"Uns’re Lait werden dann Schossehstein klöppern"

Seite 2: Reuter, der "Judenfreundlichkeit" verdächtig?

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Nun ist der Autor Fritz Reuter gar kein ausgewiesener Judenfeind2: Dem jüdischen Arzt Dr. Michael Liebmann (1810-1874) in Stavenhagen war er z.B. freundschaftlich verbunden. Beide Männer unterstützten sich gegenseitig bei ihren wohltätigen Projekten (Kriegsverwundetensorge 1866, Krankenhausbau in Stavenhagen). Reuter schrieb an Liebmann 1867:

… weil ich seit langen, langen Jahren Dein treues und ehrenvolles Wirken in Deinem Berufe und Deine Liebe und Freundschaft für mich kenne, so sende ich diese Gabe an Dich. Dir, dem Juden, der in trübster Zeit, in Not und in Tod treu zu mir gestanden hat, verdanke ich viel mehr als manchem, durch seinen Glauben aufgeputzten Christenmenschen.

In Reuters Roman Ut mine Stromtid von 1862 erscheint Liebmann als "Doktor Soundso". In diesem Werk wird besonders dem Mecklenburger Juden Moses Isaak Salomon (1768-1837) aus Stavenhagen ein ehrendes Denkmal gesetzt. Vor allem wegen dieser literarischen Gestalt des Moses fühlte sich 1942 der Reuter-Forscher Willi Finger-Hain veranlasst, Reuter in der SS-Reichszeitung "von der Verdächtigung der Judenfreundlichkeit frei" zu sprechen.

Schließlich soll der kluge Dr. Michel aus dem "Läuschen un Rimels"-Gedicht De swarten Pocken , der die Folgen einer von "Cirurgus Jakob Kalw" verordneten Behandlung aufklärt, den kundigen Leser an den jüdischen Sanitätsrat Dr. Michel Marcus in Anklam erinnern, mit dem Reuter ebenfalls bekannt war.

Hans Otto Horch vermerkt 1985 in einem Beitrag über "Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur"3, dass der Dialekterzähler Fritz Reuter sich zwar nicht scheue, "des öfteren auf geläufige Klischees der Judendarstellung - vor allem die Memesis des ‚Judendeutsch’ - zurückzugreifen", aber in der Summe erweise "sich sein Judenbild als so differenziert und individualisierend, dass jeder Versuch einer Inanspruchnahme des Autors von antisemitischer Seite scheitern" müsse (S. 151). Dies gelte "trotz einiger als antisemitisch interpretierter früher satirischer Judenfiguren". "Die Juden", so wird behauptet, "werden von Reuter nicht als Außenseiter geschildert, sondern als Teil des humoristisch getönten Sprachkosmos der heimatlichen Provinz; die Kritik an ihnen ist nicht anders zu bewerten als die an adeligen Gutbesitzern, Pfarrern, Bauern und Landarbeitern Mecklenburgs; im Individuum werden Züge als typisch hervorgehoben, ohne dass daraus eine generelle vorurteilsbestimmte Verurteilung eines ganzen Standes erwüchse" (S. 152).

Doch das Judenbild der oben angeführten Schwänke ist ja keineswegs "so differenziert und individualisierend" (S. 151), wie man es nach einer solchen Diagnose erwarten würde. Bezeichnenderweise führt Hans Otto Horch aus Reuters "Läuschen un Rimels" lediglich den Schwank En Schmuh unter Nennung des Titels an, und zwar als Lob auf den noch nicht emanzipierten, orthodoxen Handelsjuden, der im "Festhalten an einer ehrwürdigen Tradition […] ein Beispiel unangepassten Verhaltens" gibt (S. 152). Bei diesem Verweis kann es sich nur um ein Missverständnis oder gar um eine Textverwechslung handeln, worauf wir noch zu sprechen kommen. Der selektive Blick macht Horchs Versuch einer sehr positiven Reuter-Interpretation nicht unbedingt glaubwürdiger, denn auch die gereimten "Läuschen un Rimels" erzählen ja etwas (und zwar mitten in jenes Bürgertum hinein, in dem auch heute islamophobe und andere menschenfeindliche Stereotype hoffähig sind).

In Reuters 1860-1864 entstandenes Satirefragment De Urgeschicht von Mecklnborg , so Horch weiter, seien es nicht die hebräisch sprechenden Nachkommen Sems, sondern gerade die "plattdeutsch redenden ‚Japhiten’", von denen eine "Perversion des Stände- und Kastenwesens" ausgehe (S. 152). Im Roman Ut mine Stromtid von 1862 würden einander "der alte Rahnstädter Jude Moses als ‚Christ’, der christliche Gutsbesitzer Pomuchelskopp jedoch als ‚Jude’ […] idealtypisch gegenübergestellt" (S. 153). Der orthodoxe Moses verweigert sich den Forderungen aufgeklärter Reformjuden und beharrt auf dem gleichberechtigten, genuin jüdischen Beitrag für ein humanes Gemeinwesen. Gerade deshalb, so Horch, werde diese Romanfigur "zum Plädoyer konsequenter Aufklärung, insofern sie gerade als nicht angepasste, als (scheinbar) fremde dem Leser zur Identifikation angeboten wird" (S. 153).

Im Gegensatz zu dieser Interpretation überzeugen Horchs nachfolgende Ausführungen zum späten Reuter ob ihrer allzu offenkundig entschuldigenden Tendenz nicht: "Wenn Reuter, gezeichnet von Krankheit, im Alter - angesichts der von Bismarck inszenierten Kriege von 1866 und 1870/71 - scheinbar wieder in unreflektiertes Poltern gegenüber ‚Judenbengeln’ wie Heine zurückfällt, so ist diese ‚momentane Entgleisung’, wie Gotthard Deutsch hervorhebt, ein ‚Atavismus’, der auch ‚bei den aufrichtigsten Liberalen’ vorkomme." (S. 154)

Schon um 1900 gab es Anlass, einer "Vereinnahmung" Reuters durch Antisemiten in der Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens entgegenzutreten. Eine gründliche Reuter-Studie hätte aber aufzuzeigen, dass das Werk doch auch bedenklichen Zündstoff für eine diesbezügliche "Vereinnahmung" liefert. Ein vertrauter Umgang mit einzelnen Juden, so wird man später z.B. am extremen Beispiel des letzten Hohenzollern-Kaisers lernen können, offenbart nicht unbedingt schon die ganze Gesinnung. Schließlich gibt es keinen Grund, Widersprüche innerhalb eines "Autor/Werk"-Komplexes zu glätten oder gar aufzulösen.

So kann man etwa Reuters hochdeutsche Abenteuer des Entspekter Bräsig von 1861 durchaus auf ganz verschiedene Weise lesen. Schaut "Onkel Bräsig" wirklich nur in Gegenwart des wenig judenfreundlichen preußischen Beamten ganz scheinheilig auf die ganze "Juden-Bagage" herab, die ihn angeblich "verführt" hat? Als sachverständiger Dienstleister bei einer jüdischen Handelsangelegenheit kommt Bräsig wirklich in große Kalamitäten; nur sollte man als aufmerksamer Leser nicht vergessen, weshalb das Unheil der ganzen Geschäftsreise eigentlich seinen Lauf genommen hat: Ein "besoffener Jude" zählte - vermutlich aufgrund eines tradierten Verhaltenskodexes der verwundbaren Minderheit - im 19. Jahrhundert sprichwörtlich zu den jenen Wunderdingen, die man nie zu sehen bekommt. Aber Bräsigs Kumpanen setzen alles daran, ein solches "Wunder" mit freundlicher Nötigung wahr werden zu lassen.

Der "klitzekleine Zimtjude" im Quickborn von Klaus Groth

Der viel mehr nach rückwärts ausgerichtete Holsteiner Klaus Groth (1819-1899) will - anders als der von ihm kritisierte Reuter in den "Läuschen un Rimels" - nicht "plumpe, unwissende oder schmutzige, schlaue Figuren" mit einer z.T. "schluderigsten Sprechweise" vorführen, sondern ideale "Volkspoesie". Sein berühmter Quickborn enthält ab der ersten Auflage 1852/53 das Gedicht Kaneeljud, in dem ein "klitzekleiner Zimt-Jude" die Idylle des "Volkslebens" bereichert:

Luerlüttje Kaneeljud!
Wa süht he verdweer ut!
Hangt Band ut, hangt Trand ut,
Handelt allerallerhand Grandgut.

Isak, is dat Schipp kam?
Is min Säwel mitkam?
Krieg’k en Wagen, krieg’k en Popp,
Krieg’k min Hot mit Feddern op?

"Kinner, noch nicht!
Tokum Johr kumt’t vellicht!
Dat Woter weer dick worn,
Mät teebn bet de Glicksorn!"

Luerlüttje Kaneeljud!
Wa süht he fidel ut!
So afscharn, so utfrarn,
Snackt jimmer, jimmer vun de Glücksaarn.

Abraham, wo büst du?
Vater Abram, sühst du?
Truerbom vun Babylon,
Wo’s de weise Salomon?

Zu diesem Text ist neben ganz unterschiedlichen hochdeutschen Übersetzungen auch eine neuere englische Übertragung Cinnamon Jew! von Reinhard F. Hahn abrufbar. Der jüdische Gewürzhändler bzw. Hausierer ist sehr klein von Gestalt und sieht irgendwie "quer" bzw. "verdreht" aus (beide Beschreibungen entsprechen bekannten Stereotypen). Isaak handelt, was seinem äußeren Erscheinungsbild entspricht, mit ganz unbedeutendem Kleinkram bzw. Ramsch. Vermutlich hat er den Kindern, die ihn jetzt neugierig umringen, bei einem früheren Besuch des Ortes von einem Schiff erzählt, das schöne Dinge mit sich führen wird (Säbel, Wagengespann, Puppe, Federhut). Doch nun lehrt er, der Lebenserfahrene, den Kleinen die Geduld: "Das Schiff kommt, jetzt noch nicht, aber vielleicht nächstes Jahr. Ihr müsst warten, Kinder, warten auf die Glücksernte." Isaak sieht fidel aus, aber gleichzeitig auch abgeschoren und ausgefroren. Unentwegt spricht er von der kommenden Glückszeit …

Klaus Groth (Gravur von Moritz Johannes Klinkicht)

Klaus Groth macht uns bekannt mit einer ärmlichen und vielleicht sogar bewundernswerten Gestalt. Durch die Schluss-Strophe rückt ihre tragische Seite in den Vordergrund. Dies ist schon vorbereitet durch ein vorangestelltes Zitat aus Lord Byrons Hebrew Melodies von 1815:

But we must wander witheringly,
In other lands to die;
And where our fathers’ ashes be,
Our own may never lie:
Our temple hath not left a stone.
And Mockery sits on Salem’s throne.

Dieses Zitat aus dem Gedicht "The Wild Gazelle" fällt in den frühen Quickborn-Editionen zusehends kürzer aus und kann in hochdeutschen Lesehilfen auch ganz entfallen: "Vom Tempel ist kein Stein geblieben; die Häme hockt auf Salems Thron." Groth selbst steht mit seinem plattdeutschen Gedicht wohl kaum auf Seiten der Häme.

Einer der frühen hochdeutschen Übersetzer macht aus dem "klimperkleinen Zimtjuden", der in Groths heimatlicher Landschaft als Hausierer Gewürze feilbietet, 1856 kurzerhand einen "Schacherjud’" mit Spitzhut4, ein anderer setzt etwa zeitgleich "Mauschel"5 an die Stelle. In der vom Dichter selbst autorisierten Übertragung bleibt das Wort "Lüerlüttje Kaneeljud’" hingegen ohne Übersetzung.6 Mehr als irritierend ist die finster wirkende Illustration zu diesem Gedicht nach einer Zeichnung von Otto Specker, die man in einer Quickborn-Ausgabe von 1930 findet (Meersburg und Leipzig: Verlag F.W. Hendel).