Ukraine: Wer will den Krieg?

Seite 2: Ein Anschlag auf die Selbstbestimmung der Völker

Die USA und Deutschland signalisieren als Reaktion auf die Vorschläge Russlands Gesprächsbereitschaft: "Auch die hochrangige US-Diplomatin Karin Donfried hatte am Dienstag erklärt, dass sie auf Gespräche im Januar hoffe… In Berlin erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit, Deutschland sei zu allen Gesprächsformaten bereit, um zur Deeskalation beizutragen." (SZ, 23.12.21)

Gleichzeitig wird vermeldet, dass die Nato ihre Truppen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt hat und damit den Konflikt weiter anheizt. Gesprächsbereitschaft heißt also nicht, dass die Vorschläge der Gegenseite in irgendeiner Form akzeptiert würden.

Als Grund für die erhöhte Alarmbereitschaft, wird der Aufmarsch der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine angeführt, wobei die angegebenen Zahlen ziemlich schwanken – von 100.000 bis zu 175.000 Soldaten ist die Rede.

Zweifel an der Qualität der Nato-Aufklärung sollen einem dabei nicht kommen. Es ist offenbar egal, was die Russen dort treiben, das Urteil der Nato steht in jedem Fall fest: Jeder Aufmarsch von Truppen in Russland in der Nähe der Ukraine wird so behandelt, als ob die Ukraine bereits ein Teil der Nato sei. Militärisch verteidigen will die Nato das Gebiet der Ukraine zwar nicht, aber Moskau werden massive wirtschaftliche Sanktionen angedroht:

Jede weitere militärische Aggression werde "massive Konsequenzen und hohe Kosten" zur Folge haben. Die genannten Strafmaßnahmen werden nicht näher beschrieben: Erwogen werden Sanktionen gegen Staatsunternehmen und Oligarchen aus dem Umfeld von Präsident Wladimir Putin; zudem könnte Russland aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem Swift ausgeschlossen werden.

SZ, 18./19.12.21

Der Ausschluss vom internationalen Zahlungsverkehrssystem wäre gleichbedeutend mit dem Ausschluss vom Welthandel überhaupt und würde nicht nur Russland schwer treffen, sondern auch seine Handelspartner wie Deutschland. Immerhin beträgt der Handel mit Russland zwei Prozent des deutschen Exports und deutsche Unternehmen sind mit 20 Milliarden Euro Direktinvestitionen auf dem russischen Markt präsent.

Ganz unbeeindruckt von allen Drohungen und russischen Reaktionen wird die Ukraine mit Waffenlieferungen aufgerüstet. Dabei betrifft die erhöhte Alarmbereitschaft der Nato-Truppen nicht irgendeine Einheit, sondern die Militärteile, die unmittelbar für den Einsatz an Russlands Grenzen im Baltikum vorgesehen sind. Als Begründung für die Frontstellung der Nato gilt die Annexion der Krim durch Russland:

Das Jahr 2014, in dem Russland völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim annektiert und die Separatisten im bis heute andauernden Krieg in der Ostukraine unterstützt hat, gilt in der Nato als Wendepunkt.

SZ, 23.12.21

Was da als Grund referiert wird, könnte Zweifel hervorrufen (natürlich nicht bei verantwortungsbewussten Redakteuren aus München): Schließlich wurde nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes das "Verteidigungsbündnis" Nato nicht aufgelöst, sondern schrittweise nach Osten hin erweitert. Das war natürlich keine Annexion, sondern nur eine Integration in eine Schicksalsgemeinschaft, der gelegentlich mit wirtschaftlichem und politischem Druck nachgeholfen werden musste.

Beschworen wird von den Nato-Staaten häufig die "Unverletzlichkeit der Grenzen" in Europa (Olaf Scholz, SZ 23.12.21) – ein Prinzip, gegen das Russland mit der Annexion der Krim verstoßen haben soll, als es sich seinen Militärhafen auf der Krim sicherte. Zweifel an diesem beschworenen Prinzip kommen keinem Kommentator, obgleich es jetzt von Staaten bemüht wird, die seinerzeit die Grenzen auf dem Balkan mit der Zerstörung des Staates Jugoslawien grundlegend neu gezogen haben.

Dass die neuen Grenzen dort dem Wunsch nach Selbstbestimmung der Menschen geschuldet seien, gilt hierzulande als nicht zu bezweifelnde Tatsache. Da stört es auch nicht, dass zu ihrer Sicherung immer noch ein hoher Kommissar die Einhaltung des Grenzregimes überprüft und dafür die Präsenz der Bundeswehr auf dem Balkan braucht. Dass viele Völkerschaften damit gar nicht einverstanden sind – wie zuletzt wieder in Bosnien, wo das Ding auseinanderzufliegen droht –, fällt unter deren Unbelehrbarkeit: Hier bestimmen eben wirkliche Weltmächte, wann und wo Grenzen unverletzlich sind.

Die Forderung Russlands, keine weiteren Staaten und vor allem nicht die Ukraine in die Nato aufzunehmen, also die Frontlinie nicht näher an Russlands Grenzen zu verschieben, wird von der Nato zurückgewiesen:

Dass Putins Forderung, die Nato solle erklären, die Ukraine sowie Georgien nie aufzunehmen, für deren 30 Mitglieder inakzeptabel ist, stellte Stoltenberg in der Pressekonferenz klar: "Wir werden keine Kompromisse machen, wenn es darum geht, dass jedes europäische Land über seinen Weg frei entscheiden kann. Das gilt auch für die Ukraine".

SZ, 23.12.21

Was heißt hier "frei entscheiden"? Putin hat sich ja nicht an die Ukraine gewandt und dieser etwas verboten. Vielmehr hat er die USA und die Nato aufgefordert, einen eventuellen Aufnahmeantrag abzulehnen. Schließlich ist es ja nicht so, dass dieser Staatenbund einfach jedem Aufnahmeantrag stattgeben würde, weil er gestellt wird. Und auch die EU behält sich vor, zu entscheiden, wen sie aufnimmt und wen nicht.

Im Fall der Ablehnung einer Aufnahme in die Nato will das Staatenbündnis nun plötzlich einen Verstoß gegen die Selbstbestimmung von Staaten entdecken. Ihm ist nämlich daran gelegen, sich die Option des Beitritts offenzuhalten, und es ist bereit, den Konflikt mit Russland weiter zu eskalieren.

Deutsche Drangsale

Soweit zeigt der Westen klare Kante, wie von Kommentatoren immer gefordert, und das einheitlich. Mit seinen Vorschlägen für Verträge mit den USA und der Nato hat Putin aber Deutschland ins Abseits gestellt:

Berlin droht die Führung über die Verhandlungen im Ukraine-Konflikt zu verlieren und steht damit vor einer neuen Niederlage im Einflusskampf gegen Washington. Hintergrund ist, dass US-Präsident Joe Biden in der vergangenen Woche angekündigt hat, Washington werde seinerseits Gespräche mit Moskau aufnehmen, um "die Temperatur an der östlichen Front zu senken". Dies hat zu wütenden Reaktionen geführt: Der Plan sei für Brüssel, das nicht eingebunden sei, "eine gewaltige Demütigung", gegen die die EU "in aller Härte ihren Gestaltungsanspruch deutlich machen" müsse, hieß es in einer führenden deutschen Tageszeitung.

Mit dem sogenannten Normandie-Format, das Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine umfasst, hatten sich die europäischen Staaten zu Aufsichtsmächten im Streit zwischen Russland und der Ukraine aufgeschwungen – und dabei die USA außen vor gelassen. Das Ergebnis war das Minsker-Abkommen. In ihm wurde geregelt, was die Ukraine und die abgespaltenen Regionen, Volksrepublik Luhansk und Volksrepublik Donezk, zu leisten haben.

Die Vereinbarung umfasst 13 Punkte, so die Vereinbarung über einen Waffenstillstand, den Abzug schwerer Waffen, die Amnestie der separatistischen Kämpfer, Autonomieregelungen für die Gebiete Luhansk und Donezk, eine entsprechende Verfassungsänderung der Ukraine und die Durchführung von Wahlen in den Autonomiegebieten. Was im Endeffekt heißt: Wiedererrichtung der Souveränität der Ukraine über ihre Außengrenzen.

Das Minsker Abkommen ist allerdings ein seltsames Gebilde: Formal sind die Ukraine und die Volksrepubliken Luhansk und Donezk die Vertragspartner. Die Volksrepubliken werden aber nicht von der Ukraine anerkannt, und sie waren beim Abschluss der Vereinbarung auch nicht präsent und sind nicht im Normandie-Format vertreten. Praktisch werden sie von Russland vertreten, das aber nicht Vertragspartner ist, sondern sich wie Deutschland und Frankreich als Aufsichtsmacht über das Abkommen versteht.

Auch der Inhalt des Abkommens verlangt den Vertragsparteien einiges ab. Nach einem Waffenstillstand und dem Rückzug von schweren Waffen soll die Ukraine mit den Separatisten Gespräche aufnehmen, sie anerkennen. Dies kommt der Aufgabe eines Stückes ihrer Souveränität gleich.

Die Gespräche sollen aber zu einer Autonomieregelung für die Regionen führen, was wiederum von den Volksrepubliken die Aufgabe ihres Souveränitätsanspruchs erfordern würde. Das soll im Ergebnis zu einer erneuten Eingliederung in die Ukraine führen, die so ihre Souveränität wiederhergestellt sähe, wobei sie mit dem Abkommen akzeptieren müsste, wie ihr Staatsgebilde in Zukunft aussehen soll.

Seit dem Abschluss der Minsker Vereinbarung gibt es einen Streit darüber, wer in welchem Umfang den Vertrag nicht einhält oder offensiv bricht. Verhandlungen über einen Autonomiestatus hat es bislang nicht gegeben, ebenso lehnt die Ukraine eine Verfassungsänderung und eine Amnestie für die Kämpfer der Separatisten ab, verweist vielmehr darauf, dass die Voraussetzungen – die Einhaltung des Waffenstillstandes und der Abzug schwerer Waffen – nicht erfüllt sind, wobei dasselbe auch auf Seiten der Ukraine feststellbar ist.

Während Deutschland und Frankreich immer wieder Russland dafür kritisieren, dass es nichts unternehme, um die Separatisten zur Einhaltung des Minsker Vertrages zu bewegen, vermisst Russland jede Initiative Deutschlands und Frankreichs, entsprechende Aktivitäten von der ukrainischen Regierung zu verlangen.

Bei der letzten Einladung zum Treffen im Normandie-Format kam es dann zum Eklat, weil Russland darauf bestand, dass das Treffen die Ukraine auffordern sollte, ihre Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen zu erfüllen. Dies wurde von Deutschland, Frankreich und der Ukraine abgelehnt – und damit das Abkommen aufgekündigt.

Schon wieder: mehr deutsche Verantwortung!

Wenn nun deutsche Politiker wie Außenministerin Baerbock oder Kanzler Scholz immer wieder ihre Bereitschaft betonen, den Ukraine Konflikt im Rahmen des Normandie-Formats zu besprechen, dann hat dies einen doppelten Sinn. Zum einen verlangen sie damit, dass die bestehende Regelung hinfällig ist und Russland sich zu einer Neuverhandlung bereit erklären soll.

Zum anderen wollen sie den Konflikt wieder in europäischer Regie regeln und die USA weiter außen vorhalten, was aber von wenig Erfolg gekrönt sein dürfte. Schließlich haben die USA während der letzten Jahre die Regierung in der Ukraine in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Abkommen und in ihrer Gegnerschaft gegenüber Russland bestärkt und weiter aufgerüstet.

Damit wurde das Abkommen konterkariert und für Russland das Festhalten am Normandie-Format eine Sache von nachrangiger Bedeutung. Deshalb die Initiative in Richtung USA und Nato, die Europa und damit Deutschland ins Abseits stellt.

Zufrieden geben sich deutsche Politiker damit nicht, sondern setzen alle Hebel in Bewegung, deutlich zu machen, dass sie in der Auseinandersetzung mit Russland eine wichtige Rolle spielen, was nicht heißt, dass sie damit zur Deeskalation beitragen:

Für Litauen ist die Bundeswehr zuständig. Am Wochenende meldete der Spiegel, dass Oberbefehlshaber Wolters vorgeschlagen habe, ähnliche Verbände in Rumänien und Bulgarien aufzubauen. Zumindest Bulgarien lehnt dies ab.

SZ, 23.12.21

So entdecken deutsche Militärs, die in der Regel nicht ohne politische Abstimmung handeln, Verteidigungsbedarf in Ländern, die davon gar nichts wissen wollen. Man muss eben Verantwortung übernehmen, um die Frontstellung gegen Russland weiter auszubauen. So geht Friedenspolitik der Ampel-Koalition.