Und was tust Du für Dein Land?

Der Patriotismus profiliert sich als Alternative zum globalen Kapitalismus

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Patriotismus ist ein Konstrukt der europäischen Frühmoderne - auch wenn seine Wurzeln vermutlich bis ins alte Rom zurückreichen. Nach Dirk Richter1 zeichnet er sich dadurch aus, dass er eine strikte Trennung zwischen "Wir" und "Ihr" zieht, das Eigene positiv besetzt und das Andere abwertet. Trotz dieser klaren Parteinahme für das Bekannte, Vertraute und Überlieferte hält der Patriot ein friedliches Nebeneinander zwischen Nachbarn, Staaten und Kulturen grundsätzlich für möglich. Der aufrechte Patriot ist kein "Halunke", wie Voltaire unkte, sondern versteht sich zugleich als Weltbürger, der "das Wohlergehen der Menschheit zu seiner Sache macht" (Enzyklopädie). Die Kluft zwischen dem Partikularen und dem Allgemeinen überbrückt eine universalistische Moral, die im Staatsbürger konkrete Gestalt und tätige Form annimmt. Sie garantiert, dass dieser seine Rechte nicht über die der Menschheit erhebt.

Zwar ordnet auch der Patriot seine Privatinteressen und egoistischen Ziele rigoros den Ansprüchen der Gemeinschaft unter. Er verzehrt sich im Dienst am Vaterland und ist im Ernstfall sogar bereit, für die Sache seines Volkes oder seiner Nation gegebenenfalls bis zum Letzten zu kämpfen. Doch in dieser bedingungslosen Treue und Opferbereitschaft dient er allen anderen Vaterländern gleich mit. Wendet er sich gegen Ungerechtigkeiten in seinem Land, so schließt dieser Kampf ausdrücklich immer auch jene ein, die jenseits seines Territoriums passieren. Der Patriot weiß, dass es sein Vaterland nur gibt, weil es andere Vaterländer gibt. Daher sind für ihn andere Nationen und Völker Möglichkeitsformen, die erst im Kontrast, in ihrer Vielheit und Konkurrenz die Welt bunter, schöner und reicher machen.

Wir müssen dahin zurückfinden, was uns stark gemacht hat: Kompaktheit, Aufopferungsbereitschaft, Kampf.

Oliver Kahn

Diese weltbürgerliche Haltung, die im Begriff des "Patriotismus" gelegentlich mitschwingt, hat sich im Laufe der Zeit nicht behauptet. Viel stärker als dieser hat sich der Nationalismus erwiesen, der die eigene Nation als überlegen ansieht und sie über die aller anderen stellt. Der Nationalist ordnet das Fremde dem Vertrauten unter und sucht es durch Missachtung, Herabsetzung und Stereotypisierung (bedrohlich, hinterhältig, faul ...) zu verleumden. Der Andere gerät dabei alsbald zum Schnorrer, Halunken oder Barbaren, zum Menschen zweiter Klasse, der das schlichtweg Böse, Gemeine und Gefährliche verkörpert. Historisch kann man das an den Praktiken studieren, denen beispielsweise Indianer, Schwarze und Juden ausgesetzt waren und gelegentlich noch sind; das kann man aber auch an den serbischen, kroatischen und bosnischen "Säuberungsaktionen" der Neunzigerjahre beobachten, oder an den Schmähungen, mit denen Tschetschenen in der russischen Presse ("Abschaum", "Banditen", "wilde Hunde") konfrontiert werden.

Allerdings wohnt auch dem Nationalismus ein Hang zum Allgemeinen inne. Indem er die eigene Nation zum Zentrum des Kosmos erklärt, spreizt dieser sich ebenfalls zum Universalismus auf. Neben ihm hat aber keine andere Nation Platz. Wer sich ihrer Idee (nach Edmund Burke die "Gemeinschaft der Toten, Lebenden und der Zukünftigen") nicht fügt, ihr nicht entspricht oder sich ihr nicht bedingungslos unterordnet, gilt als unerwünscht und läuft Gefahr, ausgemerzt und vernichtet zu werden.

Die Gemeinsamkeiten sind weit größer

Auf den ersten Blick scheinen Patriotismus und Nationalismus also meilenweit auseinander zu liegen. Ist Vaterlandsliebe immer auch an eine allgemeine Idee des Menschengeschlechts gekoppelt, bleibt für den Nationalismus die Feindschaft konstitutiv. "Stolz auf sein Land" (R. Rorty) zu sein (Patriotischer Messianismus), gilt darum in vielen Teilen der Welt als "gesundes Gefühl", wohingegen der Nationalismus als Perversion und gefährliche Verirrung des 19. und 20. Jahrhunderts angesehen wird. Danach könnte ein aufrechter und bekennender Demokrat zwar Patriot sein, nicht aber Nationalist.

Doch weit mehr als das Trennende überwiegt das Gemeinsame. Nationalismus und Patriotismus sind nur zwei Optionen, sich zur Idee der Nation und zum Programm des Nationalen zu verhalten. Beide

  1. operieren mit der Geringschätzung des Anderen
  2. fordern von ihren Bürgern die aktive Unterwerfung unter den Gemeinwillen
  3. appellieren an das Bodenständige und reklamieren dabei ein Gemeinschaftsgefühl, das durch die Verbundenheit zu einer Sprache, eines Territoriums oder einer Kultur hergestellt wird
  4. ebnen regionale, soziale oder hierarchische Unterschiede zugunsten eines allumfassenden Wir-Bewusstseins ein
  5. erklären die Treue zum Staat, die Aufopferung für die Belange der Nation zur höchsten aller Tugenden und zur Quelle aller anderen
  6. legen Wert auf die exzessive Pflege eines Wertekanons (Leitkultur), mit dem sich die Bürger identifizieren können
  7. nötigen Ausländern die Anpassung an eine gemeinsame Lebens- und Wertewelt ab
  8. bedienen sich ähnlicher Mittel, Strategien und Methoden, um die Zustimmung, Zuneigung und Liebe der Bürger zu den Traditionen, Bräuchen und Eigenheiten eines Landes zu fördern und zu stärken.

Herstellung eines Wir-Gefühls

Neben dem rituellen Abfeiern von Festen, Zeremonien und Gedenktagen und dem Inszenieren von Paraden, Umzügen und Massenspektakeln gehören das Versammeln und Marschieren hinter gemeinsamen Abzeichen, Bildern und Symbolen in Form von Flaggen, Hymnen und Bannern ebenso dazu wie das Errichten von Denkmälern, Bauwerken und Monumenten, um die Erinnerung an das Verbindende wach zu halten. Und auch die Künste (Dichtung, Musik, Malerei, Architektur ...), der Sport (Wettkämpfe, Olympiaden ...) und andere "Brot- und Spielformen" (Konzerte, Festivals, Events ...) werden dafür gern in Anspruch genommen.

Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn.

Artur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena

Seitdem Daten, Bilder und Kommunikationen nonstop und in Echtzeit rund um den Erdball schießen, spielen aber auch und vor allem die Medien der modernen Massenkommunikation. und der Massenkultur (Mode, Werbung, Lebensstile) eine überragende Rolle, wenn es gilt, die Nation ins rechte Licht zu rücken, ein Loblied auf ihre Pracht, ihren Glanz und ihre Größe anzustimmen oder die Bürger für geostrategische Ziele zu begeistern.

Die modernen Manager der Macht wissen darum. Sie wissen, dass die Strahlkraft, der Sexappeal oder das Image, die ein Staat nach außen spiegelt, immer auch auf die Haltung, das Engagement und die Leidensbereitschaft seiner Bürger abfärbt. Die Liebe zu und die Identifikation mit ihm gelingt umso leichter, je attraktiver, beispielhafter und vorbildhafter er auf sie oder für andere wirkt. Kein Wunder, dass Präsident Bush, nachdem die Installierung eines "Amts für strategische Einflussnahme" offenbar fehlschlug (Aus für die Propaganda-Abteilung des Pentagon), nun der USIA (United States Information Agency) eine "Behörde für globale Kommunikation" an die Seite stellen will, die das miserable Image der USA vor allem im moslemischen Ausland schönen und aufpeppen soll (Das Weiße Haus will auch ein Propagandabüro). Scheinbar vertraut man privaten Werbeagenturen wie der Rendon Group, die diese Aufgabe im letzten Jahrzehnt übernommen hat, nicht mehr und will auch dies in Eigenregie nehmen.

Fortschritt oder Rückschritt?

Die Konjunktur von Patriotismus und/oder Nationalismus (und neuerdings auch der Religion) kommt so überraschend nicht. Für Systemsoziologen handelt es sich um Krisensemantiken, die auf Komplexitäten reagieren, die den Solidargemeinschaften aus den unkontrollierten Daten-, Kapital- oder Menschenströmen einer global vernetzten Weltgesellschaft erwachsen und drohen, ihre kulturellen Ressourcen sowie ihren moralischen Zusammenhalt aufzuzehren. Sowohl der Patriotismus als auch der Nationalismus versuchen dem entgegenzusteuern. Sie versprechen den Bürgern Halt, Orientierung und Führung in einer von ihnen als unübersichtlich und feindlich erfahrenen Welt, und sie geben vor, Erfahrungen der Kontingenz und Unsicherheit in Überschaubarkeit, Bestimmtheit und Erklärungssicherheit zu überführen. An die Stelle postmoderner Erfahrung (Vielfalt, Mobilität, Selbstverantwortung, Anomie ...) rücken Simplifikationen, die den Glauben an die Wiederkehr stabiler Beziehungen revitalisieren und die Hoffnung der Bürger auf Geborgenheit im sozialen Uterus nähren.

Postnationale, postmoderne oder sonst wie aufgeklärte Beobachter halten derlei Erwartungen und Versprechungen für unangemessen, überholt und rückständig. In ihren Augen ist der Patriotismus intellektuell borniert, eine Ideologie für Loser und deswegen als Lösung für ein als durchaus dringlich erfahrenes Problem inakzeptabel. Sie plädieren stattdessen lieber für die weltweite Etablierung, Geltung und Durchsetzung universaler Prinzipien des Rechts, der Freiheit und der Menschenwürde - nötigenfalls auch mit militärischen Zwangsmitteln.

Stimmen, die einen moderaten Gebrauch oder eine "richtige Art von Patriotismus" und/oder Nationalstolz für modern, zeitgemäß und für einen Ort halten, "von dem aus wir den globalen Kapitalismus und seine standardisierte multikulturelle und liberale Ideologie kritisch befragen können", sind eher die Ausnahme. Allerdings mehren sich seit dem elften September die Stimmen jener, die in Nationalstolz und Integrationszwang "notwendige Bedingungen erkennen, um die fundamentale Herausforderung westlicher Werte durch den Radikalislam abwehren zu können" (H. Schwilk).

Patriotismus ist ein Gefühl

Mangelhaft bleiben etliche dieser Beschreibungen aber, solange sie das Neuentflammen patriotischer und/oder nationaler Stimmungen ausschließlich funktional oder rational erklären. Weder die Komplexitätsreduktion noch die Gesetzesgemeinschaft oder der Gesellschaftsvertrag reichen dafür aus.

Sprechen wir von Patriotismus und/oder Nationalismus, dann haben wir es hauptsächlich mit starken Gefühlen zu tun, mit Zugehörigkeiten, Vertrautheiten und Sehnsüchten, die vom "Willen, zusammenzuleben" getragen werden. Laut Hegel handelt es sich um jene Gefühle, die die "Seele" oder das "Wesen" eines Volkes ("Volksgeist") prägen. Mögen Liberale sich öffentlich auch gern als weltoffen, weltgewandt und weltmännisch präsentieren und dem Ideal einer hybriden und multikulturellen Weltgesellschaft frönen, tief im Herzen bleiben sie ihrem Heimatland häufig eng verbunden. Meist wird ihnen das erst dann bewusst, wenn sie für längere Zeit in der Ferne weilen, wenn die Sehnsucht nach dem Vertrauten und Gewohnten wächst. Dann scharen sie sich um verwandte Seelen und Geister oder gehen an Orte und Plätze, wo das Bekannte und Überlieferte (die Weißwurst, die Pasta oder der Rotwein) feilgeboten werden.

Dies ist wohl auch der Hauptgrund, warum ein Verfassungspatriotismus, der ausschließlich an die Verstandestätigkeit appelliert, in Deutschland als "Ersatz" (Martin Walser) angeboten wird und bloß die Anerkennung der universalistischen Grundwerte des Grundgesetzes verlangt, viel zu schwach ist, um die Köpfe und Herzen der Bürger zu erreichen und zu erobern. Um für einen Ideenkosmos, ein Land oder eine Kulturlandschaft Partei zu ergreifen, muss immer auch ein leidenschaftlicher Enthusiasmus hinzukommen.

Ohne Herzblut und affektive Beziehung, ohne Liebe, Wut oder Hass, bleiben Appelle, stolz auf die "Errungenschaften einer demokratischen Kultur" oder die "Leistungen einer Nation" (G. Schröder) zu sein, wegen ihres fehlenden Gehalts "blutleer". Politische Leidenschaften und Enthusiasmus lassen sich mit Formalien und Abstrakta nicht entfachen. Erst recht, wenn sie von Traditionen, Herkünften und Eigenheiten entkernt bleiben.

Die natürlichste Sache von der Welt

In God's own country sind Patriotismus, Nationalismus und Universalismus längst eine krude Mischung eingegangen und zum Hybriden verschmolzen. Die emotionalen Grundlagen dafür müssen von Massenmedien weder gelegt noch geschürt werden. Das Wir-Gefühl ist schon da. Die Regierung muss sich dieser Ressource nur bedienen. Wer vom Alien zum Amerikaner mutiert, spürt diesen Spirit, der das Land trägt und den er auf seine Bürger ausstrahlt, sofort. Schon bei seiner zeremoniellen Aufnahme wird ihm vermittelt, dass er stolz sein darf, endlich am Amerikanischen Traum teilzuhaben. Meist dankt er das dem Land, indem er später die Werte des Landes noch lauter vertritt als der geborene Amerikaner.

Nichts ist ärgerlicher im alltäglichen Umgang des Lebens als dieser reizbare Patriotismus der Amerikaner.

Alexis de Tocqueville

Die Einmaligkeit, Einzigartigkeit und Überlegenheit der eigenen Nation zu bejubeln und sie über die aller anderen zu stellen, ist für die meisten US-Amerikaner die natürlichste Sache von der Welt. Sie verbinden damit weder irgendwelche Schuldgefühle, sei es wegen Vietnam oder des Völkermordes an den Indianern, noch sehen sie darin irgendeine Art von Sonderweg oder Sonderbewusstsein oder erkennen darin einen Unfall der Geschichte. Der Patriotismus lebt. Deshalb braucht es häufig wenig Aufwand seitens der Massenmedien, um patriotische Stimmungen, Gefühle und Leidenschaften zu schüren. Der elfte September hat das nachhaltig gezeigt.

Stay strong

Seitdem befindet sich Amerika im emotionalen Rausch- und patriotischen Ausnahmezustand. Philipp Roth, amerikanischer Autor und Nobelpreiskandidat, sieht laut F.A.Z vom 4.10.2002 sein Land längst von einem "unerträglichen nationalen Narzissmus" befallen.

"Bei jedem Baseballspiel wird die Nationalhymne gespielt und 'unserer Helden' gedacht."

Andere Sparten und Genres wollen da nicht abseits stehen. Nach Sport und Massenmedien (Magazine, Comic-Verlage, TV-Stationen) hat vor allem Hollywood den Schulterschluss mit der Regierung gesucht. Die Früchte dieser Kooperation kann man derzeit in unseren Kinos bewundern. Sie hat den Spiegel zu einem netten Wortspiel verführt. Er kalauert vom "Militainment made in Washingwood". Dass auch Pop, Rock & Country vom patriotischen Sog erfasst werden und den Schulterschluss mit dem Mainstream suchen, wird den einen oder anderen Beobachter vielleicht überraschen.

Gemeinhin gilt der Rock'n'Roll nämlich als politisch links und gegen das Establishment gerichtet. Er verkörpert eine Haltung, die für Freiheit, Individualität und Unabhängigkeit eintritt, das Rebellische und Aufmüpfige der Jugend imitiert und Macht, Imperialismus und Krieg als Mittel der Politik strikt ablehnt. Zuletzt musste das die Reagan-Administration erfahren, die zum Spott der Songwriter avancierte.

Doch spätestens seit Bob Roberts, jenem Streifen, der den steilen Aufstieg vom populären Folksänger zum Senator nachzeichnet, wissen wir, dass sich stramme rechtskonservative Politik ("Hängt Dealer an den höchsten Ast"; "Verschenkt Geld nicht an Faulpelze") durchaus mit dissidenten Lebensstilen vertragen und sich in der Pose des Hobos, Outsiders und Freewheelin' Bob Dylan verkaufen lassen. Und seitdem die großen Fernsehstationen allabendlich Kampfpiloten als Popstars präsentieren, wissen wir, dass das Tragen von Amijacken auf Popfestivals keine Symbole der Subkultur, Rebellion und Dissidenz sind.

Aufrechte Patrioten

Daher sollte die Woge patriotischer Begeisterung, die gestandene Popgrößen und Rock'n'Roller mit dem elften September erfasst hat und Seit' an Seit' mit der Regierung gegen die "Mächte der Finsternis" und die "Achse des Bösen" marschieren lässt, niemanden verwundern. Vor allem bei Bruce Springsteen und Neil Young nicht, die nach landläufiger Meinung das Herz, die Stimme und das Gewissen eines wahrhaften und aufrichtigen Rock'n'Roll verkörpern.

Vielleicht muss man im Falle Bruce Springsteen nachsichtiger urteilen. Mit Toby Keith zum Beispiel, der in dem Song Courtesy of the Red, White and Blue (The Angry American) all denen, die sich "mit den USA anlegen", am liebsten "in den A.... treten" will, verbindet ihn rein gar nichts. Wenn er den Feuerwehrleuten, Polizisten und Rettungskräften auf seiner neuen Scheibe The Rising ein Denkmal setzt, persönliche Gefühle und Empfindungen in Empty Sky, City of Ruins und Woke up this Morning formuliert, und den trauernden Gemeinden eine mitfühlende Erbauungsmesse liefert, dann hat das zunächst nichts mit dem Feiern von Bombardements in fremden Ländern zu tun. Dann geht es dem Boss in erster Linie um Verantwortung, um Pflichtgefühl, und darum, Trost denen zu spenden, die jemanden verloren haben.

Gewiss geht es in den Songs auch um Heldentum, um die Pflege amerikanischer Mythen und die Pflicht, für andere da zu sein. Im Gegensatz zu anderen nimmt man Springsteen diese Feier von Mut, Tapferkeit und Opferbereitschaft aber auch ab. Nicht wegen des Kitsches, des Klischees oder des pathetischen Tons, der darin angeschlagen wird, sondern wegen der Trauer, Melancholie und Anteilnahme, mit denen die Songs amalgamiert bleiben.

Anders verhält es sich dagegen mit Neil Young, der einst gegen Rassismus, den Vietnamkrieg und den Bau von Atomkraftwerken demonstrierte und diesen sozialen Kämpfen in Southern Man und Ohio ein musikalisches Denkmal setzte. Doch unterstützte er später auch Ronald Reagan bei seiner Wiederwahl. Schon deswegen dürfte die Hymne, die Young in Let's roll auf jene Helden anstimmt, die mit diesem Schlachtruf die vierte Maschine bei Pittsburgh zum Absturz brachten, so verblüffend nicht sein.

No one has the answer, but one thing that is true, you get to turn on evil, when it's coming out to you [...] Let's roll for Freedom, Let's roll for Love, We're goin' after Satan on the wings of a Dove. Let's roll for justice, Let's roll for truth.

Aufschlussreicher als der Slogan Let's roll, der nun, wie man hört, Kampfgeschwader ziert und dessen sich auch Präsident Bush bei seiner Rede zur Lage der Nation im Januar bediente, ist eher der Titelsong. In Are you passionate? werden die Leidenschaften, Werte und Ideale, die einst die 68er erhoben hatten, mit jenem bellizistischen Patriotismus versöhnt, der stilbildend für die nächsten Jahre sein und die Befindlichkeiten einer ganzen Generation prägen wird.

Once I was a soldier, I was fighting in the sky, and the gunfire kept coming back on me, so I dove into the darkness, and let my missiles fire, may I be the one, that kept you free.

Damit empfiehlt sich Young einmal mehr als neuer Führer einer Bewegung, die (ähnlich wie andere prominente Alt-68er vor ihm) ihre pazifistische Grundhaltung über Bord wirft, Love & Peace adé sagt und begeistert "U-S-A, U-S-A" skandiert, wenn sie die Werte von 68 nun mit response forces und preemptive actions weltweit herstellen will. Fortan wird man die Parolen Freedom und Rockin' in the Free World jedenfalls mit anderen Augen und Ohren zu hören und zu lesen haben. Man wird sie eher als Drohung denn als Ruf nach Befreiung empfinden müssen.

Amerika wäre aber nicht Amerika, wenn es nicht auch die andere Seite gäbe. Die Beastie Boys zeigen sich von solchem Herzschmerz, nationaler Nabelschau und patriotischem Überschwang vollkommen unbeeindruckt. Gleich ein paar Wochen nach dem Attentat luden sie zum Fight for Your Right to Party in den Madison Square Garden. Und auch Public Enemy demonstrieren auf ihrem Album Revolverlution wenig Vaterlandstreue. In Son of a Bush heißt es:

I ain't callin' for no assassination, I'm just sayin', who voted for that asshole of your nation?

Teamspieler braucht das Land!

Anders verhält es sich bekanntermaßen in Deutschland. Hierzulande steht der Patriotismus im Verruf, besonders militant, politisch reaktionär und potentiell rassistisch zu sein. Ein christdemokratischer Generalsekretär und dessen Fraktionsvorsitzender mussten das jüngst erfahren, als sie über ihre patriotischen Gefühle laut nachdachten und damit eine öffentliche Debatte über "Nationalstolz" und "deutsche Leitkultur" lostraten. Rasch geriet der Konnex "stolz" und "deutsch" zum nationalen Ärgernis und politischen Ausnahmezustand. Von Medien und ihren Kommentatoren mussten diese sich alsbald als rechte Parteigänger und getarnte Nazis beschimpfen lassen.

Wir freuen uns sehr darauf, mit Ihrem Land zusammenzuarbeiten, um diese Terroristen auszulöschen.

Moderator John Scott zum deutschen Botschafter Wolfgang Ischinger

Wird bei exotischen, politisch oder kulturell diskriminierten Völkern und Gemeinschaften die Forderung nach kultureller und nationaler Identität gern als Zeichen des Willens zur Selbstbestimmung politisch begrüßt und öffentlich gefördert, tut ein Inländer gut daran, sich die öffentliche Äußerung solcher Gefühle zu verkneifen. Er darf zwar stolz sein, ein Bayer, Friese oder Berliner zu sein, nicht aber darauf, "Deutscher" zu sein. Seit jenen dunklen Tagen des Nazismus gründet eine Deutscher seine Identität auf Schimpf und Schande. Um "Deutsche an die Front" zu senden und die Welt zu zivilisieren, muss seither schon "Auschwitz" oder wenigstens der Kollektivsingular: "Wir sind alle Amerikaner" herhalten.

Parolen wie "Wir sind das Volk" und: "Wir sind ein Volk", die einst den Mauerfall begleiteten; oder das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer, das auf dem Frankfurter Römer zum Empfang von Rudis Helden wehte und das freudetrunkene Grölen des "Lieb' Vaterland" untermalte, stehen dazu nur scheinbar im Widerspruch. Und zaghafte Versuche, wie in der Irak-Frage, einen eigenständigen "deutschen Weg" zu etablieren, fallen, wenn es "ernst" wird, schnell wie Kartenhäuser in sich zusammen. Die Regierung muss dann ihr Büßergewand anlegen. Sie muss ihren Außenminister an den Potomac senden, der für so viel "Nationalbewusstsein" vor laufenden Kameras zuallererst Deutschlands tiefe Dankbarkeit für die mentalen und finanziellen Hilfen ausdrücken muss, die Amerika dem Land gewährt hat, während er abseits der Kameras, am Kamin der Macht, längst und als Vorausleistung für eine Normalisierung der Beziehungen den Amerikanern zweierlei in die Hand versprechen musste: die Aufstellung einer über zwanzigtausend Mann starken Nato Response Force zu forcieren, sowie fortan den Beitritt der Türkei in die EU aktiv zu unterstützen.

Es ist an der Zeit, dass du endlich begreifst, dass du endlich verstehst, dass es nicht nur um dich geht.

Westernhagen, Freund des Bundeskanzlers

Deutschland ruft

All das hindert die rot-grüne Koalition allerdings nicht, kräftig in der patriotischen Suppe zu rühren und sich nachhaltig jener Ressourcen zu bedienen, die der patriotische Gemeinsinn ihr bietet. Was bei der Bekämpfung der Flut geholfen und zu ihrer Wiederwahl beigetragen hat, soll offenbar zur Leitlinie dieser Legislaturperiode werden.

Um die Bürger auf schmerzhafte Einschnitte, Kürzungen und Streichungen bei den Sozialleistungen vorzubereiten, griff der Kanzler bei seiner Regierungserklärung am 29.10. zu einem alten Kalauer. In Anlehnung an jenen Aufruf John F. Kennedys vor ca. vierzig Jahren: "Frage nicht, was Dein Land für dich tun kann! Frage lieber, was Du für dein Land tun kannst!", flehte er die Bürger an: "Es geht nicht, nur das zu sagen, was nicht geht. Fragen wir uns, was jede und jeder Einzelne von uns dazu beitragen kann, dass es geht."

Abseits solcher Momentaufnahmen gilt grundsätzlich und noch immer: Deutsche meiden den Patriotismus wie der Teufel das Weihwasser. Zu sehr erinnert dieser sie an jene unselige Blut- und Boden-Ideologie, die sie einst als Volks- und Schicksalsgemeinschaft entwarf und der sie willig und begeistert folgten. Seit der Reéducation post 1945 ist der deutsche Gefühlshaushalt in diesen Fragen fragil und sehr sensibel.

Die Mehrheit der Deutschen begreift sich lieber als Hort des Pazifismus und gründet ihre Identität entweder auf "Naturschutz und Landschaftspflege" wie die N.Z.Z. mutmaßte; oder, wie Jürgen Kaube in der F.A.Z. vom 30.11. schrieb, "auf die Existenz öffentlicher Schwimmbäder in jeder mittleren Gemeinde, auf die steuerliche Abzugsfähigkeit von Eigenheimen, auf die Erstattungsfähigkeit von Kurpackungen, die staatliche Förderung der Unternehmensgründung von Frauen und auf die Subventionierung der Milchviehhaltung in alpinen Regionen". Jürgen Habermas hat diesen kollektiven Anspruch auf soziale Rundumversorgung auf das Schlagwort "DM-Nationalismus" getauft.

Vielleicht hat Slavoj Zizek doch recht: Um ein unverkrampfteres Nationalgefühl zu entwickeln und ein positives Selbstbild von sich, den Leuten und dem Land zu entwickeln, bräuchte Deutschland erst eines Hiroshimas, Vietnams oder elften Septembers. Andernfalls könnte es sonst, wenn wir die Zeichen der Zeit richtig deuten, gut sein, dass Deutschland, auch in dieser Frage im Ranking der Nationen zurückfällt und den Anschluss verliert.