"Um Haaresbreite"

Seite 2: "Weißglut"

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Völlig entgangen war auch dem Westen die Reaktion auf die abgebrochenen Abrüstungsverhandlungen nicht. So hatte Moskau Reagan mit Bezeichnungen wie "verrückt" und "kriminell" bedacht. Beim für Spionageabwehr zuständigen FBI fiel eine Anspannung der Bemühungen bzgl. militärischer Informationen auf, die Operation RYAN jedoch enttarnte das FBI nicht. Das Militär registrierte eine Zunahme sowjetischer Spionageflüge.

Ungeachtet dessen provozierten die USA durch sogenannte PsyOps die Luftabwehr der Sowjets, bei denen US-Flugzeuge auf sowjetischen Luftraum zuflogen und erst kurz vorher abdrehten. Damit verrieten die daraufhin aktivierten Zielradarstationen ihre Position. Das hierdurch aufgeheizte Klima führte im September 1983 zum tragischen Abschuss der Passagiermaschine KAL 007, die nach sowjetischer Darstellung den Luftraum verletzt hatte und für ein Spionageflugzeug gehalten wurde, das den Radarschatten der Maschine gekreuzt hatte. Nach diesem Vorfall war die politische Atmosphäre endgültig vergiftet. Die Nierenerkrankung des todgeweihten Staatschefs Andropow, der nach Einschätzung des PFIAB als einziger den Gegenschlag befehlen durfte, sorgte für zusätzliche Unwägbarkeiten. Ein Politbüro-Mitglied beschrieb die interne Situation während Able Archer wörtlich als "Weißglut".

Sicherheitsberater Robert McFarlane will Reagan wegen sowjetischer Befindlichkeiten bereits von der Teilnahme an Able Archer 83 abgebracht haben, wo andere Regierungschefs wie Thatcher und Kohl in einem verlagerten Kommandoleitstand die Übung politisch aufwerteten (Planspiel Atomkrieg (2013)). Unter Berufung auf McFarlane präsentierte das ZDF in der ansonsten sehenswerten Doku Welt am Abgrund (2011) ausgerechnet Brandstifter Reagan als Weltretter, der vor den konkreten Kriegsvorbereitungen des Ostens gewarnt worden sei und sich als besonnener Staatsmann im Ton gemäßigt habe.

Tatsächlich jedoch wurde damals in keinem Briefing des Präsidenten Able Archer oder eine konkrete sowjetische Kriegsangst erwähnt. Der PFIAB-Bericht hält die damalige Bewertung durch die Geheimdienste für unbrauchbar, um den Bedürfnissen des Präsidenten zu entsprechen. Erst am 18.11.1983, damit also eine Woche nach dem Ende von Able Archer 83 und der dann von Moskau am 11.11.1983 gegebenen Entwarnung an Militärs, hatte sich Reagan gegenüber seinem Außenminister George Shultz besorgt über eine sowjetische Kriegsparanoia geäußert. Am 05.11.1983 hatte Reagan den Film The Day After gesehen, der ihn sehr nachdenklich gemacht habe.

Un-Intelligence

Der PFIAB-Bericht von 1990 beklagt, dass die USA 1984 Gordijewskis über die Briten gelieferte Informationen etwa über RYAN und VRYAN wenig Glauben schenkten. Zwar hatten Beobachter im März 1984 berichtet, dass die sowjetischen Streitkräfte ihr Reaktionsvermögen verbessert hatten. Die Briten allerdings glaubten, es handele sich um eine sowjetische Propaganda-Kampagne, um den Westen wieder an den Verhandlungstisch zu bringen.

Zudem vermuteten manche Kreise in Washington einen Propagandatrick des Außenministeriums, um Reagan dazu zu bringen, sich im Ton zu mäßigen. Erst im Mai 1984 erkannte der US-Geheimdienst, dass es tatsächlich ein halbes Jahr zuvor die sowjetische Angst vor Able Archer gegeben haben musste.

Pershing II. Bild: U.S. Army

Wie ernst die Lage gewesen sein musste, erfuhr der Präsident erstmals im Juni 1984 durch den Bericht von CIA-Chef Casey, der u.a. auf Gordijewskis Informationen beruhte. Dem PFIAB-Bericht zufolge waren die USA über die Entscheidungsabläufe im Kreml kaum informiert und hätten die Brisanz der Situation verkannt.

Reagan soll auf den Casey-Bericht durchaus beunruhigt reagiert haben. Gemeinsam mit der britischen Regierung verzichteten die amerikanischen Freunde Mitte 1984 auch darauf, die NATO-Partner zu beunruhigen. Stattdessen überließen sie ihnen nur eine entschärfte Version des Casey-Berichts. Vor allem die Deutschen sollten nicht irritiert werden, weil damals gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung die Pershing-II-Raketen stationiert wurden.

Nachrüstung

Nach dem Tod von Staatschef Andropow im Februar 1984 war der ebenfalls gesundheitlich angeschlagene Konstantin Tschernenko nachgefolgt. Im Laufe des Jahres arbeitete die Rote Armee weiter an einer Verkürzung der Reaktionszeit und veranstaltete ein Seemanöver, an dem 148 Schiffe und bis zu 50 U-Boote beteiligt waren. Dabei wurden zeitgleich 23 strategische U-Boote mit ballistischen Raketen aktiviert, die bis dahin umfangreichste Mobilmachung in diesem Bereich. Insgesamt wurden 33 Raketen gestartet. Die Luftwaffe übte mit 80 Bombern an einem Nuklearangriff.

Soweit die US-Auswerter inzwischen erhöhte Militärbewegungen registrierten, bestritten 1984 die Analysten eine besondere Kriegsangst der Sowjets. Der PFIAB-Bericht sah auch Defizite bei der Kompetenz der Warnungs-Spezialisten, welche die Sowjetunion nicht ausreichend kannten.

Während sich die Sowjets noch vor allem in der ersten Hälfte des Jahres 1984 auf einen Überraschungsangriff vorbereiteten, beurteilte man im Kreml die Lage schließlich entspannter. Auf Tschernenkos Tod im März 1985 folgte Michail Gorbatschow, der die Abrüstung vorantrieb und damit die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen verminderte.

Erst nachdem der nach Russland zurückbeorderte Gordijewski 1985 vor einer drohenden Enttarnung in den Westen ausgeschleust wurde, verschafften sich die Geheimen in Washington ein genaueres Bild der Krise von 1983. Überläufer Gordijewski wurde erstmals 1986 der Öffentlichkeit präsentiert und 1987 sogar als Held von Reagan im Weißen Haus empfangen. 1987 schließlich beurteilten die US-Analysten die von Gordijewski berichtete Existenz des VRYAN-Programms als wahrscheinlich und gestanden zu, dass dieses zur Paranoia ab 1981 beigetragen habe.

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