Ungleichheit und Volksgesundheit: Es ist mehr Prävention nötig

Seite 3: Welche Bedeutung hat der Stress?

In den Empfehlungen der WHO zur Prävention chronischer Krankheiten wird der Faktor Stress nicht erwähnt. Das dürfte vor allem daran liegen, dass die Rolle von Stress für Entstehung und Verlauf chronischer Krankheiten vergleichsweise schwerer zu untersuchen ist und deshalb weniger gut abgeklärt erscheint.

Trotzdem gibt es überzeugende Untersuchungen, die belegen, dass chronische Stressbelastungen für die Entstehung und den Verlauf so wichtiger chronischer Krankheiten wie Bluthochdruck, KHK und Durchblutungsstörungen des Gehirns von großer Bedeutung sind.24

Außerdem ist spätestens seit der berühmten britischen Whitehall-Studie das Konzept der psycho-sozialen Risikofaktoren gut etabliert und wissenschaftlich anerkannt.25 Von diesen Autoren konnte schon Ende der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts gezeigt werden, dass der Herzinfarkt keine "Manager-Krankheit" ist, wie damals allgemein angenommen wurde, sondern bei Büroangestellten deutlich häufiger auftritt als bei ihren Chefs.

Deshalb gehört auch der Abbau von chronischen Stressbelastungen zu den wichtigen Maßnahmen eines gesundheitsförderlichen Lebensstils.26

Sozialer Gradient

Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass wichtige Risikofaktoren für chronische Krankheiten wie Rauchen und Adipositas auf Grund von Fehlernährung und Bewegungsmangel einen schichtspezifischen sozialen Gradienten aufweisen.27 Dieser liegt in einer Größenordnung von 2 bis 3.

Das bedeutet, dass diese Risikofaktoren auch in den oberen Einkommensschichten auftreten, aber in den unteren doppelt bis dreimal so häufig sind. Eine wesentliche Ursache hierfür dürfte, wie in Teil 1 dieser Reihe schon ausführlich dargestellt, in der sozialen Ungleichheit zu sehen sein, die über vermehrte Statuskonkurrenz zu vermehrten chronischen Stressbelastungen führt.28

Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn auch viele chronische Krankheiten einen schichtspezifischen sozialen Gradienten aufweisen.29

Diese soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen lässt sich offensichtlich mit Maßnahmen der etablierten ambulanten und stationären medizinischen Versorgung nicht ausgleichen. Sie ist wahrscheinlich langfristig nur durch eine umfassende Förderung der Prävention in Kombination mit progressiven sozial- und steuerpolitischen Maßnahmen erfolgreich anzugehen.

Das ist ein weiteres wesentliches Argument für mehr Anstrengungen und wirkungsvollere Bemühungen auf dem Gebiet der Prävention chronischer Krankheiten in Deutschland.

Verhaltensprävention

Chronische Krankheiten sind somit zu einem wesentlichen Teil Folgen eines krankheitsfördernden Lebensstils, der durch Verhaltensprävention günstig zu beeinflussen ist.30 Die Vermittlung von verhaltenspräventiven Maßnahmen, vor allem im Bereich der Sekundärprävention, ist in erster Linie Aufgabe der Heilberufe, insbesondere der Ärzteschaft, denn chronisch Kranke suchen in der Regel den Arzt auf und bilden heute schon die Mehrheit in der ärztlichen Sprechstunde.

Leider steht aber die Prävention chronischer Krankheiten bei den meisten Ärzten derzeit nicht hoch im Kurs.

Neben der mangelhaften finanziellen Vergütung von Präventionsleistungen mag ein Grund daran liegen, dass von alters her die Behandlung von Kranken Aufgabe der Medizin ist und es sich bei der Prävention scheinbar um Gesunde handelt, was aber für die Sekundärprävention nicht zutrifft.

Außerdem ist Prävention während des Medizinstudiums und der anschließenden ärztlichen Weiterbildung auch heute noch bedauerlicherweise nur ein Thema am Rande.

Es gibt mittlerweile jedoch eine Reihe von effektiven verhaltenspräventiven Maßnahmen, zum Beispiel bei der Raucherentwöhnung, der Adipositas-Behandlung und der Diabetes-Prävention, die in jeder Arztpraxis erfolgreich durchgeführt werden könnten.31

Aber auch wenn es gelänge, einen größeren Teil der Ärzteschaft und anderer Heilberufe zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf dem Gebiet der Prävention zu bewegen, würde das sicher allein nicht ausreichen, um das massenhafte Auftreten der chronischen Krankheiten in unserer Bevölkerung zu stoppen bzw. in zufriedenstellendem Maße zurückzudrängen.

Um dieses Ziel zu erreichen, sind neben den in Teil 1 genannten sozial- und steuerpolitischen Maßnahmen zum Abbau der sozialen Ungleichheit effektive verhältnispräventive Maßnahmen ebenfalls essenziell.

Verhältnisprävention

Verhältnispräventive Maßnahmen beziehen sich vor allem auf die Rahmenbedingungen unseres Lebens und sind deshalb in erster Linie Aufgabe der Politik.

Dazu gehören auf dem Gebiet der Tabakkontrolle ein bundeseinheitliches umfassendes Nichtraucherschutzgesetz ohne Ausnahmen und ein komplettes Tabakwerbeverbot.32

Verhältnispräventive Maßnahmen werden auch zur Adipositas-Kontrolle vorgeschlagen, wie zum Beispiel die Kennzeichnung der Lebensmittel nach dem Ampelprinzip.33

Ebenso müssten die Rahmenbedingungen für die Förderung von regelmäßiger körperlicher Aktivität verbessert werden, zum Beispiel durch die Förderung des Schulsports und die Erleichterung des Zugangs zu Sportvereinen für Kinder und Jugendliche aus Familien der unteren Einkommensschichten.

Diese wenigen Beispiele von möglichen verhältnispräventiven Maßnahmen zeigen, dass hier ein Problem besteht. Denn die Prävention hat nicht nur Unterstützer und Freunde. Bestimmte Kreise der Politik sehen sich nicht primär als Sachwalter der gesundheitlichen Interessen der Bevölkerung, sondern vor allem als Vertreter der wirtschaftlichen Interessen von Industriezweigen, deren Profit vom krankheitsfördernden Verhalten eben dieser Bevölkerung abhängt.

Deshalb werden Erfolge bei der Verhältnisprävention nur zu erreichen sein, wenn von Seiten der Politik die gesundheitlichen Interessen der Bevölkerung als höherwertig eingeschätzt werden als etwa die Interessen der Zigarettenindustrie, der Werbeindustrie oder der Nahrungsmittelindustrie.

Erfolge auf dem Gebiet der Prävention hängen aber auch von der Gesundheitskompetenz des Einzelnen ab. Darunter sind die Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen zu verstehen, etwas für seine Gesundheit und deren Erhaltung zu tun.

Das setzt voraus, dass er sich das nötige Wissen angeeignet hat, das hierfür erforderlich ist, und motiviert ist, es so weit wie möglich umzusetzen. Dazu könnten Patientenschulungen für Betroffene in Arztpraxen und Kliniken über die wichtigsten chronischen Krankheiten und deren Behandlung beitragen.34

Diese Ausführungen sollen auch deutlich machen, dass der Weg zu einem gesundheitsfördernden Lebensstil breiter Bevölkerungskreise, mit dem chronische Krankheiten verhindert oder gelindert werden können, mühsam ist. Angesichts der oben angeführten Probleme auf gesundheitlichem Gebiet bei uns in Deutschland ist es jedoch eine der wichtigsten Aufgaben einer fortschrittlichen Gesundheitspolitik.

Eine bevölkerungsweite effektive Prävention chronischer Krankheiten kann dabei nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gelingen.

Voraussetzung ist das Zusammenwirken von Verhaltensprävention als Primärprävention, zum Beispiel in Kindergarten, Schule und Betrieb, und als Sekundärprävention, zum Beispiel in der Arztpraxis, in Kombination mit der Verhältnisprävention.

Die Ärzteschaft und die Heilberufe sollten sich dabei vor allem auf die verhaltenspräventive Sekundärprävention konzentrieren, ohne aber die Primärprävention ganz aus den Augen zu verlieren.35

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit.

E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

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