Unkontrollierter Sinkflug

Narrende Computer, overstresste Menschen, blockierte Türen - und offene Fragen

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Im November 2014 vollführte ein Airbus A321 der Lufthansa nahe Bilbao einen unkontrollierten Sinkflug über 4.000 ft. Die Maschine war auf dem Weg nach München. Als Ursache für das Abdriften werden zwei gleichzeitig blockierende AOA-Sensoren (AOA = Angle Of Attack) genannt. Das Problem: Reagieren zwei (von drei) der hochsensiblen Messfühler fehlerhaft, zum Beispiel als Folge von Vereisung, so stechen sie nach den Prioritäten des Computerprogramms den einzigen womöglich noch korrekt messenden Sensor aus - der Rechner diktiert dann den Kurs. Bloß leider auf einer irrigen Datenbasis.

Cockpit eines Airbus A321. Bild (Ausschnitt): Ercan Karakas/GFDL

Ein Ex-Lufthansa-Kapitän, der namentlich nicht genannt werden möchte, äußert sich gegenüber Telepolis so: "Das kommt dabei heraus, wenn Computer in der Hierarchie über den Piloten stehen. Man stelle sich diesen Incident in Bodennähe vor!" Airbus-Jets würden im Vergleich zu den Modellen von Boeing besonders stark durch die Elektronik dominiert: "Airbus-Ingenieure perfektionieren die Maschinen extrem und absurd, und zwar so extrem, bis der Pilot ganz klein ist."

Dennoch gut gelaufen: Der Flugkapitän in dem geschilderten Fall schaltete klugerweise den Computer ab und übernahm das Steuer selbst. So - und nur so - konnte die Maschine heil in München landen.

Berechtigte Ängste

Für die Passagiere, die im Vertrauen auf Mensch und Maschine in einen Flieger steigen, ist es im Endeffekt egal, ob ihr Flugzeug als Folge eines Computerfehlers oder wegen eines unzurechnungsfähigen Piloten abstürzt. In beiden Fällen erweist sich das Vertrauen als krass unbegründet. Statistiker weisen zwar gern auf beruhigende Zahlen hin. Auf 4,1 Millionen Flüge, so die Analytiker des Flugsicherheitsnetzwerks Aviation Safety Network (ASN), komme nur ein tödlich verunglückter Passagier. Trotzdem beschleichen den Flugwilligen neuerdings Vorbehalte.

Dies in mindestens dreierlei Hinsicht: Einmal fragt man sich nicht ohne Grund nach der Hierarchie in der Steuerung heutiger Maschinen. Wenn ein Pilot erst den Computer lahmlegen muss, um Schlimmeres zu verhindern, stimmt dann noch die Rangordnung? Und gehen die betroffenen Airlines das Problem wirklich unverzüglich genug an? Piloten und Passagiere sollten sicher sein dürfen, dass nicht Kollege Computer im Ernstfall das Ruder übernimmt - und am Ende dann nicht mehr abgibt.

An zweiter Stelle fragt sich der Laie nach der Organisation an Board. Blockiert eine Kabinentür aus Sicherheitsgründen, so ist das offenkundig intendiert und dient der Sicherheit der Passagiere und der Crew. Blockiert dieselbe Tür aber aus einem anderen Grund, und ist dann auch noch ein Crewmitglied aktiv beteiligt, so stellt sich die Frage nach dem Sinn und auch nach der Intelligenz der Disposition, wie sie so etabliert worden ist. Sie ist schlicht unsinnig! Zumal bei einer Regelung, die einen Piloten allein gewähren lässt. Sehr bedauerlich, dass es erst soweit kommen musste, bis einige Airlines das erkennen.

Der menschliche Faktor

Piloten gelten gemeinhin zu Recht als Inbegriff der Verlässlichkeit. 4U9525 scheint gegenwärtig auch eine Chiffre dafür zu sein, dass dieses Axiom fraglich geworden ist. Der Pilot ist kein Übermensch. Im Interview äußerte sich der Pressesprecher der Pilotenvereinigung Cockpit, Jörg Handwerg, dahingehend, dass es mehrere Anlaufstellen gibt, die der Berufsgruppe bei Problemen zur Verfügung stehen; und offenbar gibt es diese Probleme.

Allerdings ist es erschreckend zu hören, dass hier u.a. überhaupt von Alkoholismus die Rede ist. Natürlich möchte niemand sein Leben einem Flugzeugführer anvertrauen, der Alkoholiker ist, aber würde man es bereitwillig etwa auch dann tun, wenn man wüsste, dass der Pilot vorn im Cockpit bereits aufgrund von Alkoholproblemen therapiert worden ist?

Um wieviel beunruhigender stellt sich diese Frage, wenn es nicht um Alkohol, sondern um eine Suizidgefährdung geht. Hier wird aber dieser - in kürzester Zeit breit getretenen - Hypothese zu diesem Zeitpunkt nicht weiter spekulativ nachgegangen; schon zu viele Medien haben sich auf Andreas L. und seine ans Licht gezerrten echten oder vermuteten Probleme gestürzt. Jörg Handweg nennt die Hetzjagd mittelalterlich und weist zu Recht darauf hin, dass eine Staatsanwaltschaft in erster Linie nach Schuldigen und nicht nach Ursachen fahndet.

Vom Unglück des Homo faber

Der Absturz der Germanwings-Maschine fokussiert den Blick auf den menschlichen Faktor. Aber während sich die meisten Medien zuletzt auf jede psychisch einigermaßen plausible Diagnose stürzen und dabei eifrig aus Krankenakten zitieren, evoziert der Fall als solcher auch Fragen ganz anderer Qualität. Und zwar abseits von der Suche nach Kausalketten, die auf den ersten Blick relevant sein mögen.

Andreas L. war ein ausgebildeter Pilot und im Einsatz als Co-Pilot und Erster Flugoffizier. Ein Flugzeugführer gilt als souverän Handelnder, man vertraut ihm sein Leben an. Aber er selbst ist möglicherweise bloß auch ein "obskures Objekt der Perfektionierung"1: Wie weit hat er sich den Erfordernissen einer übermächtigen Maschinenwelt anzupassen? War der Co-Pilot von 4U9525 am Ende ein überforderter, ein sich selbst überfordernder Homo faber?

Wünsche und Ängste sind mit der Technisierung verbunden, und leider endet sie für manchen auch in einem fragwürdigen Zwang zur Selbstoptimierung. Nach Oliver Müller kann der technisch perfektionierte, sich selbst automatisierende Mensch auch dämonische Züge annehmen; dann mag es sein, dass er vom eifrigen Assistenten zum anmaßenden Konkurrenten Gottes wird.