Ukraine-Krieg: Drang zum eindeutigen Bekenntnis

Seite 3: Doppelte Maßstäbe

Im Krieg gegen Serbien 1999 hieß es: Ja zum Separatismus des Kosovo! Heute heißt es: Nein zum Separatismus der Krim und der sog. Volksrepubliken Luhansk und Donezk! Bei jedem anderen Konflikt würden dieselben Personen, die jetzt bei der Ukraine so eindeutig Flagge zeigen, eine einfache Täter/Opfer-Unterscheidung infrage stellen. Sie verschließen die Augen vor der ukrainischen Missachtung der Minsker Abkommens, vor den ukrainischen Angriffen auf die abtrünnigen Provinzen im Osten sowie vor der Aggression gegen alle, die den Maidan nicht begrüßten.

Im Unterschied zum russischen Angriffskrieg wären die USA zunächst geschickter vorgegangen. In armen Ländern, deren politischer Kurs der US-Regierung nicht passt, versucht sie, mit viel Geld die Eliten zu beeinflussen und durch NGOs Kampagnen für einen Stimmungsumschwung zu inszenieren. So auch in der Ukraine 2014.

Erst wenn das alles nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt, kommen die Spezialkräfte und die Army. Und dann wird in einer Weise zugeschlagen, die vorn vornherein klarmacht: Widerstand ist zwecklos. Einer niedrigen Schätzung zufolge sind im Irak-Krieg 2003 und an seinen Folgen 500.000 Menschen gestorben (Süddeutsche Zeitung, 16.10. 2013).

Die Politiker der beteiligten westlichen Staaten, die den russischen Angriffskrieg zu Recht als Barbarei bezeichnen, scheinen sich nicht daran erinnern zu wollen, was sie beim Krieg gegen den Irak für legitim hielten.

Erst Russland nachhaltig schwächen, dann kommt China dran – Die neue "Achse des Bösen"

Viele haben gegenwärtig endlich mal wieder ein Feindbild, angesichts dessen alle "Probleme" im freien Westen als kleineres Übel erscheinen. Bei den reaktionären und regressiven Mentalitäten eines großen Anteils der US-Bevölkerung (vgl. z.B. die Trump-Wähler) erblassen Putin und die seinen vor Neid. Trotz aller Propagandakampagnen und mit all ihrer Repression schaffen sie es nicht, sich einer solchen von sich aus aktiven Anhängerschaft zu erfreuen.

Die tiefe innere Misere der Führungsnation des freien Westens erscheint denjenigen als vernachlässigenswert, die eine ganz spezielle Frage für entscheidend halten: Für den freien Westen oder für den Block des autoritären Russlands und Chinas? Es wirkt so beruhigend und befriedigend, die westlichen Sonntagsreden nachzubeten und den Werktag in diesen Ländern auszublenden.

"Möchtest Du etwa in Russland oder China leben?! Wenn nicht, dann reih' Dich gefälligst ein in den globalen Kampf gegen den totalitären chinesisch-russischen Block!" Wer so redet, schließt eine Kritik des vorausgesetzten "Entweder-oder" aus.

Zur Erpressung gehört die Zumutung, im Konflikt sich nur auf eine Seite stellen zu dürfen. Eine dritte oder vierte Position darf es nicht geben. Wer nicht "für Putin" sei, müsse für "die Ukraine" eintreten. Wer begründet, warum der ukrainischen Staatsführung keine Sympathie gebührt, gilt automatisch als fünfte Kolonne Moskaus.

Putins Russland ist gegenwärtig als erste Adresse in aller Munde, wenn es um die Missachtung von Menschenrechten geht. Wer so denkt, muss das Urteil (lebenslang) gegen Osman Kavala in der Türkei ausblenden. Wer wie Paul Mason den autoritären Block von Russland und China als neuen Gegner der zivilisierten westlichen Welt ausmacht (Frankfurter Rundschau, 22.5. 2022), tut so, als gebe es keine mit dem Westen eng verbundenen autoritären Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien, Brasilien u. a.

Nun zum "Rechtsstaat" in Großbritannien und in den USA: Der WikiLeaks-Gründer Julian Assange ist seit über eintausend Tagen im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert. Ihm drohen nach US-amerikanischem Recht 175 Jahre Haft für die Veröffentlichung von Informationen über Kriegsverbrechen. Das "Team Annalena Baerbock" forderte im letzten Bundestagswahlkampf "die sofortige Freilassung von Julian Assange" (abgeordnetenwatch.de, 14. September 2021).

Die gegenwärtige Außenpolitik, die nach eigenem Verständnis "wertegeleitet" und "feministisch" sein soll, verweigert Assange jede Unterstützung. Zu dieser Außenpolitik gehört auch die faktische deutsche Anerkennung der völkerrechtswidrigen Besetzung des Gebiets der Sahauris in Westafrika. Telepolis hat am 1.Juni darüber berichtet.

Ersatzhandlung

Die Unterstützung für den vermeintlichen Kampf der Ukraine für westliche Werte funktioniert nicht ohne einen eigentümlichen Übergang: Die Menschenrechte, der Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie in ihrem Wert zu würdigen, heißt nicht, sie zu verabsolutieren.

Diese Normen und Institutionen schützen uns keineswegs vor der Klimakatastrophe. Sie verhindern keine Situation, die eine Wohnungskündigung in Großstädten wie Hamburg, München und Berlin schnell zur Existenzkrise werden lässt. Sie unterbinden nicht große Schulklassen, "blutige Entlassungen" in Krankenhäusern und Drei-Minuten-Takt in Arztpraxen. Viele tun sich jetzt hervor im Engagement "für die Ukraine", weil sie machtlos sind bei zentralen Fragen, die sie direkt betreffen.

Eine Karikatur im Tagesspiegel vom 1.6. zeigt ein Kampfflugzeug auf der Rollbahn. Der Pilot sagt: "Endlich können wir unsere Kitas, Schulen, Unis, Krankenhäuser, Altenheime, Wohnungen und Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen supergut verteidigen." Eine Figur auf dem Rollfeld antwortet: "Nicht nötig, muss alles eingespart werden!"

Das Ukraine-Thema eignet sich optimal dafür, um von allen Problemen und Zumutungen im "freien Westen" abzulenken. Mit dem Gestus der Entschiedenheit, den die Freunde bedingungsloser Treue zu "der" Ukraine vor sich hertragen wie eine Monstranz, wollen die Betreffenden sich entlasten.

Die Überforderung durch die Komplexität von Problemen und infolge der politischen Ohnmachtserfahrung lassen sich überkompensieren mit einer Eindeutigkeit in puncto Ukraine. Die Ersatzhandlung, die die aufgeplusterten Bekenntnisse "für die Ukraine" darstellen, soll den Eiferern verborgen bleiben.

Der Bellizismus deutscher Ukraine-Unterstützer ermöglicht, alles vergessen zu dürfen: Kritik an der Nato, an militärischer Gewalt als Mittel der Politik, an "Frieden schaffen (ausgerechnet) durch noch mehr Waffen" u. ä. "Ziel echter Hilfe, die die Menschen in der Ukraine dringend benötigen, kann nur sein, dass das Morden, das gegenseitige Sich-Abknallen, Angriff und Verteidigung, Verteidigung und Angriff, so schnell es überhaupt nur geht, aufhören.

Ziel kann nicht sein, einer Partei dabei zu helfen, möglichst viele Gegner zu töten. Echte Hilfe geht nur über "Diplomatie, Vernunft und Einsicht" (Markus Kloeckner). Die geschilderte Stimmungsmache "für den Sieg der Ukraine" trägt zu weiterer Eskalation bei. Sie zu verhindern, wäre das Anliegen des gegenwärtig einzig vernünftigen Engagements.