Ukraine: Metal - Alternative oder Apokalypse?

Seite 3: Quo vadis Ukraine?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Es ist keine große Erkenntnis, dass Musikgruppen ein entsprechendes Umfeld zur Entfaltung benötigen. Andererseits gibt sich Extreme Metal häufig apolitisch oder überlegt unüberlegt (der bereits genannte Musiksoziologe Kahn-Harris nennt dies "reflexive anti-reflexivity"). Alle drei interviewten Bands nehmen die aktuelle Krise nicht nur für das eigene kreative Vorankommen, sondern auch im erweiterten Kontext als bedrohlich wahr.

Ein zweiter Blick eröffnet zumindest bei zwei genannten Bands - Drudkh und Khors - einen Anteil am Selbstbild der Ukraine. Erstere geben keine Interviews; die zweiten sehen durchaus eine Option der kulturellen Mitarbeit, wenn auch diese Musik in der Ukraine über keine mediale Öffentlichkeit verfügt. Ganz im Gegenteil hierzu Deutschland: am 1. August wurde auf dem Kultursender 3sat ein vierstündiges Special zum Wacken-Festival ausgestrahlt. Metal hat längst die (deutschen) Medien erreicht.

Popmusik, die am Eurovision Song Contest teilnimmt, hat da schon andere Konsequenzen im Transformationsprozess der Ukraine.

Als am 21. Mai 2005 der 50. Eurovision Song Contest in Kiev ausgetragen wurde, hatte die Orange Revolution bereits gesiegt. [...] Dem Land bot sich die Gelegenheit, Europa, wenn nicht gar der Welt (die Veranstaltung gehört zu den meistgesehenen weltweit) eine nicht nur musikalische Visitenkarte zu überreichen. Schon die perfekte Organisation und Durchführung der Veranstaltung selbst entsprach in jeder Hinsicht den Ansprüchen der Eurovisions-Zentrale. [...]

Durch die Sendung führte u.a. die Vorjahressiegerin Ruslana sowie die lange Zeit wohl populärsten Ukrainer weltweit - neben dem Fußballstar Andrij Ševčenko -, die boxenden Brüder Vladimir und Vitali Kličko. Beide waren bekennende Anhänger der Orangen Revolution. Von der Euphorie der letzten Monate war selbst vor den heimischen Fernsehgeräten noch einiges zu spüren. Das Spektakel wurde in ein oranges und blau-gelbes Lichtermeer getaucht. Präsident Juščenko höchstpersönlich überreichte der Siegerin, der Griechin Elena Paparizou, die Trophäe.

Die ukrainischen Vertreter, die Gruppe "Greenjolly", konnten Ruslanas Triumph des Vorjahres nicht wiederholen, erreichten aber immerhin einen mittleren Platz. Die aus dem westukrainischen Ivano-Frankivsk stammenden Musiker hatten ihren Beitrag "Razom nas bahato, nas ne podolaty" ("Zusammen sind wir viele, wir sind nicht zu besiegen") Ende 2004 unter dem Eindruck des "Wahlkrimis" verfasst. Schnell avancierte das Lied, das eine Parole Juščenkos zum Titel hatte, zur "Hymne der Orangen Revolution", und mit ihm gewann man die nationale Vorausscheidung. Leicht gedämpft gelang das revolutionäre Feuer des ukrainischen Beitrags in europäische Wohnzimmer, denn auf Wunsch der Eurovisionszentrale musste der politische Gehalt des Liedes abgemildert werden, insbesondere das Bekenntnis zum neuen Präsidenten fehlte bei dem u.a. in englischer Sprache präsentierten Auftritt. Dennoch konnte die performance als deutliches politisches und nationales Bekenntnis gelesen werden.

Kerstin S. Jobst

Diese Engführung von Parteipolitik und Popkultur wäre für Extreme-Metal-Verhältnisse in diesem Ausmaß unvorstellbar. Der Eurovision Song Contest macht durchaus Erfahrungen mit härteren Tönen, wie der Sieg der Finnen Lordi in Monstergarnitur im Jahr 2006 beweist. Aber in einem osteuropäischen Land eine Band wie Khors mit ihrer Single "My Cossack Way" und in historisierenden Reiterkostümen beim ESC antreten zu lassen, liegt völlig im Bereich des Unmöglichen - bislang noch. Die Metalbands agieren im Spezialbereich ihrer Kultur. Durch die Orientierung auf internationale Märkte besitzen sie mehr Attraktivität außerhalb der ukrainischen Landesgrenzen. Sind sie also Botschafter einer kulturell flexiblen Ukraine? Zum Teil durchaus.

Bestehende Rollenmuster aus der Extreme-Metal-Szene werden aufgegriffen, wodurch sich Apostate, Khors und Quintessence Mystica nicht von Bands aus Deutschland, Frankreich oder Nepal unterscheiden. Metal ist kein genuin nationales Produkt, jedoch befürworten manche Bands lokale Differenzierungen.

Der Extreme Metal - ein stehender Oberbegriff - nimmt sich als harmlos aus. Allein die Lage erschwert die Organisation des Bandalltags. Das "Extreme" im Extreme Metal bezieht sich auf den Sound. Bands wie Drudkh und Khors jedoch greifen Themen der ukrainischen Geschichte auf und verarbeiten diese zu Metaphern des ukrainischen Nationalstaats. Metaphern positionieren sich und wer sie gebraucht, setzt sich selbst in einen Kontext, der je nach Zeit und Ort verschiedene Implikationen mit sich trägt. Kurzum: über Drachen und Wikinger zu gröhlen, entbindet nicht von der Welt. Ob man hierfür Verantwortung übernimmt, steht auf einem anderen Blatt.

Extreme Metal ist nicht allein Faszination am Sound. Er ist auch Sprachrohr der Musiker. Ihr Aggressionsschrei gegen die Gegenwart. Apostate wollen rocken, bald hoffentlich auch in Westeuropa. Khors bilden einen heidnischen Nationalmythos, kriegerisch, jedoch imaginär. Und Quintessence Mystica konzentrieren sich aufs Studio, um dort klassisch ausgebildet den Mysterien des ewigen Menschen auf die Spur zu kommen. Die Zeit wird zeigen, wie sie sich in der Ukraine halten können.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.