegenangriffe der Ukraine mit massiver Feuerwirkung seiner Artillerie und Raketentruppen parieren, und das auf große Entfernung, wie man das an dem vermuteten Schlag gegen die Truppenkonzentration in Selydowe gut sehen kann.

Der Angriff der russischen Truppen auf Awdijiwka, die noch im Oktober stärkste Festung der ukrainischen Front, zeigt die strategische Überlegenheit der russischen Truppen auf dem Schlachtfeld, der die Ukraine gegenwärtig offenbar nichts mehr entgegenzusetzen hat.

Was die anfänglichen russischen Verluste an gepanzerten Fahrzeugen betrifft, so scheinen diese durch die russischen Rüstungskapazitäten leicht zu kompensieren. Zum anderen bedeutet ein Angriff auf derartig stark befestigte Stellungen, wie Awdijiwka dies noch im Oktober war, immer einen gewissen Materialverlust. Und natürlich leider auch an Menschen.

In Medienberichten ist öfter die Behauptung zu lesen, dass die ukrainische Seite zwar Verluste erleidet, Russland aber bis zu zehnmal mehr Soldaten verliert als die Ukraine. Aufgrund der, wie es aussieht, überwältigenden Überlegenheit an Waffen, hier vor allem bei Artillerie, Drohnen und gepanzerten Fahrzeugen, und dem Vorgehen der russischen Kommandeure, relativiert sich diese Einschätzung.

Das führt allerdings zu einer gefährlichen Fehleinschätzung der militärischen Möglichkeiten Russlands. Diese massive Fehleinschätzung hat in Deutschland mit der Vorgängerorganisation des BNDs, dem damaligen Auslandsnachrichtendienstes des Deutschen Reiches, dem Fremde Heere Ost", eine tragische Tradition.

Anscheinend hat die Ukraine trotz zuletzt verstärkter Bemühung es nicht geschafft, ausreichende Verteidigungsstellungen zu bauen. In dem oben bereits zitierten Artikel des Kyiv Independent heißt es:

Die zweite Verteidigungslinie, einige Kilometer hinter der Front, befindet sich nach Angaben von fast einem Dutzend befragter Soldaten noch im Aufbau.

Während Russland seine Verteidigungslinien weiter verstärkte, obwohl es im Winter eine Offensive auf mehreren Achsen startete, scheint die Ukraine wenig getan zu haben, um sich auf eine lange Zermürbungsschlacht während ihrer Gegenoffensive im Sommer vorzubereiten.

Angesichts der derzeitigen Intensität der russischen Angriffe auf die Frontstellungen in Awdijiwka müssen die Soldaten mit dem auskommen, was sie haben, was ihr Leben in erhöhte Gefahr bringt, da sie vor den ständigen russischen Angriffen nicht ausreichend geschützt sind.

Gegenüber dem Kyiv Independent erklärte das Verteidigungsministerium, die Ukraine baue seit 2014 Befestigungsanlagen in der Nähe von Awdjiwka und konzentriere sich seit 2022 auf die am stärksten gefährdeten Gebiete.

Kyiv Independent

Der anfängliche militärische Erfolg der Ukraine gegen den übermächtigen Gegner Russland wird in weiten Teilen dem geschassten General Valery Saluschnyj zugeschrieben. Die immer größer werdende Einmischung Selenskyjs in die für ihn fachfremde Welt der Kriegsführung ist sicher keine gute Nachricht im Hinblick auf künftige militärische Operationen der Ukraine.

Aber sie ist vielleicht eine gute Nachricht für all diejenigen, die sich ein baldiges Kriegsende wünschen. Und das könnte jetzt schneller als erwartet kommen. Denn der jetzt zum Greifen nahe russische militärische Großerfolg ist dazu geeignet, einen Kaskadeneffekt auszulösen.

Die hier zusammengestellten Informationen speisen sich aus folgenden OSINT-Quellen: Weeb Union, Military Summary Channel, Suriyakmap, Deepstatemap, Remilind23, HistoryLegends, simplicius76, Militaryland, Red Fish Bubble 2.1 (geschlossene Gruppe).