Ukraine-Krieg: Kursk-Offensive gescheitert

Ukrainische Soldaten. Bild: Eugene Symonenko / Shutterstock.com

Selenskyjs Kursk-Entscheidung schwächt die Ukraine. Truppen fehlen im Donbass, während Russland vorrückt. Steht die Ukraine vor strategischer Sackgasse? Eine Einschätzung.

Die Kursk-Operation sei für die Ukraine von großem Nutzen, bekräftigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntagabend in seiner Abendansprache.

Die zweimonatige Militäroperation in der russischen Oblast Kursk habe der Ukraine entscheidend geholfen, so Selenskyj. Sie beweise die Fähigkeit, den Krieg nach Russland zu tragen. Mit ausreichender Unterstützung der Partner werde man in der Lage sein, Druck auf Russland auszuüben.

Für Selenskyj ist die Frage nach dem Erfolg der Offensive eindeutig zu beantworten: "Etwas, das unserem Land sehr geholfen hat und weiterhin hilft."

Selenskyjs Kursk-Bilanz: Zwischen Hoffnung und harter Realität

Ein Blick auf die Lage in den Kriegsgebieten Kursk und Donbass bestätigt die Botschaft des ukrainischen Präsidenten nicht. Im Gegenteil spricht nach Einschätzung des Autors dieses Beitrags mehreres dafür, dass die Kursk-Offensive als gescheitert betrachtet werden muss.

Die Offensive war vor zwei Monaten überraschend gestartet. Am 6. August drangen ukrainische Truppen ins russische Kernland in der Nähe der Großstadt Kursk ein. Da die russische Führung von dem Vorstoß unvorbereitet getroffen war, konnten ukrainische Kräfte in kurzer Zeit ein vergleichsweise großes Gebiet besetzen.

Bis zum 27. August hatte die ukrainische Armee laut ihrem Oberkommandierenden Olexander Syrskij im Gebiet Kursk 100 Dörfer und knapp 1.300 Quadratkilometer Territorium von Russland eingenommen.

Allerdings gelang es der russischen Armee zwischenzeitlich Schritt für Schritt das Gebiet zurückerobern.

Die Sinnhaftigkeit der Militäroperation wurde von Beginn an in Frage gestellt, die strategischen Ziele waren nicht klar. Vermutlich hatte die ukrainische Führung gehofft, dass die Offensive als eine Art Entsatzangriff dienen könnte, um den Druck auf den Donbass zu verringern, wenn die russische Führung Teile ihrer Angriffsverbände in den Raum Kursk verlegen würde.

Doch dazu ist es nicht gekommen. Nach anfänglichen Erfolgen kam es zu einem Stillstand der Front, jetzt müssen sich die Truppen Kiews gegen russische Gegenangriffe wehren.

In einem YouTube-Video, das auf den Daten von Deep State, Suriyakmaps und Weeb Union basiert, ist der territoriale Verlauf der Offensive im Zeitraffer gut zu erkennen.

Gründe für den russischen Abwehrerfolg

Die Gründe für den russischen Abwehrerfolg sind ein Zusammenspiel gleich mehrerer Faktoren.

Die russische Führung setzte hochmobile, kleine Abfangeinheiten ein, die den schnellen Stößen der ukrainischen, hoch spezialisierten Sabotage- und Aufklärungsgruppen (DRG) entgegen geworfen wurden.

Zusätzlich konnten Drohnen des Typs Lancet viele Abwehrerfolge verbuchen. Außerdem gelang es den ukrainischen Angriffstruppen nicht, trotz einiger anfänglichen Abschusserfolge, die russische Luftfahrt über der Region Kursk zu unterbinden. So waren und sind die ukrainischen Angreifer weiterhin ungeschützt den russischen Gleitbomben ausgesetzt.

Zudem gelang es den russischen Streitkräften, ehemals wirkmächtige westliche Waffensysteme weitestgehend zu neutralisieren, etwa das Himars-System, ein Mehrfachraketenwerfer.

Laut des prorussischen Kanals Armchair Warlord konnte eine signifikante Anzahl an Startgeräten durch russisches Gegenfeuer vernichtet werden.

Wie das US-Magazin The Atlantic berichtet, schafften es die anscheinend der westlichen Technologie überlegenen, russischen Mittel der elektronischen Kriegsführung, die Himars-Raketen nahezu auszuschalten.

Ein Beispiel dafür ist Himars, die Langstreckenraketenartillerie, die von den USA in einem irrsinnig langsamen Tempo bereitgestellt wurde. Vor einem Jahr war Himars das meistgefragte System auf dem Schlachtfeld. Heute liegt die Erfolgsquote bei weniger als 10 Prozent, was auf die russischen Innovationen im Bereich der elektronischen Kampfführung zurückzuführen ist. Jede von Himars abgefeuerte Rakete kostet etwa 100.000 Dollar.

The Atlantic

Verbesserte Waffen- und Gefechtsführungssysteme

Ein weiterer Faktor war der erfolgreiche Einsatz von kleinen FPV-Drohnen mit Glasfaserkabel-Steuerung. Herkömmliche FPV-Drohnen werden mit einer Glasfaserkabel-Spule ausgerüstet, die dann über dieses dünne, sich im Flug ausrollende Kabel gesteuert wird – und damit gänzlich unempfindlich gegen elektronische Störversuche sind.

Dieses neue Waffensystem wurde aufseiten Russlands erstmalig in der Kursk-Region eingesetzt (siehe dazu den Bericht des Fachblogs Bulgarian Military über die neue Drohnentechnologie).

Zuletzt hat die russische Führung offenbar ihr Gefechtsführungssystem entscheidend optimiert, was die Reaktionszeit bei der Feindbekämpfung deutlich verkürzt hat.

Der Prozess von der Zielaufklärung über die Zielzuweisung bis zur endgültigen Bekämpfung wurde offensichtlich erheblich beschleunigt. Diese Verbesserung ermöglicht den russischen Streitkräften, schneller und effizienter auf sich bietende Gelegenheiten zu reagieren.

Folgenschwere Entscheidungen der Ukraine

Die Folgen einer gescheiterten Kursk-Offensive können für die Ukraine verheerend sein. Nicht nur waren gleich mehrere kampfkräftige ukrainische Eliteverbände einer starken Abnutzung ausgesetzt. Schwer zu ersetzendes militärisches Großgerät, oft aus westlichen Waffenlieferungen, ging unwiederbringlich verloren.

Was noch schwerer wiegt: Militärisch konnte sich die ukrainische Armee diese Offensive eigentlich nicht leisten, zu groß war der Mangel an Material und Personal. Dieses musste von anderen Frontabschnitten zusammengezogen werden, weil frische Einsatzreserven oder disponible Angriffsbrigaden nicht in auch nur annähernd großer Anzahl zur Verfügung standen.

Deshalb traf die ukrainische Führung die folgenschwere Entscheidung, die für die Abwehr der russischen Angriffe so wichtigen Truppen im Donbass aus der Front herauszulösen.

Diese Entscheidung könnte sich später als eine der schwersten militärischen Fehlentscheidungen auf Seiten der ukrainischen Führung erweisen. Denn sie hat dazu geführt, dass die in jahrelanger Arbeit gut ausgebauten Abwehrstellungen im Donbass unter dem unverminderten Druck russischer Angriffe aufgegeben werden mussten.

Die Lage im Donbass

Der größte russische Erfolg war die jetzt erfolgte Einnahme der ukrainischen Bergbaustadt Wuhledar, die jahrelang zur Festung ausgebaut wurde, ein wichtiger Eckpfeiler der ukrainischen Armee. Bei Wuhledar stieß die Süd- auf die Ostfront.

Signifikant sind die russischen Gebietsvorstöße in Richtung Pokrowsk. Die Größe der eroberten Gebiete ist unerheblich. Aber der russischen Führung gelang es, durch methodisches Vorgehen wichtige Verteidigungssysteme zu erobern, wie auf der Karte von Weeb Union gut zu erkennen ist: Auf der verlinkten Karte sind die ukrainischen Verteidigungsanlagen in der Farbe gelb kenntlich gemacht. Zu sehen ist im Raum Pokrowsk, dass hinter der ukrainischen Stadt kaum noch nennenswerte Verteidigungsstellungen vorhanden sind.

Die ukrainische Führung scheint sich der Dramatik ihrer Lage langsam bewusst zu werden und versucht laut Angaben des X-Kanals von Clément Molin jetzt, Pokrowsk weiter zu fortifizieren.

Die Offensive in der Region Kursk und die verschärfte Lage im Donbass stehen in einem direkten Zusammenhang. Die für den Vorstoß nach Kursk eingesetzten Truppen und Ressourcen fehlten offenbar an der östlichen Front, was die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine im Donbass massiv beeinträchtigt. Hätte man auf die Kursk-Operation verzichtet, wären möglicherweise mehr Kräfte zur Abwehr des russischen Vormarsches im Osten verfügbar gewesen.

Die Entscheidung, Ressourcen nach Kursk zu verlagern, trug so zu einer dramatischen Zuspitzung der Situation im Donbass bei. Allerdings bleibt unklar, ob eine Konzentration aller Kräfte im Osten den russischen Vormarsch dort hätte stoppen können, angesichts der verbesserten russischen Taktiken und ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit.

Schlüsselfaktoren für russischen Vormarsch in der Region Donezk

Die Washington Post berichtet in ihrer Ausgabe vom 2. Oktober von verbesserten Taktiken der russischen Streitkräfte.

Demnach hätten die russischen Streitkräfte ihre Taktik in mehreren entscheidenden Bereichen verfeinert. Besonders auffällig sei der Übergang zu kleineren Angriffsgruppen von nur vier bis zwanzig Soldaten, im Gegensatz zu den früheren massiven "Fleischangriffen".

Diese kompakten Einheiten seien schwerer zu entdecken und zu bekämpfen, was die Effektivität ukrainischer Drohnen und Artillerie reduziere. Gleichzeitig hätte das russische Militär seine Kommunikationssysteme verbessert, was eine präzisere Koordination der Angriffe ermögliche.

Ein weiterer Schlüsselfaktor ist laut Zeitungsbericht die verstärkte Integration von Artillerie und Drohnenunterstützung. Russische Truppen würden nun gezielter schwere Waffen einsetzen, um ukrainische Stellungen zu schwächen, bevor die Infanterie vorrücke.

Trotz hoher Verluste zeige sich laut Washington Post Russland bereit, ganze Bataillone zu opfern, um Geländegewinne zu erzielen. Diese rücksichtslose, aber effektive Strategie setze die ukrainischen Verteidiger unter enormen Druck.

Ukrainische Soldaten berichteten von gut ausgebildeten und ausgerüsteten russischen Einheiten, die trotz schwerer Verluste immer wieder angriffen, oft unter Androhung von Gewalt oder Haft bei Rückzug oder Kapitulation.

Diese taktischen Verbesserungen, gepaart mit Russlands zahlenmäßiger Überlegenheit und der Bereitschaft, hohe Verluste in Kauf zu nehmen, hätten zu bedeutenden Gebietsgewinnen geführt, insbesondere in der Region Donezk.

Die ukrainischen Streitkräfte, die mit Munitions- und Personalmangel kämpften, sähen sich zunehmend gezwungen, sich aus lange gehaltenen Stellungen zurückzuziehen.

Die Washington Post berichtet zwar hier wieder von den in den westlichen Medien beliebten "Fleischangriffen", allerdings ist hier vieles ungeklärt und offen. Auch Aussagen zu schweren russischen Verlusten müssen hinterfragt werden, zu massiv ist die Überlegenheit der russischen Armee an Abstandswaffen.

Fernwaffen und Artillerie-Vorteil

Ein anschauliches Beispiel für diese Überlegenheit bieten die Bilder der Zerstörungen durch russische Fliegerei und Artillerie von Wolchansk bei Charkow. Den russischen Streitkräften gelingt es dort immer wieder, mit unterlegenen Kräften nicht nur die Stellung zu halten, sondern auch vorzurücken.

Angesichts der deutlichen Überlegenheit bei Fernwaffen scheint es unverständlich, dass die Verluste auf der russischen Seite die des Gegners übersteigen. Besonders muss hier die Information hinzugezogen werden, dass die Waffengattung der Artillerie für den größten Teil aller Verluste an Soldaten verantwortlich ist. Und der oben verlinkte Artikel der Washington Post berichtet von einem Artillerie-Vorteil von 10 zu 1 zugunsten der russischen Streitkräfte.

Und so konnte die russische Armee laut Angaben des X-Kanals "War Mapper" im September netto 468 Quadratkilometer erobern, dem höchsten Wert seit März 2022.

An dieser Stelle wurde schon öfter von einer Möglichkeit eines Kaskadeneffektes geschrieben, bei dem interdependente Verteidigungsstellungen zusammenbrechen. Dieser Effekt könnte jetzt begonnen haben.

Selenskyj will Druck auf Russland erhöhen

Selenskyj hob in seiner Rede besonders den Beitrag zum Gefangenenaustausch, den die Kursk-Offensive geleistet habe: Sie "hilft bei der Freilassung von Ukrainern aus der Gefangenschaft. Das ist wichtig."

Er kündigte an, den Druck auf Russland weiter zu erhöhen.