Unmaßgeblicher Versuch über die Abschweifung

Seite 2: Film ohne Helden

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Von "bester Film der Welt" sollte man sich nicht abschrecken lassen. Citizen Kane funktioniert wie ein guter Krimi (in einer frühen Drehbuchfassung war sogar ein Mord geplant), dessen Konventionen er zugleich hinterfragt (so erfährt man erst kurz vor dem Ende, wer Kanes letztes Wort eigentlich gehört hat). In guten Krimis geht es nicht in erster Linie darum, am Schluss den Täter zu benennen. Vielmehr sammelt der Detektiv Indizien, die ihn zu diesem führen, und weil alles wichtig sein könnte, lassen sich interessante Beobachtungen zu der Gesellschaft unterbringen, in der das Verbrechen geschehen ist. Thompson befragt fünf Zeugen, die Kane gekannt haben und wissen könnten, was mit "Rosebud" gemeint ist. Dabei wird das Leben des Verstorbenen, mehr oder weniger chronologisch, vor uns aufgeblättert: vom Aufstieg zum Zeitungstycoon über die an Hybris und einer Liebesaffäre gescheiterte Politkarriere und den Verlust der Kontrolle über das Medienimperium bis zum einsamen Sterben in einem nie fertig gewordenen Palast. Jede der fünf Personen erzählt von einer Lebensphase, und es gibt einige Überlappungen, damit wir nicht vergessen, dass wir es mit fünf verschiedenen Perspektiven zu tun haben (man kann Citizen Kane gut mit Akira Kurosawas Rashomon vergleichen).

Die erste auf Thompsons Liste ist die alkoholkranke Susan Alexander Kane, die im Nachtclub El Rancho eine Zombie-Existenz als schlechte Sängerin und Ex-Gattin eines berühmten Mannes führt. Das ist jetzt schon der dritte Anfang (nach der Sterbeszene und dem Newsreel), und als wäre das noch nicht Ironie genug, verweigert Susan dem Reporter zunächst ein Interview. Welles nützt jede Gelegenheit, sich über die von Hollywood geheiligte Zahl Drei lustig zu machen. Die für die Aussage des Films sehr wichtige Schneekugel taucht insgesamt dreimal auf - am Anfang, in der Mitte und am Schluss -, aber wie aus dem Lehrbuch ist das trotzdem nicht. Man muss ein sehr scharfer Beobachter sein, um sie beim zweiten Mal zu entdecken, und wie die Schneekugel mit Rosebud zusammenhängt, weiß man da noch lange nicht. So hatten sich die Autoren der Leitfäden für richtiges Drehbuchschreiben die Regel der dreifachen Informationsvergabe nicht vorgestellt.

Üblicherweise wäre der Reporter Thompson, wie David Thomson in seinem Buch Rosebud bemerkt, der Held des Films. Kane könnte eine Tochter haben, in die Thompson sich verlieben würde, um dann ein finsteres Geheimnis in der Vergangenheit des Vaters zu entdecken, und somit wäre ein Konflikt etabliert, wie Hollywood ihn mag. Diesen Film gibt es sogar. Er heißt Mr. Arkadin, und Welles hat mit ihm Citizen Kane auf sehr spannende Weise in die Nachkriegszeit verlegt (aus der Schneekugel wird das winterliche, unzureichend entnazifizierte München, vormals "Hauptstadt der Bewegung"). Thompson aber ist als Held ungeeignet, eine Tochter Kanes gibt es nicht, die Liebesgeschichte entfällt.

David Thomson hält das für einen Mangel, weil er die ständig wiederholten Erzählmuster der amerikanischen Filmindustrie zugrunde legt. Viel weiter kommt man, wenn man dem Vorschlag folgt, den Jonathan Rosenbaum in Discovering Orson Welles macht (die beste Einführung in ein extrem vielschichtiges Werk): Citizen Kane nicht als einen Hollywoodfilm zu betrachten, sondern als einen Nicht-Hollywoodfilm, der in Hollywood und mit den Ressourcen eines etablierten Studios entstanden ist, ohne sich an die dortigen Regeln zu halten. Das befreit einen auch davon, Welles’ Karriere fast zwanghaft mit dem kometenhaften Aufstieg und dem langen Fall des Charles Foster Kane gleichsetzen zu müssen, wie es Buch um Buch gemacht wird.

Schneetreiben

Thompson ist fast nur von hinten oder als Schatten zu sehen, ist mehr schemenhafte Gestalt als körperliche Präsenz. Das passt gut zu einem, der in der Welt der Untoten unterwegs ist, doch hollywoodkompatibel ist es wieder nicht. Weil Kanes erste Ehefrau gestorben ist und die zweite nichts sagen will, sucht der Reporter die gruftähnliche Thatcher Memorial Library auf. Auch der Bankier Walter Parks Thatcher ist tot, hat allerdings ein autobiographisches Manuskript hinterlassen. Während Thompson die Passagen über Charles Foster Kane liest, sehen wir die Bilder dazu. Es ist das Jahr 1871. Erste Verbindungen zur Schneekugel: eine Winterlandschaft, ein kleiner Junge mit seinem Schlitten, ein Blockhaus. Mary und James Kane betreiben eine Pension. Ein Gast konnte die Rechnung nicht bezahlen und hat Mary eine Mine hinterlassen, in der ein riesiges Goldvorkommen gefunden wurde. Mary hat beschlossen, ihren Sohn Charles in die Obhut des Bankiers zu geben. Thatcher soll bis zu Charles’ 25. Geburtstag dessen Vormund und Treuhänder sein und ihn darauf vorbereiten, dass er eines der größten Vermögen in den USA besitzen wird. Er ist gekommen, um das vertraglich zu fixieren und den Jungen abzuholen.

Agnes Moorehead (Mary) und George Coulouris (Thatcher) waren Mitglieder von Welles’ Theatertruppe, des Mercury Theatre, wie die meisten anderen Darsteller in Citizen Kane auch. Das erlaubte ihm eine ästhetische Strategie, die ganz anders ist, als in Hollywood eigentlich erlaubt. Zur Konvention gehört(e) es, den Blick des Zuschauers durch eine Abfolge von Einstellungen oder durch die Hervorhebung bestimmter Elemente innerhalb einer Einstellung zu lenken. Welles stellt dem Gregg Tolands Weitwinkelaufnahmen und die von Toland revolutionierte deep focus cinematography entgegen, die Tiefenschärfe. Statt der zu erwartenden Bildmontagen mit Großaufnahmen als visuellen Ausrufezeichen gibt es lange, ungeschnittene Einstellungen und Kamerafahrten. Das wurde möglich, weil die Schauspieler Bühnenerfahrung hatten und daran gewöhnt waren, lange Dialoge zu sprechen, statt ein oder zwei Sätze zu sagen, um dann auf die nächste Einstellung zu warten wie die Akteure beim Film. Es gab auch kein Gefeilsche wegen der Großaufnahmen, die sich etablierte Filmstars oft vertraglich garantieren ließen.

Hier eine dieser mit Bildinformationen angefüllten Einstellungen, über die man lange nachdenken kann (und soll), statt sich vorschreiben zu lassen, wie man sie zu verstehen hat: Im Vordergrund sitzen Kanes Mutter Mary und Thatcher. Mary ist dabei, den Vertrag mit der Bank zu unterschreiben. Etwas nach hinten versetzt steht der Vater. In der Tiefe des Raumes, auf der anderen Seite des Fensters, ist der kleine Charles zu sehen, der draußen im Schneetreiben spielt, während im Haus über seine Zukunft bestimmt wird. Toland hat dafür gesorgt, dass alle Charaktere dieselbe Bildschärfe erhalten. Das ist eine der Einstellungen, die der Filmtheoretiker André Bazin als "demokratisch" bezeichnet hat, weil einem als Zuschauer die Wahl gelassen wird, wem man die größte Aufmerksamkeit schenkt und wie man die vier Personen zueinander in Beziehung setzt.

Konzentriert man sich auf die Mutter, der es sichtlich schwer fällt, ihren Jungen wegzuschicken? Auf den Bankier, der gerade ein gutes Geschäft macht? Auf den Vater, der das Geschäft ablehnt? Oder doch auf das Kind mit den zwei Vätern, die beide eine Bedrohung darstellen: der leibliche, weil er ein Prügler ist (ein Grund für Mary, Charles wegzugeben) und der Ersatzvater, weil er den Sohn von der geliebten Mutter trennen wird. Während die Erwachsenen noch die Formalitäten festlegen, macht der Knabe hinter dem Fenster mit sich selbst eine Schneeballschlacht. Damit ist das Leben von Charles Foster Kane auf den Punkt gebracht. Der einsame kleine Junge wird als alter Mann einsam sterben. Ein psychoanalytisch leicht deutbares Motiv für Kanes Handeln wird ebenfalls gegeben: es ist die Rebellion gegen den Ersatzvater, der ihn vom Bereich der Emotionalität (die Mutter) trennt und nicht nur der Repräsentant des Rationalen ist, sondern auch der Wall Street, der Prädestinationslehre und der protestantischen Arbeitsethik, was die Sache weiter verkompliziert. Die Kindheitsszene endet damit, dass Charles dem Bankier den Schlitten in den Bauch rammt (die erste von - natürlich - drei Konfrontationen zwischen ihm und Thatcher).

Frau in Weiß

Von der Thatcher Memorial Library führt der Weg zu Mr. Bernstein (einen Vornamen hat er scheinbar nicht), der für Kane die Geschäfte führte. Vielleicht kann er Aufschluss über Rosebud geben. Aber bevor Mr. Bernstein (Everett Sloane) sagt, dass er leider auch nicht weiß, was damit gemeint ist, muss sich Thompson eine Geschichte aus dessen Jugend anhören:

Leute erinnern sich an Dinge, von denen Sie das nicht glauben würden. Ich zum Beispiel. Eines Tages, es war im Jahr 1896, fuhr ich mit der Fähre hinüber nach Jersey, und als wir gerade losfuhren, erreichte eine andere Fähre den Anlegeplatz - und auf ihr war ein Mädchen und wartete darauf, aussteigen zu können. Ein weißes Kleid hatte sie an - und sie trug einen weißen Sonnenschirm - und ich sah sie nur eine Sekunde lang, und sie sah mich überhaupt nicht - aber ich wette, dass seither nicht ein Monat vergangen ist, in dem ich nicht an dieses Mädchen gedacht habe. Verstehen Sie, was ich meine?

Da ist sie also nun, die Lieblingsszene von Orson Welles. "Wenn ich in der Hölle wäre", meint er im Gespräch mit Peter Bogdanovich, "und wenn sie mir einen Tag freigeben und mich fragen würden: ‚Welches Stück von einem beliebigen Film, den du irgendwann gemacht hast, möchtest du sehen?’ würde ich mir diese Szene von Mank über Bernstein anschauen. Alles andere hätte besser sein können, aber das war genau richtig." Mank ist Herman J. Mankiewicz, Welles’ Co-Autor, dem er immer die Urheberschaft an der Szene zugesprochen hat, um dann anzufügen, wie gern er sie selbst geschrieben hätte. Dazu ist festzuhalten, dass man nicht alles glauben darf, was Welles in Interviews behauptet hat und dass es ein Memo des Mercury-Presseagenten Herbert Drake vom 26. August 1940 gibt, dem zufolge Mank starke Vorbehalte gegen die Szene hatte, die angeblich von ihm und die Welles die liebste war.

Wie dem auch gewesen sein mag - wichtiger als die Urheberschaft ist etwas anderes: Mr. Bernsteins Frage - "Verstehen Sie, was ich meine?" - lässt sich für den Reporter Thompson leicht beantworten. Er hat nichts verstanden. Für ihn ist die Geschichte von der Frau im weißen Kleid nur das Gerede eines alten Mannes, eine Abschweifung vom eigentlichen Thema, und fast glaubt man, den unterdrückten Seufzer der Ungeduld zu hören, mit dem er es über sich ergehen lässt. Beim zweiten Sehen des Films kann einem hier klar werden, dass der Reporter das Ziel seiner Recherche nicht erreichen wird. Paradoxerweise wird Thompsons Suche nach Rosebud scheitern, weil sie zu sehr auf Rosebud konzentriert ist. Dadurch verengt sich der Blick, was einem Film, der uns in jeder Einstellung eine Fülle von Informationen bietet, ohne sie auf Hollywood-Art für uns zu gewichten, nicht gerecht wird.

Citizen Kane hält den, der sich auf den Film einlässt und nicht leicht konsumierbare, vorab portionierte Häppchen verlangt, in einem Zustand gespannter Aufmerksamkeit. Zu den in die Tiefe des Raumes gestaffelten Bildebenen kommen Stimmen und Klänge, die man oft erst identifizieren und zuordnen muss (Welles, der Mann vom Radio, stattete seinen Erstling schon mit einem komplexen Sounddesign aus, als man in Hollywood noch gar nicht wusste, was das ist). Durch Mr. Bernstein öffnet sich ein weiteres Fenster in die (imaginäre) Welt, weil wir aufgefordert werden, uns die Szene mit den beiden Fähren vorzustellen, sie mit den Bildern unserer Phantasie zu füllen. Das ist bedeutsam, weil sich in Citizen Kane private Befindlichkeiten und öffentliches Handeln mischen, weil sie sich gegenseitig bedingen oder weil das eine am anderen scheitert.

Hier ein Tipp für das zweite Sehen: Bei jedem Dialog, in dem Rosebud erwähnt wird, ist im Bild ein Hinweis versteckt. Sie alle zusammen führen punktgenau zum Ende. Hier ist das Feuer in Bernsteins Kamin der Hinweis. Am Schluss gibt es einen Toten, der nur noch durch die Gegenstände existiert, die er einmal besessen hat, und ein Krematorium. Die Gegenstände werden danach sortiert, was verwertbar ist und was nicht. Mit dem Wissen von heute ist dieses Finale noch gruseliger als damals, 1941.

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