Ukraine-Krieg: Nukleare Eskalation unwahrscheinlich – und doch wahrscheinlicher
Seite 4: Die Verlockung der Provokation
Diskussionen unter einflussreichen Experten und sogar bewusste Vorbereitungen auf den Einsatz von Atomwaffen dürften die Wirkung der nuklearen Abschreckung nicht erhöhen.
Die Ukraine und ihre westlichen Partner berücksichtigen bei der Planung von Militäroperationen bereits das Risiko eines Nuklearkrieges - und die Tatsache, dass dieses Risiko relativ gering ist.
US-Präsident Joe Biden hatte dies klar vor Augen, als er einräumte, dass der Einsatz von Atomwaffen durch Russland nicht ausgeschlossen werden könne – er sprach jedoch nicht von der Notwendigkeit außerordentlicher Maßnahmen oder einer Änderung der US-Politik in Bezug auf den Krieg in der Ukraine.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Bedrohungen für das Überleben Russlands so schwer fassbar und die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes so unmittelbar und schwerwiegend sind, dass sie zusammengenommen gute Gründe dafür liefern, sich zu fragen, ob ein solcher Schlag überhaupt angeordnet werden würde.
Im Zuge des Prigoschin-Aufstandes ist deutlich geworden, dass sich einige russische Sicherheitskräfte und möglicherweise auch zivile Beamte in Krisensituationen nicht immer an die wortgenauen Vorgaben ihrer Aufgabenbeschreibung gehalten haben.
Ferner zeigt die Wirksamkeit der ukrainischen Luftabwehr zum Schutz von Städten und wichtigen Einrichtungen, dass selbst das Erreichen von Zielen in der Ukraine (geschweige denn in Nato-Staaten) mit einer Hyperschallrakete zumindest nicht garantiert ist.
Doch dies bringt auch eine unangenehme Wahrheit mit sich. Unter solchen Bedingungen kann man nur mit wirklich riskanten Aktionen versuchen, "die Angst zurückzubringen". Zum Beispiel durch die Provokation einer vermeintlich zufälligen nuklearen Explosion in der Nähe eines Kriegsschauplatzes etwa oder durch die Durchführung eines gewaltigen atmosphärischen Nukleartests in einem abgelegenen Gebiet.
In einer Zeit, in der sich Experten fast einig sind, dass Putins Reaktion auf den gescheiterten Putsch eine deutliche Schwäche gezeigt hat, mag die Versuchung zur Eskalation besonders groß sein.
Eine solche Politik des äußersten Risikos – im Englischen als Brinkmanship bezeichnet –, führt in einer Spannungssituation aber grundsätzlich zu einer erheblichen, also mindestens 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit eines atomaren Schlagabtauschs.
Die Ereignisse könnten sehr wohl außer Kontrolle geraten. Das hätte mindestens die zuvor beschriebenen sozialen Folgen. Im schlechtesten Fall würden sie zu einer echten Katastrophe führen, die von eben jenen russischen Experten prognostiziert wird, die sich gegen eine Rückkehr zur Politik der nuklearen Abschreckung aussprechen.
Dieser Beitrag erschien zuerst beim exilrussischen Portal Meduza.
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