Ukrainer schwer enttäuscht über "Revolution der Würde"

Weil ihre Popularität sinkt, fürchten nicht nur Premier Jazenjuk, sondern auch Präsident Poroschenko Neuwahlen

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Eine Woche nachdem das vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko initiierte Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Arseni Jazenjuk scheiterte (Ukraine: Dampfablassen gegen Jazenjuk), hat Poroschenko versucht, bei der Bevölkerung mit markigen Äußerungen gegen Russland Eindruck zu machen.

Am Mittwoch erklärte der ukrainische Präsident vor jungen Offizieren der ukrainischen Armee, "die Perspektive der Wiederaufnahme vollständiger Kriegshandlungen im Osten, weil der Aggressor Russland die Verpflichtungen im Abkommen von Minsk systematischen verletzt, ist klar auf unseren Radargeräten zu sehen."

Präsident Poroschenko erklärte am Montag, dass die Regierung sich "rebooten" müsse. Bild: president.gov.ua

Mit dem Vorwurf gegen Russland lenkt Poroschenko vom eigenen Versäumnis ab. Denn nach dem Minsker Abkommen müsste die Werchowna Rada Gesetze erlassen, welche Wahlen in den sogenannten "Volksrepubliken" möglich machen. Diese Gesetze müssten laut Abkommen von Minsk mit den Vertretern der "Volksrepubliken" abgestimmt. Doch das ist bisher nicht passiert.

Die "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk hatten - um den Konflikt mit Kiew nicht unnötig zu verschärfen - ihre für Oktober/November 2015 geplanten Wahlen auf den 20. April 2016 (Donezk) beziehungsweise 24. April 2016 (Lugansk) verlegt. Doch die Moskauer Nesawisimaja Gaseta deutete an, dass eine weitere Verschiebung der Wahlen in das Jahr 2017 möglich sei. Zu den Wahlen in den "Volksrepubliken" wollen die dortigen Verwaltungen keine Parteien aus der Ukraine zulassen.

Geheimabsprachen zwischen Poroschenko und Jazenjuk?

Die Bürger in der Ukraine sind schwer enttäuscht von Regierung und Präsident. Die nach dem Staatsstreich in Kiew vor zwei Jahren gemachten Ankündigungen von der Entmachtung der Oligarchen und dem Ausmerzen der Korruption blieben leere Worte. Den spürbaren Popularitätsverlust von Ministerpräsident Jazenjuk und Präsident Poroschenko, versuchte letzterer mit einem geschickten Manöver zu übertünchen. Kiewer Journalisten und politische Beobachter aus dem Maidan-Spektrum halten das Misstrauensvotum vom 16. Februar gegen Jazenjuk für ein zwischen Petro Poroschenko, Arseni Jazenjuk und den Oligarchen Rinat Achmetow, Igor Kolomoiski und Sergej Lewotschkin abgesprochenes Manöver, mit dem ein "Neustart" vorgegaukelt werden sollte.

Ministerpräsident Arseni Jazenjuk gestern in der Rada. Bild: kmu.gov.ua

Die Inszenierung ist gründlich in die Hose gegangen. Zu offensichtlich war das merkwürdige Abstimmungsverhalten der Abgeordneten am 16. Februar. In einer ersten Abstimmung hatten 247 der 450 Parlamentarier die Arbeit der Regierung als "nicht befriedigend" gerügt. Dann gab es eine Sitzungspause, die zahlreiche Abgeordnete nutzten, um den Sitzungssaal zu verlassen, um sich an der der zweiten Abstimmung über den Misstrauensantrag gegen die Regierung Jazenjuk nicht beteiligen zu müssen.

Für einen erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die Regierung Jazenjuk fehlten dann 32 Stimmen. Von den 136 Abgeordneten der Präsidentenpartei hatten 39 den Misstrauensantrag gegen Jazenjuk nicht unterstützt.

Die überraschend große Zahl fehlender Stimmen für eine Initiative des Präsidenten machte überzeugte Anti-Korruptions-Kämpfer unter Abgeordneten und Journalisten stutzig. Jazenjuk habe in der Nacht vor der Abstimmung über den Misstrauensantrag eine Garantie vom Präsidenten erhalten, meinte Mustafa Najem, ein Abgeordneter der Präsidenten-Partei "Block Petro Poroschenko" gegenüber dem von den USA finanzierten Radio Swoboda. Auch bei anderen Beobachtern in Kiew kam die Vermutung auf, dass 39 Abgeordnete der Präsidentenpartei das Kommando bekamen, den Misstrauensantrag nicht zu unterstützen.

Gekrönt wurden die Vermutungen durch eine von Radio Swoboda veröffentlichte Ermittlung mit Fotos, wonach der ukrainische Ministerpräsident Jazenjuk an dem Tag vor der Abstimmung dreimal durch einen Hintereingang zur Präsidialadministration gefahren wurde.

Büro der russischen Alpha-Bank in Kiew verwüstet

Zu Massenprotesten führt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung bisher nicht. Der Versuch eines neuen Bündnisses rechtsradikaler Gruppen und ehemaliger Frontkämpfer unter dem Namen "Radikale rechte Kräfte", das zweijährige Jubiläum des Maidan-Aufstandes am Wochenende in Kiew für Proteste gegen die Regierung zu nutzen, war nicht erfolgreich. Koordinator der neuen Bewegung soll der frühere Kommandeur des rechtsradikalen Freiwilligen-Bataillons Aidar, Sergej Melnitschuk, sein.

Auf dem Maidan wurden von den Rechten einige Zelte aufgeschlagen und am Sonntag eine Volksversammlung mit einigen hundert Teilnehmern durchgeführt. Am Sonnabend wurde das Hotel Kiewer "Kasazkaja" besetzt, wo das rechtsradikale Bündnis sein "Stabsquartier" einrichtete, von der Polizei aber nicht vertrieben wurde.

Einige hundert Demonstranten, die meisten von ihnen in Kampfanzügen, demonstrierten am Sonnabend in der Innenstadt, schmissen Steine auf ein Büro des früher Russland-freundlichen Oligarchen Rinat Achmetow und verwüsteten eine Filiale der russischen Alpha-Bank. Einige Kommentatoren in Kiew bezeichneten die Proteste der Rechten als "nützlich für Russland" oder sogar - ohne Beweise zu nennen - "von Russland eingefädelt".

Wie stark sich die rechtsradikalen Kräfte, die das Abkommen von Minsk als "Verrat" verurteilen, radikalisiert haben, zeigte eine Vorfall am Sonnabend in Odessa. Als Vertreter der Stadtverwaltung und politischer Parteien in russischer Sprache eine Gedenkfeier für die Toten des Maidan 2014 abhielten, protestierten Mitglieder der rechtsradikalen Partei Swoboda und des Rechten Sektors.

Obwohl in Odessa überwiegend Russisch gesprochen wird, war es für die Rechten unzumutbar, den Toten des Maidan auf Russisch zu gedenken. Als auch der örtliche Leiter der Timoschenko-Partei "Vaterland", Grigori Grinschpun, seine Rede auf Russisch statt auf Ukrainisch hielt, begannen die Rechtsradikalen mit einer Schlägerei.

"Revolution der Würde" führte zur großen Enttäuschung

Wie stark das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und die staatlichen Institutionen geschwunden ist, dokumentieren die Ergebnisse einer in diesen Tag vom Kiewer Gorschenin-Institut veröffentlichten Umfrage. 69,8 Prozent der Mitte Februar befragten Ukrainer sind der Meinung, dass die Ukraine sich in die falsche Richtung entwickelt. 71,5 Prozent sind der Meinung, dass in der Ukraine "keine realen Reformen" durchgeführt werden.

Nicht nur das Vertrauen in Politiker und Parteien, auch das Vertrauen in die staatlichen Institutionen ist zwei Jahre nach der sogenannten "Revolution der Würde" stark gesunken. Nach der Umfrage des Gorschenin-Instituts sind nur 8,5 Prozent der Befragten mit der Arbeit des Parlaments zufrieden. Noch niedriger liegt die Zustimmung zur Arbeit der Polizei (8,1 Prozent), der Staatsanwaltschaft (6,4 Prozent) und der Richter (4,7 Prozent). Vertrauen haben die Menschen in der Ukraine - laut der Umfrage - vor allem zu "Freiwilligen" (71,3 Prozent), gesellschaftlichen Organisationen (49,2 Prozent) und der Armee (48,8 Prozent).

Wenn jetzt Präsidentschafts-Wahlen wären, würde Petro Poroschenko nur 17,2 Prozent der Stimmen bekommen. Auch die anderen Kandidaten könnten keine überzeugenden Ergebnisse vorlegen. Julia Timoschenko bekäme 15,9 Prozent, die beiden Rechten Andrej Sadowоi (Bürgermeister von Lviv) und Oleh Ljaschko (Führer der "Radikalen Partei") jeweils 11,8 Prozent und der Leiter des "Oppositionsblockes" Juri Boiko 10,7 Prozent.

Vitali Klitschko, der von der Bild-Zeitung vor zwei Jahren als mutiger Maidan-Kämpfer gefeiert und dann zum Bürgermeister von Kiew gewählt wurde, bekäme, trotz Schulung durch die Konrad-Adenauer Stiftung, nur ein Prozent der Stimmen, Arseni Jazenjuk nur 1,9 Prozent der Stimmen.

Trotz der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung halten nur 42,3 Prozent der Befragten vorgezogene Neuwahlen für nötig. Das hängt wohl damit zusammen, dass man kein Vertrauen in das Parlament hat. 46,2 Prozent der Befragten halten vorgezogene Wahlen nicht für nötig.

Da das Volk Wahlen nicht fordert, kann sich Präsident Poroschenko Zeit lassen mit der Bildung einer neuen Regierungskoalition. Doch zurzeit ist völlig unklar, mit wem er diese Koalition bilden könnte. Julia Timoschenko klagt, dass ihre Partei nach dem Austritt aus der Regierungskoalition mit "Repressionen" überzogen werde. Nun kann Poroschenko nur noch darauf hoffen, dass die "Radikale Partei" und die Partei "Selbsthilfe" des Bürgermeisters von Lviv in die Regierungskoalition zurückkehren, um die Ukraine in einem Akt von Staatsräson zu stabilisieren.

Saakaschwili als Retter der US-Pläne?

Das Umfrageergebnis für die Präsidentenpartei "Block Petro Poroschenko" bei kommenden Parlamentswahlen ist niederschmetternd. Laut Gorschenin-Institut käme die Präsidenten-Partei mit 8,5 Prozent nur auf den sechsten Platz. Stärkste Partei in der Werchowna Rada würde die rechte Partei "Selbsthilfe" mit 13,4 Prozent. Auf Platz zwei käme mit 12,2 Prozent eine "Partei Saakaschwili", die es aber noch gar nicht gibt.

Die Soziologen hatten die noch nicht existierende "Partei Saakaschwili" mit auf ihre Umfrage-Liste gesetzt, da der Gouverneur von Odessa und Ex-Präsident Georgiens Ankündigungen macht, sich am Machtkampf in Kiew zu beteiligen. Er habe "mehr" als den Posten des Ministerpräsidenten im Sinn, ließ Saakaschwili verlauten. Zurzeit tourt der Gouverneur aus Georgien im Rahmen einer von ihm organisierten "Anti-Korruptions-Kampagne" durch die Ukraine (hier ein Auftritt des Gouverneurs von Odessa im westukrainischen Iwano-Frankiwsk).

Die Partei von Julia Timoschenko, "Vaterland" käme bei Parlamentswahlen laut Umfrage mit 12,1 Prozent auf Platz drei, der "Oppositionsblock" mit 11,3 Prozent auf Platz vier und die "Radikale Partei" mit 10,3 Prozent auf Platz fünf.

Joe Biden rät zur Einigkeit

Die Regierung kann sich in der Werchowna Rada jetzt nur noch auf 217 Abgeordnete stützen. US-Vizepräsident Joe Biden riet Poroschenko und Jazenjuk in Telefongesprächen, sich "um die Regierung zusammenzuschließen".

Der Kiewer Politologe Aleksandr Palij hält die Regierungskrise in Kiew für lösbar. Wahrscheinlich werde die Präsidentenpartei Block Petro Poroschenko mit der "Radikalen Partei", der Partei "Selbsthilfe" und "unabhängigen" Abgeordneten eine neue Regierungskoalition bilden. Zurzeit führe der Präsident Gespräche mit der Parlaments-Fraktion von Jazenjuk. Dieser werde "irgendwann" zurücktreten. Jazenjuk sei "verbraucht". Er könne "kein Antrieb für Reformen mehr sein".