Ukraine-Krieg: Die neue Realität nach der US-Kehrtwende

Seite 2: Der Weg zu einem möglichen Frieden

▶ Der Professor für Internationale Beziehungen, Johannes Varwick ,hat auf X jüngst seine Einschätzung wie folgt beschrieben:

Diese Tage sind entscheidend für die Ukraine und für die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur. Alle sollten wissen, was auf dem Spiel steht. Die Europäer haben im Grunde zwei Optionen:
1. Sie versuchen den bisherigen Weg weiter zu gehen und die amerikanische Rolle zu kompensieren, d.h. die Waffenlieferungen zu verstärken und auf einen Sieg der Ukraine zu setzen.
2. Sie schwenken auf die US-Linie ein und versuchen eine diplomatische Lösung mit einen Kompromiss zu bestmöglichen Bedingungen für die Ukraine zu unterstützen. Die erste Option wäre verantwortungs- und aussichtslos, scheinen aber viele zu befürworten. Die zweite Option böte eine Chance für die Ukraine und auch für die europäische Sicherheitsarchitektur. Das ist natürlich alles schwierig zu erreichen, aber mit der neuen US-Linie immerhin möglich. Dabei müsste es:
1. Einen Kompromissfrieden in der Ukraine geben, der sowohl russische als auch ukrainische Interessen berücksichtigt. Dafür liegen eine Menge Pläne auf dem Tisch und das Rad muss nicht neu erfunden werden.
2. Eine grundlegende Neuordnung der europäischen Sicherheit geben, die die NATO-zentrierte Ordnung ablöst durch eine stabile gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, in der gemeinsame Sicherheit, Rüstungskontrolle, vertrauensbildend Maßnahmen und Freihandel miteinander verknüpft werden."

Was sind Ihre Gedanken zu einem möglichen Weg zum Frieden?

Wolfgang Richter: Ich glaube, wenn man jetzt den Frieden will, muss man versuchen, die verschiedenen Konfliktebenen, über die wir gesprochen haben, konzeptionell zu erfassen.

Dann wird auch deutlich, dass man sich nicht darauf beschränken kann, nur Waffen zu liefern, und es Kiew allein überlassen kann, zu verhandeln. Kiew kann über bestimmte Ebenen gar nicht verhandeln, sicherlich nicht über das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland.

Das gilt auch für die künftige europäische Sicherheitsordnung. Gerade in einem konfrontativen Kontext muss es ja in Zukunft eine dauerhafte Regelung zwischen der Nato und Russland geben, wie eine Eskalation verhindert und ein Minimum an Vertrauen wiederhergestellt werden kann.

Dazu braucht man vertrauensbildende Maßnahmen, militärische Transparenz und auch eine gewisse Zurückhaltung bei Übungen oder Flügen im internationalen Luftraum, damit in dieser gespannten Lage nichts Schlimmeres passiert.

Wenn es um territoriale Fragen zwischen der Ukraine und Russland geht, steht natürlich Kiew im Vordergrund eines Verhandlungsstrangs, der allerdings einen Mediator braucht. Im Moment scheint Washington der einzige Mediator zu sein, der infrage kommt.

Die Europäer sind dazu vor dem Krieg nicht in der Lage gewesen, wenn ich an das Minsk-Abkommen denke, und sie sind es auch jetzt nicht, weil sie Verhandlungen lange Zeit abgelehnt und Moskau mit einer konfrontativen Politik herausgefordert haben. Sie werden von Moskau nicht mehr als "ehrliche Makler" akzeptiert.

Ukrainische Minderheiten

Ein weiterer Punkt, der zu regeln ist, ist der Umgang mit denjenigen ukrainischen Minderheiten, die eine andere, eher pro-russische Identität vertreten als die Bevölkerungsmehrheit in der Ukraine.

Auch das gehört mit zur Wiederherstellung der inneren Stabilität. Denn hier reden wir ja nicht von einzelnen Kollaborateuren, sondern von Millionen von Menschen. So haben nach UN-Angaben 2,7 Millionen Ukrainer ihre Zuflucht in Russland gesucht; und über 80.000 kämpfen auf der russischen Seite.

Angesichts solcher Zahlen sollte man die gesellschaftliche Spaltung nicht als "Putin-Narrativ" wegreden. Sie gehört mit in die Aufarbeitung von Konfliktursachen und sollte einen Versöhnungsprozess leiten.

Strategische Interessen Russlands

Ein wesentlicher Punkt für eine Konfliktlösung ist die Frage, inwieweit man den strategischen Interessen Moskaus entspricht, auf ein weiteres Vordringen der Nato nach Osten zu verzichten. Washington scheint dies inzwischen zu akzeptieren.

Aus der Sicht Moskaus geht es nicht nur um den formellen Nato-Beitritt der Ukraine, sondern vor allem auch um die Präsenz westlicher Truppen in der Ukraine. Für Moskau geht es nicht um die Frage, wie viel Ukraine in der Nato ist, sondern darum, wie viel Nato sich schon in der Ukraine befindet.

So hat Selenskyj schon 2021 Verteidigungsabkommen mit zumindest vier Nato-Staaten abgeschlossen, nämlich mit Polen, Litauen und den beiden Atommächten Großbritannien und USA. Etwa 400 Ausbilder dieser Staaten sowie Kanadas trainierten bei Lemberg ukrainische Einheiten; auch westliche Waffenlieferungen gab es schon vor dem Krieg.

Der Einsatz der türkischen Bayraktar-Kampfdrohne gegen Stellungen der Separatisten im Sommer 2021 hatte eine Eskalation an der Donbas-Frontlinie zur Folge. Solche Ereignisse spielten eine Rolle für die Bedrohungsperzeptionen in Moskau.

Wer heute in Europa fordert, Kiew schnellstmöglich Artikel 5-Garantien des Nato-Bündnisses zu geben, notfalls nur für die Gebiete, die unter ukrainischer Regierungskontrolle sind, der hat nicht verstanden, um was es hier eigentlich geht. Aber von dieser Haltung hat sich amerikanische Position unter Trump verabschiedet.

Sicherheitsgarantien

Daraus lassen sich klare Schlussfolgerungen für Sicherheitsgarantien ableiten. (1) Sie müssen die Perzeptionen beider Seiten berücksichtigen. (2) Sie können nicht über die NATO oder die EU laufen. Dies dürfte der eigentliche Knackpunkt für Friedensverhandlungen werden. (3) Moskau versteht Territorialfragen auch als Sicherheitsmaßnahmen.

Die militärische Realität spricht dafür, dass Kiew die Kontrolle bestimmter Gebiete durch Moskau de facto hinnimmt; dies bedeutet den Verzicht auf Gewaltanwendung. Von Kiew wird man aber keine völkerrechtliche Anerkennung erwarten können.

Damit blieben politische Lösungen für die Zukunft offen, aber auch ungeregelt. Letzteres wäre mit einem Restrisiko verbunden.

Dies könnte jedoch aus Moskauer Sicht hingenommen werden, wenn die Ukraine auf den Nato-Beitritt und die Präsenz westlicher Truppen verzichtet.

Dann blieben (4) humanitäre Fragen wie den Austausch von Gefangenen und Gefallenen, die Familienzusammenführung und dergleichen, die aber leichter zu regeln sein werden.

Wenn Sicherheitsgarantien für Kiew durch die Nato oder eine westliche Truppenpräsenz nicht in Frage kommen, stellt sich die Frage nach Alternativen.

Wenn einzelne Staaten bilaterale Beistandsverpflichtungen in einem völkerrechtsverbindlichen Vertrag festschreiben würden, begäben sie sich in die Gefahr, in einen bewaffneten Konflikt verwickelt zu werden.

Dass sie dieses Risiko eingehen würden, halte ich angesichts der instabilen Lage in der Ukraine für unrealistisch.

Möglichkeiten einer Friedenstruppe

Was ich mir aber vorstellen kann, wäre beispielsweise ein Waffenstillstand unter den politischen Bedingungen, die ich genannt habe, der zu einer Truppenentflechtung an der Frontlinie führt.

Dann könnte diese Frontlinie von einer internationalen Friedenstruppe mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates überwacht werden. Daran könnte auch Moskau mitwirken, zumindest dürfte es kein Veto einlegen.

Diese Truppen wären somit politisch und völkerrechtlich legitimiert; sie würden nach politischen und regionalen Kriterien ausgewogen zusammengesetzt werden; und daran könnten dann auch Europäer teilnehmen.

Möglicherweise würde Moskau diese Truppenpräsenz – analog zur Regelung in Georgien – nur auf ukrainischem Gebiet akzeptieren. Sicher würde Moskau jedoch keine europäische Truppenpräsenz unter dem Kommando der EU oder der Nato akzeptieren.

"Friedenslösung geht weit über Territorialfragen in der Ukraine selbst hinaus"

Es geht jedoch nicht nur um Regelungen für die und in der Ukraine. Es geht generell um die künftige Gestaltung der europäischen Sicherheitsordnung. Dabei könnte man auf die Vereinbarungen zurückgreifen, die wir in besseren Zeiten getroffen haben, vor allem im Bereich der Rüstungskontrolle.

Allerdings bedürfen sie der Anpassung an die neue Lage.

Wir müssen überlegen, wie wir in Zukunft wieder eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur schaffen können, die auf einem für beide Seiten akzeptablen Interessenausgleich, dem gegenseitigen Respekt der Sicherheitsinteressen und reziproken, verifizierbaren Zusicherungen beruht.

Und das zeigt schon, wie weit eine wirkliche Friedenslösung entfernt ist. Sie geht eben weit über Territorialfragen in der Ukraine selbst hinaus.

In Teil 2 des Interviews, das am 17. März 2025 erscheint, wird es um die Einschätzung der Gefahr für Europa und Deutschland durch Russland gehen.