Ukraine: Turtschinow befiehlt Sonderoperation gegen "Terroristen" im Südosten

Deeskalation hat kaum eine Chance im Sog militärischer geprägter Handlungsfolgen

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Der Konflikt in der Ukraine gerät zunehmend in den Sog militärisch geprägter Handlungsfolgen. Der nicht vom Volk, sondern vom Parlament in Kiew unter fragwürdigen Umständen eingesetzte Übergangspräsident Turtschinow hat gestern eine Sonderoperation gegen - je nach Perspektive - Separatisten oder Föderalisten im Osten des Landes angeordnet. Er versteht sie als "Anti-Terrormaßnahmen".

Turtschinow fordert "effektive Anti-Terror-Maßnahmen mit dem Ziel, ukrainische Bürger im Osten des Landes vor Terroristen zu schützen".

Anlaß für die Wiederaufnahme des Militäreinsatzes, der während des Besuchs des US-Vizepräsidenten Biden über Ostern ausgesetzt worden war, sei der Fund von zwei Leichen in einem Fluß bei der Stadt Slawjansk, die derzeit im Zentrum der sich zuspitzenden Krise steht. Eine der Leichen wurde vom Innenministerium in Kiew als Stadtrat Wladimir Rybak identifiziert. Der Mann galt seit dem 17. April vermisst. Die zweite Leiche wurde noch nicht identifiziert.

Zwei Leichen und ein großer Schuldiger

Nach Aussagen der Kriminalermittler des Innenministeriums habe man bei beiden die gleiche Todesursache festgestellt: Ertränken. Auch seien bei beiden Leichen Folterspuren zu erkennen. Maskierte Männer sollen Rybak, der wie Turtschinow und Timoschenko der Partei Allukrainische Vereinigung "Vaterland" (Batkiwschtschyna) angehörte, am 17. April mit einem Auto verschleppt haben. Zuvor soll Rybak in Horliwka verlangt haben, dass die Fahne der "Republik Donezk" vom Rathaus der Stadt abgehängt werde.

Für Turtschinow liegt der Fall klar, die Schuldigen sind ausgemacht:

Die Terroristen, die die ganze Region Donezk als Geisel genommen haben, sind damit zu weit gegangen, als sie damit angefangen haben, ukrainische Patrioten zu foltern und zu töten. Diese Verbrechen werden mit der vollen Unterstützung der russischen Föderation begangen.

Freilich könnte Turtschinow auch anders reagieren, nämlich zurückhaltender, wenn es ihm um Deeskalation ginge. Wie es derzeit aussieht, wird dem Großteil der Bevölkerung daran gelegen sein, nicht aber den politischen Akteuren, die in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.

So fordert etwa der amerikanische Außenminister Kerry Deeskalation, verknüpft aber die Forderung mit der Schuldzuweisung Richtung Russland. Seinem Amtskollegen Lawrow gegenüber habe er sich "zutiefst besorgt über den Mangel an positiven russischen Schritten zur Deeskalation" gezeigt. Diese Rethorik ist schon seit längerem zu beobachten. Auch Nato-Chef Rasmussen startete in den vergangenen Wochen vor Kameras mit einem Plädoyer für Deeskalation, um in den nächsten Sätzen jedesmal auszuführen, dass man auf Bedrohungen scharf reagieren werde.

Prowestliche und westliche Seite: Wenig Beweise für den Willen zur Deeskalation

Wie die Deeskalation von prowestlicher und westlicher Seite aussieht, dafür hat man noch wenig Beweise des politischen Willens vorgelegt, dass Politiker aus Kiew und Washington selbst Bedrohungsszenarien aufbauen, wird unter dem Spin der aggressiv ausgerichteten Politik Putins verborgen.

Als "Antwort auf Russlands kürzliche Aktionen in der Ukraine" will das Pentagon laut Sprecher Konteradmiral John Kirby 600 Soldaten nach Polen und in die baltischen Länder schicken - für Militärübungen. Kirby betonte, dass Russlands Agression in der Ukraine den Ausschlag für die bilateralen Übungen gegeben hätten. In der Pressekonferenz wurde präzisiert - mit dem Hinweis, dass man vorhaben in der nächsten Zeit noch weitere Manöver in Osteuropa abzuhalten.

Eine 150 Mann starke Kompanie der in Italien stationierten 173. Luftlandebrigade der USA trifft am Mittwoch in Polen ein. Die anderen 450 Militärs werden in den nächsten Tagen nach Estland, Lettland und Litauen umdisloziert.

Das Genfer Abkommen, konzipiert als politische Vereinbarung zur Beruhigung der Lage, wurde alsbald vom Streit, auch innerhalb der Kiewer Fraktionen, unterminiert (Ukraine: Streit um Auslegung des Genfer Abkommens). Ob sich seine politische Relevanz gegen die Konflikt-Dynamik behaupten kann, ist sehr ungewiss. Der russische Außenminister Lawrow drängt auf Einhaltung der Abmachungen: vor allem die Entwaffnung des Rechten Sektors und anderer "ultranationalistischer Formationen".

Russland: Lizenz zum Eingreifen

Die "Anti-Terrormaßnahmen" Turtschinows werden von Lawrow als Einsatz der Armee "gegen den Bevölkerung" bezeichnet. Diese Sprachregelung beinhaltet die Lizenz zu Gegenmaßnahmen, russische Truppen, die zur Hilfe der Bevölkerung eingreifen können (vgl. Die Schießerei in Slawjansk und die Propagandamaschine).

Die Verstrickung russischer Kräfte in den Aktionen Aufständischer ist unklar. Die bislang aufgeführten Nachweise, aufgrund von Fotos, die gestern nach Veröffentlichung durch das US-Außenministerium in der Medienöffentlichkeit kreisten, sind angesichts der Ernsthaftigkeit der Lage eher lächerlich, selbst westliche Medien wiesen daraufhin.

Dass Russland seine Ansprüche nicht auch mit verdeckten Mitteln durchzusetzen oder zu wahren versucht, wäre allerdings eine erstaunliche und unplausible Vernachlässigung der Bewahrung historischer Interessen, die mit der Ukraine verknüpft sind1. In westlichen Medien wird dazu herausgehoben, dass Putin selbst das Eingreifen der russischen Armee auf der Krim eingeräumt habe.

Kerry fordert nun seinerseits Russland auf, für die Entwaffnung der aufständischen Aktivisten im Südosten der Ukraine zu sorgen - verknüpft mit der Drohung neuer Sanktionen, "falls es es bei der Umsetzung der Genfer Abkommen keine Fortschritte gebe".

Was will die EU?

Wo liegt der Ausweg aus dieser Konfliktstrategie, die die Verantwortung für die Eskalation jeweils der anderen Seite zuweist und bei der jeder Vorfall, von einzelnen Personen ausgelöst, die angestaute Ladung zum Bersten bringen kann?

Dass die OSZE-Beobachtermission, die angeblich auf 500 Experten aufgestockt wird, für beruhigende Gegenimpulse sorgen könnte, ist nur eine schwache Hoffnung in einem Moment, wo die Kriegsrethorik das Kommando übernommen hat.

Dabei bleibt aus europäischer Sicht die Frage unbeantwortet, warum man im strategischen Interesse der USA für die Anbindung des Landes an die EU das hohe Risiko einer kriegerischen Esakalation eingeht, obwohl die Ukraine nach Stand der Dinge ein weiterer Schuldenstaat in der Gemeinschaft wäre - und damit aussichtsreiche Wirtschaftsbeziehungen zu Russland aufs Spiel zu setzen bereit ist.