Ukraine-Krieg: Massive Probleme der Energieversorgung bedrohen Verteidigung
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Ukrainische Rüstungsbetriebe und lebenswichtige Infrastrukturen am Limit. Strategische Luftkampagne Russlands eskaliert. Eine Einschätzung.
Das ukrainische Energieversorgungssystem ist jüngsten Lageberichten zufolge stark beschädigt. Die Ukraine ist demnach zurzeit nicht mehr in der Lage, ihre Bevölkerung und Industrie in ausreichendem Maße mit Energie zu versorgen. Das betrifft ebenfalls die für die weitere Möglichkeit einer Verteidigung so wichtiger Bereiche wie die Rüstungsindustrie.
Stromausfälle
Selbst Großstädte wie etwa Odessa haben für über 20 Stunden keine Elektrizität.
Zurzeit plant der Energieversorger Ukrenergo mit mindestens sechs Stunden Stromunterbrechung pro Tag. Zudem gehen die russischen Angriffe auf das Energienetz, vor allem auf die Energieerzeuger, mit unverminderter Härte aktuell weiter.
Zwar gibt die Ukraine stets den Abschuss einer hohen Prozentzahl an Raketen und Drohnen an, doch steht das im Widerspruch mit der Vernichtung des größeren Teils der ukrainischen Energieversorgung.
Der Telegramm-Kanal der ukrainischen Luftstreitkräfte kann daher nur als vager Indikator für die Intensität der russischen Luftschläge verwendet werden, die Zahlen der dort kommunizierten ukrainischen Abwehrerfolge müssen als "Operationen im Informationsraum" gelesen werden.
In diesem Monat wurden bereits an acht Tagen russische Luftangriffe vermeldet. Die spanische El Pais berichtet, dass die Stromerzeugungskapazität von 55 Gigawatt auf nur 18,3 Gigawatt gefallen sei.
El Pais zitiert Serhiy Nagorniak, einen Vertreter des ukrainischen Nationalen Ausschusses für Energie und Wohnungsbau, mit den Worten, dass die Bevölkerung täglich mindestens 10 Stunden Stromausfall ertragen müsse, wenn die Außentemperatur in der kälteren Jahreszeit auf unter 10 Grad Celsius absinken wird.
Worst-Case-Szenario
In einem Worst-Case-Szenario könnte der Strom sogar bis zu 20 Stunden am Tag ausfallen, wenn das Land seine Energieinfrastruktur nicht reparieren und angemessen gegen russische Angriffe verteidigen kann, erklärte der Geschäftsführer des größten privaten ukrainischen Energieunternehmens DTEK, Dmytro Sakharuk, in einem Interview mit dem Kyiv Independent.
So schreibt der Kyiv Independent über das Worst-Case-Szenario:
In diesem Szenario könnten Großbetriebe ab November, Rüstungsunternehmen ab Dezember und wichtige Infrastrukturen wie Wasser- und Abwassersysteme ab Januar 2025 ohne Strom dastehen, so die Einschätzung des Unternehmens.
"Das kommt der Realität schon sehr nahe. Was die Entwicklung in diesem Winter betrifft, so nähern wir uns diesem Szenario sehr schnell", sagte Sacharuk.
Kyiv Independent
Aber selbst bei einem Best-Case-Szenario würden die Folgen der De-Energetisierung der Ukraine gravierend sein:
Selbst das von DTEK ermittelte Best-Case-Szenario, in dem es keine neuen Angriffe gibt, die Luftverteidigung kritische Anlagen ordnungsgemäß verteidigen kann, die Importe steigen und sowohl DTEK als auch das staatliche Energieunternehmen Centrenergo Reparaturen durchführen können, wäre immer noch mit großen Schwierigkeiten verbunden.
Große Unternehmen wie Metallurgie- und Rüstungsbetriebe könnten zwar mit Strom versorgt werden, aber es gäbe immer noch ein Defizit von bis zu 12 % im Energiesystem. Die Stromausfälle würden wahrscheinlich immer noch bis zu 10 Stunden pro Tag betragen, obwohl sie je nach Schwere der Angriffe auch kürzer sein könnten.
Kyiv Independent
Ist der Verlust von elektrischem Strom für die Zivilbevölkerung im Winter noch irgendwie zu verschmerzen, so ist der Verlust der ukrainischen Wärmekapazität für sie existenziell bedrohlich. Die Wärmeversorgung der Zivilbevölkerung ist in der Ukraine – ein Erbe aus den Zeiten der Sowjetunion – zentralistisch organisiert.
Kraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung
Viele große Kraftwerke des Landes sind mit der energiesparenden Kraft-Wärme-Kopplung ausgestattet, die Abwärme bei der Stromgewinnung wird in ein Fernwärmenetz gespeist, das die Privathaushalte versorgt. Wird die speisende Energiequelle, das Kraftwerk, vernichtet, so fällt auf einen Schlag die Heizung in allen Haushalten der Stadt aus. Zusätzlich ist die für viele industrielle Prozesse notwendige Bereitstellung von Wärme nicht mehr möglich.
Kleinere Generatoren können für diejenigen, die es sich leisten können, den Verlust von elektrischer Energie oder sogar von Wärmeenergie wenigstens zu einem Teil ausgleichen. Für großindustrielle Prozesse ist das allerdings nicht möglich.
Anbindung an das europäische Hochspannungsnetz
Auch die Anbindung an das europäische Hochspannungsnetz ist nicht ausreichend, um den Verlust des nationalen Kraftwerksparks auch nur annähernd auszugleichen.
Nach Angaben des Springer-Magazins Politico beträgt diese zurzeit nur 1,7 Gigawatt und soll bis Ende des Jahres auf 2,2 Gigawatt ausgebaut werden – das entspricht grob der Leistung von zwei Großkraftwerken, die in das Stromnetz der Ukraine eingespeist werden kann – wenn Russland diese Anbindungen nicht ins Visier nimmt. Was nicht wahrscheinlich ist.
Zusätzlich hat sich der Strompreis für Endverbraucher in diesem Monat verdoppelt. Bei einem Durchschnittslohn von nur 439,13 Euro pro Monat im designierten EU-Beitrittskandidatenland Ukraine ist das für viele Haushalte schwer zu bezahlen, auch wenn die Möglichkeit, überhaupt Strom zu beziehen, sehr eingeschränkt ist.
Die Weltbank schätzte bereits im Jahr 2022, dass die Armutsrate von 5,5 Prozent auf 24 Prozent gestiegen ist. Und so wird es für viele Haushalte sehr schwer, sich einen Stromgenerator zu kaufen oder, falls das doch möglich war, den nötigen Betriebsstoff zu erwerben.
Der Zustand vieler der getroffenen Großkraftwerke ist jenseits der Möglichkeit, jemals wieder repariert zu werden, wie etwa das für die Energieversorgung von Kiew so wichtige Kraftwerk Trypillja. Mit seinen sechs Blöcken hatte es eine Kapazität von 1,8 Gigawatt. Am 11. April dieses Jahres wurde es durch mindestens 11 Raketen und wahrscheinlich auch durch Drohnen vollständig zerstört.
Eskalationsstrategie der russischen Angriffe aus der Luft
Die laufende Luftkampagne markiert einen entscheidenden strategischen Wechsel in der Ausrichtung der russischen Führung. Hatte die Luftkampagne 2022/23 noch das Stromnetz zum Ziel, und hier vor allem die schwer zu ersetzenden Netztransformatoren, so zielt die laufende Luftkampagne 2023/24 darauf ab, die Energieerzeuger in der Ukraine vollständig zu zerstören.
Man kann also von einer Eskalation auf russischer Seite sprechen. Statt nur einzelne Raketen einem Ziel zuzuweisen, sieht man jetzt gleich eine ganze Barrage an Raketen, die ein Ziel vernichten, statt nur beschädigen soll.
Stoßrichtung der Kampagne scheint das buchstäbliche Ausschalten der Rüstungsindustrie, Instandsetzungswerke und weiterer Armeeeinrichtungen zu sein.
Rüstungsproduktion in der Ukraine
In den vergangenen Monaten konnte man einen Umbau der Rüstungsindustrie in der Ukraine beobachten: hin zu einem dezentralen Fertigungsansatz. Der Ukraine ist es in Teilen gelungen, eine Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten, in dem sie u.a. die Produktionsstätten verteilt.
So wird etwa die neue ukrainische Radhaubitze Bohdana von 25 Unternehmen an noch mehr Standorten produziert. Damit ist es für die russische Führung schwieriger, die Produktion nachhaltig zu unterbrechen.
Doch alle diese Produktionsschritte an all diesen Standorten über die ganze Ukraine verteilt brauchen Energie. Viel Energie. Ohne sie ist eine reibungslose Produktion nicht möglich. Genau hier setzt also die neue strategische Luftkampagne des russischen Militärs an: das Unterbrechen der Energieversorgung für eine zersplitterte Rüstungsindustrie.
Die Lage wird schwieriger
Die vom Netz genommenen Erzeugerkapazitäten lassen sich nämlich nicht schnell ersetzen, weder durch den Neubau von Kraftwerken noch durch das Bereitstellen von Hilfsanlagen. Mögen Garagenbetriebe, die im Manufakturbetrieb kleine Drohnen zusammenlöten, noch mit handelsüblichen Kleinst-Stromgeneratoren auskommen – eine Radhaubitze lässt sich so nicht fertigen.
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Die Lage der Ukraine wird also schwieriger. Das ist auch der Nato bekannt. Und so versucht man eilig, die verbliebenen Erzeugerkapazitäten zu schützen. Weitere Lieferungen von Patriot-Batterien waren deshalb auch auf dem jüngsten G7-Gipfel in Italien ein Thema, wie der Deutschlandfunk berichtete.
Es soll eine Zusage von fünf Ländern geben, weitere Luftabwehr in die Ukraine zu liefern. Allein Deutschland wolle kurzfristig 100 Patriot-Raketen liefern, wie das Fachmagazin Defencepost schreibt.
Nur: Oft werden pro einkommender russischer Rakete zwei Abwehrraketen eingesetzt, um die Abwehrwahrscheinlichkeit zu erhöhen. 100 Raketen würden also grob etwa 50 angreifenden Raketen entsprechen – das würde ausreichen, um ein bis zwei russische Angriffs-Barragen abzuwehren. Das ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Das Patriot-Problem
Das Problem: Die Nato-Produktion von Anti-Raketen-Raketen ist viel zu gering.
Es klingt erstmal gut für die Ukraine, wenn jetzt einige Länder, darunter die USA und Deutschland erklären, dass sie sie ihre wertvollen Patriot-Batterien an die Ukraine transferieren. Aber was nutzt die Lieferung von Dutzenden weiterer Startgeräte für Patriot-Raketen, wenn es dafür keine Patriot-Raketen zum Starten gibt?
Die Engstellen sind also nicht unbedingt die Startgeräte, sondern die Raketen.
Die Plattform Defencenews gibt die jährliche Produktionsrate von Patriot-Raketen mit 500 pro Jahr an, sie soll auf 550 angehoben werden.
Selbst wenn wir eine Zahl von 550 jährlich hergestellten Patriots annehmen, dann entspricht das einer Monatsproduktion von lediglich knapp 46 Raketen. Zuwenig, um die strategische Luftkampagne Russlands wirksam abzuwehren.
Ein weiteres Nato-System, das ballistische Raketen abwehren kann, ist das europäische SAMP/T. Die hier verschossenen Aster-Raketen kommen laut Hersteller jedoch nur auf eine Produktionsrate von über 20 Stück pro Monat.
Außerdem wird nicht die gesamte Monatsproduktion der Abwehrraketen an die Ukraine geliefert.