"Unnütze Monsterprojekte"

BER im März 2012. Bild: Yu Ming/ CC-BY-SA-3.0

Auf einer Veranstaltung in Berlin ging es um den Hintergrund der Kritik an teuren Großprojekten in Deutschland und Europa

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Nach dem schon viermal aufgeschobenen Eröffnungstermin beim Großflughafen Berlin-Schönefeld BER und dauernder Unklarheit über die Fertigstellung von Brandschutz-Vorkehrungen, jetzt also neue Kostenfragen, neue Umbau-Vorschläge, aufgebracht von Flughafenchef Mehdorn. Während er eine Eröffnung im Herbst vorschlägt wurde zugleich das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland eingeleitet, weil die BER-Planer auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung bei den Flugrouten verzichteten.

Dass "Vorfreude kaum noch vorhanden sei", meint die Morgenpost aus diesem Anlass. Drastischer ließe sich formulieren, dass das Chaos um das Großprojekt weitergeht, bei dem offenbar lange Zeit um Details der Umsetzung wie Sicherheitsbestimmungen und Anwohner-Zufriedenheit gepokert wurde. Und ums Geld: Wurden die Mehrkosten schon vor einem halben Jahr aufgestockt, bringt jetzt Mehdorn die laufenden hohen Betriebskosten als Argument vor, um eine Eröffnung, etwa im Herbst, vorzuschlagen. Und auch die würde wiederum mehr Kosten bedeuten, wenn eines der fertiggestellten Seitenpiere schon für den Passagier-Betrieb nutzbar werden sollte: Umbauten für Gepäckband und Sicherheitsschleusen würden dann anfallen. So spricht man jetzt davon, die Schwelle von 4,3 Milliarden Gesamtkosten eventuell doch auf etwa 5 Milliarden zu überschreiten.

Da zeichnet sich eine politische Argumentation ab nach der Art von "Zurück können wir sowieso nicht" ab, die an ein anderes Großprojekt erinnert, an den Tiefbahnhof "Stuttgart 21". Dass es noch mehr ähnliche Eigenschaften von Großprojekten gibt, die im Europa der Krisenlandschaft im Bau stehen und enorme Geldsummen verschlingen, analysierten Teilnehmende von Protestinitiativen aus Stuttgart wie aus Berlin auf einer Informationsveranstaltung sowie vom Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost/West am 31.5. im Berliner Haus der Demokratie zum Thema "Widerstand gegen unnütze Monsterprojekte".

Beispiel Schönefeld

Während in Berlin der Untersuchungsausschuss zum Eröffnungsdebakel um den BER-Flughafen weitergeht, sind selbst die Flugrouten noch nicht geklärt. Die Wannsee-Route wurde gerichtlich gekippt; über die Müggelsee-Flugroute, angefochten von Naturschützern und der Bürgerinitiative Friedrichshagen, steht der Prozesstermin am Oberlandesgericht Berlin im Juni an. Und die neuerliche Rüge aus Brüssel über die ignorierten Auswirkungen auf die Umwelt könnte dabei vielleicht auch ins Gewicht fallen. Am 30.5. reagierte die EU-Kommission auf die Beschwerde der Bürgerinitiative Friedrichshagen (am Müggelsee) und des NABU-Landesverbandes sowie der Grünen Liga und mahnte Berlin und Brandenburg um eine Stellungnahme an. Die Kritiker sehen die Naturregion gefährdet, in der sich geschützte Vogelarten aufhalten und wo der Boden Grundwasservorkommen birgt, die Berlin zu 30 Prozent mit Trinkwasser versorgen. Auch ist der Müggelsee bislang bedeutend als beliebtes Naherholungsregion am Stadtrand. Seitens der Flughafenplanung verweist man darauf, dass das deutsche Gesetz keine bindende Verpflichtung für die Umweltverträglichkeitsprüfung vorsieht. Ob eine Bedeutung des Flora-Fauna-Gebiets auf europäischer Ebene durchgefochten wird, bleibt abzuwarten.

Einzelheiten zur Bedenkenlosigkeit im Verlauf der BER-Planung erörterte Peter Leiß von der Friedrichshagener Bürgerinitiative, die sich gegen die künftige Lärmbelastung wie auch die Umweltbelastung wendete, auf der Veranstaltung im Haus der Demokratie. Bis 2011 war er Bezirksverordneter und umweltpolitischer Sprecher der Grünen in Treptow-Köpenick. Die Art, in der der Standort Schönefeld und die Müggelsee-Route von der Großflughafen-Planung gegenüber der Friedrichshagener Einwohnerschaft verhandelt wurde, verurteilt Leiß: "Wir sind reingelegt worden." Bis 2011 hätte es geheißen, die Müggelsee-Route sei vom Tisch. Später sei man mit der Flugroute konfrontiert worden; zu dem Zeitpunkt setzt der Protest mit unterschiedlichen Aktionsformen ein, etwa mit einer Menschenkette von 26 000 Personen rund um den See.

Die Einwände der Anwohner mündeten in die bekannte "Fluglärm-Debatte", bei der die Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg GmbH mit Aufsichtsratsmitglied Klaus Wowereit den Weltstadt-Charakter des BER in Schönefeld vordringlich betonte und Mehdorn äußerte, dass Rund-um-die-Uhr-Flüge modernen Anforderungen entsprechen würden, an die man sich zu gewöhnen habe. Die Initiative beharrt auf einem Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr. Ein Volksbegehren verfehlte die erzielte Stimmenzahl, nun hofft man auf den gerichtlichen Weg. Seit hundert Wochen genau seien die Anwohner regelmäßig mit Montagsdemos auf dem Marktplatz präsent, derzeit mit 1000 bis 2000 Personen; die Initiative setze sich aus "Bildungsbürgertum" zusammen: Akademiker, Künstler, Ingenieure.

Die Lärmbelastung sei nicht zu bagatellisieren, so Peter Leiß von der Initiative: Mehr als 850.000 Einwohner würden unter der Flugroute einer starken Dezibel-Belastung von 40 bis 70 db (A) ausgesetzt werden. Von den acht vorgesehenen Hauptrouten sei die Müggelseeroute bei weitem am stärksten lärmbelastet mit einem Gütewert, der zehn-bis zwanzigmal höher liege als bei anderen Routen. Auch moniert die Initiative weiterhin den Standort selbst. Die nahe Lage zu Friedrichshagen sei unvertretbar; man erinnert daran, dass der Schönefeld-Flughafen nur 16 Kilometer Luftlinie vom Großstadtzentrum entfernt ist, und dass der Standort Sperenberg, der früher im Gespräch war, 43 Kilometer entfernt liege.

Tiefbahnhof Stuttgart 21

Nicht nur Kostenexplosion und ungeklärte Sicherheitsstandards sind Merkmale, die das Schönefeld-Projekt mit dem Projekt für einen Tiefbahnhof Stuttgart 21 gemeinsam hat. Der anhaltende Widerstand von Stuttgarter Einwohnerinnen und Einwohnern - hier wurde bereits die 174. Montagsdemo durchgeführt- hat Bekanntheit erlangt und verfügt schon über seine eigene Geschichte. Auch bei dem Großprojekt für die unterirdische Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs schnellten die Kosten immer weiter nach oben. Eine "Sollbruchstelle" für den Finanzaufwand in Höhe von 4,5 Milliarden Euro, noch in 2011 von Bahnchef Rüdiger Grube formuliert, wurde bis heute auf 6,8 Milliarden überschritten. Gegenwärtig wird von den Investoren und der Politik geltend gemacht, dass die Ausstiegskosten nicht zu verantworten seien.

So sei gegenwärtig von Politik und Deutscher Bahn AG ein Festhalten an "S 21" mit der Haltung "Es ist unwirtschaftlich, aber wir machen das jetzt weiter" zu beobachten, bemerkt Annette Ohme-Reinicke, Soziologin und Lehrbeauftragte an der Universität Stuttgart, die in der Protestbewegung mitwirkt und darüber das Buch "Das große Unbehagen. Die Protestbewegung gegen Stuttgart 21. Aufbruch zu neuem "bürgerlichen Bewußtsein"?" geschrieben hat.

Das Fortfahren mit dem Projekt, bei dem die kritischen Einwände über den Nutzen nicht beigelegt, sondern viel eher von Werbekampagnen übertönt worden seien, sei im Zusammenhang mit einer "Beschleunigungs-Ideologie" zu sehen abseits von Argumenten, so Ohme-Reinicke. Mit ersten Maßnahmen des Baus wurde begonnen, Nord- und Südflügel des Bahnhofs wurden abgerissen und der Schlosspark umgegraben. Zugleich bleibt der Protest mit Montagsdemonstrationen zwischen 2000 und 5000 Personen präsent sowie mit einer permanenten Mahnwache im Schlossgarten. Nachdem die Unwirtschaftlichkeit offenkundig wurde und sogar die DB AG die Zahlen des Bundesrechnungshofs von der defizitären Finanzplanung übernahm, sieht Ohme-Reinicke eine neue Phase in der öffentlichen Befassung mit dem Projekt beginnen: Die Einwohnerschaft, die sich am Thema Stuttgart 21 politisiert hatte, informiere sich jetzt wieder verstärkt bei den präsenten Protestgruppen im öffentlichen Raum.

Damit könnte eine vergleichsweise ruhige Phase abgeschlossen sein, die nach der medialen Debatte mit Schlichter Heiner Geißler ansetzte: "Das Schlichtungsgespräch, bei dem Geißler schließlich zum Weiterbau aufforderte, wurde allgemein für bindend gehalten. Damals setzte die landesweite Abstimmung und die umfassende Werbekampagne der Projektinhaber an, und die Mehrheit wollte Ruhe, erklärte sich mit S 21 einverstanden", führt Ohme-Reinicke aus. Jetzt, zwei Jahre später, sehe die Situation wieder anders aus, aufgrund der Kostenlage stehe das Projekt öffentlich wieder zur Disposition. Und schließlich sei auch aus den vergangene Protesten eine andere Sozialkultur geblieben, bei der sich bürgerlichen Gruppen verbunden hätten und sich über aktuelle Verhältnisse wie die Finanzkrise austauschten.

Auch bei dem Stuttgarter Projekt ist nicht geklärt, ob entscheidenden Sicherheitsstandards Genüge getan wird: Der Brandschutz sei problematisch, sagen die Kritiker zum Beispiel bei Bahn für alle, da die Bahnhofsneigung erschwerte Bedingungen bringe. Es seien nicht ausreichend sichere Fluchtwege gewährleistet.

Des weiteren zählen Umweltauswirkungen auch zu den Kritikpunkten der Gegner von "Bahn für alle", von "Grüner Liga", "Attac", Junge Sozialdemokraten und weiteren Gruppen. Der Schlosspark mit 280 Bäumen diente bislang als beliebtes Naherholungszentrum in der Stadt. Bei Grabungen für den unterirdischen Bahnhof würden in das Reservoir der fließenden Mineralströme hineinwirken. "Aus den Baugruben müssten etwa 17 Millionen Kubikmeter Grundwasser abgepumpt werden, eine Menge, die über 5000 Sportschwimmbecken füllt", schreibt Ohme-Reinicke. In ihrem Buch führt sie außerdem aus, dass das Vorhaben paradoxerweise nicht die Aufwertung der Schiene bringe, sondern die Aufwertung des Autos, da mit der Tieflegung des Bahnhofs die Eisenbahn aus dem Stadtbild verschwinden würde und- "passend zur Autostadt Nummer eins" - Daimler und Porsche das Bild der Stadt prägen würden.

Der neu umgebaute Bahnhof könnte in der Kessellage nur über weniger Gleise verfügen: 8 anstelle der bestehenden 17 im aktuellen Hauptbahnhof, eine Kapazitätseinschränkung also. Dementsprechend mahnt auch das Bündnis "Bahn für alle" an, dass auf die Fahrgäste in Stuttgart künftig Einschränkungen wie vielleicht das Umsteigen in Busse oder Autos zukommen würde. Der Prestige-Charakter, der offenbar für die Befürworter von Stuttgart 21 bedeutsam ist, liegt in der Umwandlung des Kopfbahnhofs in einen Durchgangsbahnhof, wobei geplant ist, mehr Züge durchzuschleusen als bisher, und ein Weltstadt-Charakter Stuttgarts hervorgehoben wird. Unter dem Label der Stadterneuerung seien umfassende Spekulations- und Handelsobjekte anvisiert worden, schreibt Ohme-Reinicke: "Städteplanerisches Neuland, Bodenspekulationen, Kaufhausbau, Bauaufträge.. ."

Seit das Projekt in 1994 öffentlich bekanntgemacht wurde und von CDU-Stadtregierung und CDU-Landesregierung sowie Bahn AG und interessierten Investoren als Zukunftsinvestition beworben wurde, hätte sich der Protest von Kritikern formiert. Dabei gingen Anwohner zunächst von dem Anliegen aus, den städtischen Lebensraum mit Naherholungszentrum Stadtpark und einem klassischen alten Bahnhofsgebäude zu bewahren. Eine Protestkultur sei entstanden, in der man gegenüber medialer Meinungsmache versuche, unabhängig Informationen zu gewinnen und zu verbreiten, und in der der "Kopfbahnhof Stuttgart" als Begriff für eine eigenständige Suche nach städtischer Lebensqualität verwendet wurde.

Bezeichnend für Stuttgart 21 sei die Art, in der politisch mit der Kritik der Stadtbewohnerschaft verfahren wurde, befand Ohme-Reinicke. In 2010 wurde der erfolgreiche Bürgerentscheid des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 parlamentarisch abgelehnt und mit Werbekampagnen seitens des Bürgermeisters beantwortet. Zu dem Zeitpunkt sei für die Protestierenden deutlich geworden: "Man will uns kein demokratisches Verfahren zugestehen und uns ernst nehmen." An diesem Punkt hätten breite Proteste eingesetzt mit angemeldeten und unangemeldeten Straßenbesetzungen, Blockaden und Großdemonstrationen. Damals waren 70 Prozent der Stuttgarter gegen das Bauprojekt.

Strategische Interessen hinter den angeblich "unnützen" Großprojekten

Erörtert wurde auf der Veranstaltung auch der strategische Charakter von Bauprojekten. So formulierte Willi Hajek vom AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost/West einen Zusammenhang vom politischen Vorgehen bei Bürgerprotesten in Stuttgart, in Berlin und an anderen europäischen Orten, zum Beispiel im französischen Nantes und resümierte, dass das Erscheinen von Bürgern, "die sich Gedanken machen und aus ihrem Wissen heraus Vorschläge machen", unerwünscht sei. In Nantes liefen seit Jahren die Auseinandersetzungen um einen Großflughafen; Kritik der anwohnenden Bevölkerung finde keinen Eingang in Erwägungen bei der Stellvertreterpolitik. "Übereinstimmend sind diese europäischen Großprojekte darin, dass sie politisch mit wachsendem Verkehrsaufkommen begründet werden, und des Weiteren mit einem Drängen, die Städte zu Metropolen aufzuwerten."

Nutzen zeichne sich aber an keiner Stelle ab. Ausschlaggebend sei der Wunsch nach Kapitalverwertung und -bewegung und nach kurzfristigen Renditen für die beteiligten Baugesellschaften. In Spanien existierten derzeit 17 Flughafengelände, zum Teil fertiggestellt, die ungenutzt seien. Eine zusammenhängende Eigenschaft hätten die "Monsterprojekte" europaweit, da politisch auf ihrer Durchsetzung beharrt werden müsse, meint Hajek: "Wenn eines der Projekte fallen gelassen wird, dann könnten die anderen auch fallen."

Ohme-Reinicke erinnerte demgemäß an die politischen Stellungnahmen zum Stuttgarter Bürgerprotest in seiner heißen Phase im September 2011: "Ein Scheitern von S 21 würde die parlamentarische Demokratie auf den Kopf stellen." Man wollte den Prozess der Stellvertreterpolitik unter allen Umständen beibehalten, und Angela Merkel äußerte, Stuttgart 21 wäre Teil eines europäischen Projekts; die deutsche Regierung wäre gegenüber den anderen Amtskollegen nicht mehr verlässlich, wenn hier wegen Protesten mit dem Projekt aufgehört würde.

In diesem politischen Klima seien damals auch die starken Wasserwerfer-Repressalien gegen die Demonstranten aufgekommen. Prestige-Projekte in Europa, schätzte Ohme-Reinicke ein, seien erstens schon wegen ihrer Größe für Wirtschaftsunternehmen interessant und würden nicht zuletzt deswegen politisch durchgesetzt, weil dafür Steuergelder eingesetzt werden. Sind erst öffentliche Mittel für die Finanzierung geflossen, heißt es, sei ein Abbruch sei nicht mehr vernünftig, danach setzten PR- und Imagekampagnen für eine Akzeptanz der Projekte ein. Die seien einer unabhängigen Meinungsbildung entgegengesetzt.

So ging es seitens der Vortragenden anschließend auch um die Frage, wie sich Bevölkerungsgruppen unabhängig informieren und wirksam gegen aufgezwungene Projekte ohne gesellschaftlichen Nutzen eintreten könnten. Für "eine aufgeklärte Bevölkerung" sei Vernetzung nötig. Möglich sei das bei der Demonstration der S21-GegenerInnen am 15.6. und in den gegenwärtigen Aktionsbündnissen bei den Krisenprotesten und im "Dritten europäischen Forum gegen unnütze Großprojekte", das diese Jahr in Stuttgart tagt. Die ersten beiden Foren zur Vernetzung, um außerparlamentarischen Protest gegen technische Großprojekte zu koordinieren, fanden 2011 im Susatal in Italien und 2012 in Notre-Dames-des-Landes statt.