Ukraine zwischen Entspannung und Eskalation
Seite 2: Erzwungener Abzug von der Krim
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Soweit bekannt gab weder der Staatspräsident Alexander Walentinowitsch Turtschinow, noch sein reisefreudiger Ministerpräsident Arseni Petrowitsch Jazenjuk, noch der Nationale Verteidigungs- und Sicherheitsrat (RNBO) unter Führung von Andrej Parubi in Kiew klare Befehle an die ukrainischen Truppen. Vielmehr berichtete der ukrainische Militärseelsorger Dimitri Kratkow von der Krim:
Die Soldaten wissen nicht, was sie tun sollen. Sie haben keine klaren Befehle bekommen, weder von der Regierung in Kiew noch von sonst irgendjemandem - und das seit Wochen. (…) Jetzt warten alle nur noch auf den Abzugsbefehl.
Politisches Führungschaos
Die Übergangsregierung in Kiew verfolgte in der Krimkrise keine klare militärpolitische Linie:
* Am 15. März vereinbarten beide Seiten lediglich einen Waffenstillstand, der bis zum 21. März befristet war.
* Am 19. März kündigte die ukrainische Regierung zunächst an, es werde ein Abzugsplan für die ukrainischen Truppen auf der Halbinsel vorbereitet, damit die Familienangehörigen der ukrainischen Soldaten die annektierte Halbinsel "so schnell wie möglich" verlassen könnten. Aber gleichzeitig erteilte die Regierung ihren Soldaten erstmals auch einen Schießbefehl zur Selbstverteidigung.
Zur selben Zeit fantasierte das ukrainische Verteidigungsministerium über eine Demilitarisierung der Halbinsel:
Es werden mehrere Optionen erwogen. (…) Die erste Variante sieht eine Demilitarisierung der Halbinsel und einen Abzug sowohl der russischen als auch der ukrainischen Truppen vor. Die zweite Option ist eine Evakuierung, aber die Entscheidung darüber liegt in der Kompetenz des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats.
* Erst am 24. März erteilte die Regierung in Kiew ihren Soldaten einen offiziellen Abzugsbefehl zum Verlassen der Krim.
Ein Musterbeispiel für die ukrainische Kopflosigkeit ist auch das Verhalten des neuen Kommandeurs der ukrainischen Marine Vize-Admiral Sergej Gajduk. Noch am 15. März versuchte er sich bei den Russen anzubiedern:
Die Etappe von Protesten und des Risikos einer militärischen Konfrontation haben wir hinter uns. (…) Ich bin sicher, dass niemand eine neue Welle von Raub und Gewalt, von einer kriminellen Bedrohung für unsere Ehefrauen, Kinder und Eltern wünscht. (…) Politische Meinungsunterschiede werden nur am Verhandlungstisch gelöst.
Aber am 19. März wurde er bei der Eroberung des Marinehauptquartiers von den Russen vorübergehend gefangen genommen, als er heimlich versuchte zu flüchten. Nach seiner Freilassung forderte Gajduk am 22. März dann seine Soldaten auf, sie sollten ihre Stützpunkte und Schiffe fortan sichern; eine Übergabe an Russland oder ein Abzug käme nicht in Frage.
Der Amtsvorgänger von Gajduk, Konteradmiral Denis Beresowski, der am 2. März zu den russischen Truppen übergelaufen war, wurde mittlerweile für seinen Hochverrat belohnt und zum Stellvertretenden Kommandeur der russischen Schwarzmeerflotte ernannt.
Die Folge dieses politischen Führungschaos war, dass die 18.000 ukrainischen Soldaten in keinem einzigen Fall nennenswerten militärischen Widerstand leisteten. Einige Soldaten haben einfach ihre Uniformen ausgezogen und sind nach Hause gegangen, andere Soldaten konnten sich - mit oder ohne Waffen - in die Restukraine absetzen, weitere gerieten (vorübergehend) in Kriegsgefangenschaft, andere dachten an Selbstmord, die übrigen harrten aus, der Rest - schätzungsweise 50 Prozent - ist zu den russischen Truppen übergelaufen.
Nach Angaben des russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu waren bis zum 21. März 72 ukrainische Militäreinheiten zu den russischen Streitkräften übergelaufen. Von den schätzungsweise 18.000 Soldaten sollen sich - nach russischen Angaben - 16.000 Mann den russischen Streitkräften angeschlossen haben. Bis zum 22. März brachten die russischen Einheiten so 189 Militärobjekte unter ihre Kontrolle.
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu bot den ukrainischen Soldaten folgende Optionen an:
Wir schlagen eigentlich drei Richtungen des weiteren Lebens der Angehörigen dieser Truppenteile vor. Erstens: Wenn sie in der russischen Armee dienen wollen, so bieten wir ihnen natürlich einen Dienstort an. Zweitens: Wenn eine Person nicht wünscht, seinen Dienst in der russischen Armee fortzusetzen, aber auf der Krim bleiben will, so gibt es eine solche Möglichkeit auch. Drittens: Wenn eine Person den Dienst in der ukrainischen Armee fortsetzen will, so werden ihm auch alle Möglichkeiten geboten. Er kann die Krim für den weiteren Dienst in anderen Regionen und Truppenteilen der Ukraine frei verlassen.
In diesem Zusammenhang ließ es sich der russische Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht nehmen, die ukrainischen Soldaten zu verhöhnen: "In diesem Zusammenhang will ich mich bei denjenigen ukrainischen Militärangehörigen - und es handelt sich dabei um ein recht großes Militärkontingent von 22.000 Mann mit voller Ausrüstung - bedanken, die kein Blutvergießen zuließen und sich nicht mit Blut befleckt haben. (…) Ich kenne keinen Fall in der Geschichte, wo die Intervention ohne einzigen Schuss und ohne Opfer zustande gekommen wäre."
Seit dem Unabhängigkeitsreferendum vom 16. März verlief die militärische Konfrontation wie folgt:
- Heer (Sbrojni syly Ukrajiny): Die ukrainischen Streitkräfte unterhielten nur wenige Heereseinheiten auf der Krim. Nachdem sich 61 Fallschirmjäger der 25. Luftlande-Brigade (HQ Dnipopetrowsk) tagelang geweigert hatten, ihr Militärgerät den Russen zu überlassen, gestattete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am 22. März, dass die Soldaten mit ihrem Material abziehen dürften. Dazu sollten sie bis zur neuen russisch-ukrainischen Grenze von Feldjägern bewacht begleitet werden.
- Luftwaffe (Powitrjani Syly Ukrajiny): Am 22. März stürmten russische Einheiten unter Einsatz von Transportpanzern den Fliegerhorst Belbek. Der ukrainische Standortkommandeur Oberst Yuli Mamchur wurde gefangen genommen. Die ukrainischen Soldaten ergaben sich.
- Marine (Wiys’kowo-Mors’ki Syly Ukrayiny): 54 der 67 Schiffe der ukrainischen Marine auf der Halbinsel Krim wurden von der russischen Schwarzmeerflotte einverleibt.
Am 19. März stürmten 200 russische Soldaten und Milizionäre das Hauptquartier der ukrainischen Marine in Sewastopol. Der Kommandeur der Marine Admiral Sergej Gajduk wurde vorübergehend gefangen genommen. Bei der Aktion kam es zu einem Zwischenfall: Der ukrainische Unteroffizier Sergej Kokurin und der pro-russische Milizionär Ruslan Kasakow wurden erschossen, der Soldat Fedun wurde verwundet.
Der Todesschütze war - nach russischen Angaben - ein Siebzehnjähriger aus der West-Ukraine. Der Jugendliche soll auf beide Lager gefeuert haben, um Chaos zu stiften.
Am 20. März wurden das Kommandoschiff Donbass und die Korvetten Khmelnytskyi, Luzk und Ternopol von russischen Soldaten - z. T. mit Waffengewalt - erobert.
Am 22. März brachten die russischen Soldaten das U-Boot Saporoschje in der Strelezki-Bucht bei Sewastopol in ihre Gewalt: Etwa die Hälfte der 78 Mann starken Besatzung hat sich der russischen Schwarzmeerflotte angeschlossen, der Rest verließ das Schiff. Außerdem eroberten die Soldaten das Kommandoschiff Slawutitsch. Bis zum 23. März konnten sich nur drei Schiffe, die auf Hoher See dümpelten, einer Enterung entziehen.
Am 24. März eroberten russische Einheiten durch Schusswaffeneinsatz den Stützpunkt Feodossija. Der ukrainische Standortkommandeur wurde gekidnappt, mindestens sechzig ukrainische Soldaten (zeitweise) gefangen genommen. Außerdem eroberten 200 russische Soldaten das Landungsschiff Konstjantyn Olschanskyj durch den Einsatz von Rauchgranaten.
Grenztruppen (Derzhavna Prykordonna Sluzhba Ukrayiny - DPSU): Am 9. März und am 13. März wurden Aufklärungsflugzeuge vom österreichischen Typ Diamond DA 42 TwinStar der ukrainischen Grenztruppen von russischen Soldaten über der Krim beschossen und mussten abdrehen.
Bis zum 20. März hat der ukrainische Grenzschutz seine Stützpunkte (Berdiansk, Kertsch, Jalta, Sewastopol, etc.) auf der Halbinsel verlassen, wie deren Vize-Kommandeur Pawlo Schischolin mitteilte.
Am 22. März schloss der ukrainische Grenzschutz um 16.00 Uhr Ortszeit die Grenzübergänge zur "russischen" Krim und vollzog damit seinerseits die Abspaltung der Halbinsel.