Unter einer blauen Sonne
Der Hollywood-Film Flightplan, Farben im Kino und Jodie Foster als eine Mischung aus Leonardo da Vinci und Franz Kafkas K.
Schneeflocken fallen vom Himmel, der Berlin wie eine wollige Winterdecke überzieht, ohne jedoch die Stadt zu erwärmen. Es ist kalt, fast schon ein bisschen menschenfeindlich – ein Szenario, das Kyle Pratts (Jodie Foster) innere Vereisung bestens widerspiegelt. Sie hat gerade ihren Mann verloren. Die Bestürzung über den unerwarteten Tod scheint ihren Verstand zu paralysieren. Sie navigiert quasi willenlos durch den urbanen Frost, erledigt, was zu erledigen ist, um nach Besuch des Leichenschauhauses mit ihrer Tochter das Flugzeug zu besteigen. Im Flieger reproduziert sich die Stimmung des winterlichen Berlin, doch Pratt erwacht bald zu neuem Leben. Ihre Verwandlung ist nicht immer überzeugend, zumindest was die narrativen Qualitäten des Drehbuchs anbetrifft. Dafür hat Fosters Rolle auf pop-mythologischer Ebene umso mehr zu bieten.
Das Interieur des fiktiven Doppeldeckers von Aalto Air schimmert in monochromen Farben. Die Kälte von Draußen kommt hier als eine artifizielle Inszenierung aus Licht, Design, Farbe, Geruch und Temperatur daher. Als der Sarg ihres Mannes an Bord gelotst wird, schaut Pratt mit ihrer Tochter aus dem Kabinenfenster und sagt zu ihr: „Wenn Du aufwachst, sind wir in New York“. Die Kleine setzt ihren Zeigefinger auf die beschlagene Fensteroberfläche und zeichnet damit die Konturen eines Herzens nach. In dieser frühen Schlüsselszene verdichten sich die zentralen Motive von „Flightplan“ (2005).
Der Sarg wird in das Flugzeug eingeführt wie ein Ventil, dass die Membran zwischen Außen- und Innenwelt abdichtet. Die Gedanken und Gefühle der beiden können gleichsam nur in Gebärdensprache kommuniziert werden. Sie sind unaussprechbar, und sie spiegeln sich in den glatten, stromlinienförmigen Oberflächen des Flugzeugs wider, die in mannigfaltigen Variationen des Monochromen schimmern. Die Reise, die in diesem Augenblick beginnt, ist Heimkehr, Begräbnisfahrt und der Eintritt in den Himmel zugleich. Es ist der Übergang in eine neue Existenzstufe. Klar, hiermit beginnt ein neues Kapitel. Aber wie lautet die Überschrift?
Kurz nachdem im 747 Jumbo Jet das „Fasten your seatbelts“-Zeichen deaktiviert wird, legen sich Mutter und Tochter schlafen. Als die Mutter nach einer Weile wieder ihre Augen öffnet, ist die Tochter verschwunden. Einfach so. Ist sie vielleicht auf der Toilette eingeschlafen oder spielt sie möglicherweise in der Lounge? Pratt lässt nichts unversucht, um ihr Kind zu finden. Doch vergeblich. Je länger die Suche andauert, desto stärker verwischt die Spur. Irgendwann heißt es, die Siebenjährige sei nie an Bord gewesen. Passagiere können sich nicht an sie erinnern, der Kapitän hat keine Bordpapiere zu ihrer Person. Dann erreicht eine Funknachricht die Besatzung: Es heißt, die Tochter sei schon seit geraumer Zeit nicht mehr am Leben.
Fühlte man sich angesichts der klaustrophobischen Enge und der Mutter-Tochter-Konstellation eine Weile lang an Panic Room (2002) erinnert, kommen nun Filme wie „The Sixth Sense“ (1999) oder „The Others“ (2001) in den Sinn. Gespensterfilme also. Psycho-Thriller, bei denen nicht klar ist, was paranoide Projektion und was Wirklichkeit, beziehungsweise, was übernatürlich und was realistisch ist. Ist Pratt vorhin wirklich aufgewacht, oder schläft sie in Wirklichkeit noch und träumt das alles nur? Während nicht klar ist, auf was für einer Realitätsebene die Handlung angesiedelt ist, bleibt das einzig verbindliche Moment die Spannung, die sich nicht zuletzt aus der subtilen Atmosphäre an Bord ableitet.
Spannung als Droge und Beziehungsvielfalt
Alles findet vor den Augen der Passagiere und in der Höhe von 37.000 Fuß statt. Der Luftwiderstand lässt das Flugzeug immer wieder sanft erschüttern. Es ist diese Mischung aus Big-Brother-Transparenz und konstanter, in physischen Gegenständen sich entladender Nervosität, die den Ausnahmezustand von Minute zu Minute intensiver köcheln lässt. Jede Bewegung, der immer hektischer und aggressiver werdenden Pratt, wird von einem aufwendig orchestrierten Soundtrack und einer subtilen Wucht monochromer Farbvariationen verstärkt. Die Spannung wirkt hier mehr als bei anderen Filmen wie ein perfekt dosierter Sinnes-Cocktail, dessen gemeinsamer Nenner Blau ist.
Blau als Farbe, die alle anderen Farben wie eine Flüssigkeit, wie Luft oder besser noch: wie eine immaterielle Substanz durchdringt und die den kühlen Ton des Films veredelt. Blau als Symbol für Ferne, Weite, Himmel, Anderswo und nicht zuletzt – als Symbol für den Tod. Doch bevor „Flightplan“ jenen Punkt erreicht, den Buena Vista International unter Anflehung der Journalisten auf keinen Fall an das Kinopublikum verraten wissen möchte, „um das Kinoerlebnis der Zuschauer nicht zu beeinträchtigen“, bevor also dieser zentrale Wendepunkt erreicht ist, der klar macht, welcher Filmrealität man gewahr wird, macht sich ein Gefühl von Überdruss breit.
Wie so oft dient auch hier die Choreographie des Films offenbar nicht der Verfeinerung der Erzählung, sondern der Kontrolle des Zuschauers mittels Spannung, die sich mental, emotional, aber auch körperlich äußert. Das monochrome Meer in Blau mutet wie jene Farbenexplosion an, in der Vilém Flusser die Programmierung des Menschen zu einem willenlosen Kaufinstrument sah. Das Gefühl nach dem Ende des Films unterstützt diesen Eindruck. Ja, „Flightplan“ ist wie ein Flug strukturiert. Doch während man nach einer realen Luftreise ausgelaugt ist, spürt man nach dem Filmtrip so gut wie nichts von der audio-visuellen Wegstrecke. Waren Körper, Geist und Emotion während der gesamten Spieldauer sprichwörtlich eingespannt, dann ist danach von der Spannung nichts mehr zu spüren. Auch emotional hinterlässt der Film keine Spuren.
Trägt das Hollywood-Debüt von Robert Schwentke vielleicht deshalb den Untertitel „Ohne jede Spur“? „Flightplan“ als saubere, verbraucherfreundliche Produktion, deren wohlkalkulierte Wirkung für zwei Stunden maximale Spannung und danach das Löschen aller sinnlichen Impulse aus dem Nervenzentrum garantiert? Visuelles Fastfood als Instant-Injektion? Mit dem drängenden Hinweis des Verleihs, die entscheidenden Storylines und Wendepunkte des Films nicht zu verraten, erhärtet sich der Eindruck, dass der Film genau so und nicht anders angelegt ist: Spannung steht im Vordergrund und sie muss rationell verwaltet werden. Doch wenn ein Film nach einigen Wochen dennoch irgendwie zu denken gibt, vielleicht weil man eine neue Perspektive gewonnen hat, aus einer Distanz heraus, die man im Kino – in der Zwangsjacke der synästhetischen Produktion sitzend – nicht aufbauen konnte, dann beginnt die Auswertung des Gesehenen von Neuem.
Ist es wirklich angemessen, besagte Wendepunkte dermaßen in den Vordergrund zu rücken? Ist die Spannung, die an besagten Stellen ihre Zuspitzung und Umpolung erfährt, wirklich das Besondere des Films? Wer die unerwarteten Wenden privilegiert, privilegiert die Betrachtung des Films unter den dramaturgischen Gesichtspunkten, die den Film als ein Erzählformat entwerfen, das bis auf die letzte Minute durchgetaktet ist. Das Erlebnis kontinuierlicher Anspannung reduziert sich hierbei auf einen Höhepunkt. Wie bei bestimmten Praktiken von Sex und Drogenkonsum baut diese Form von Spannung auf unmittelbare Wiederholung – Flussers ferngesteuertes Konsumsubjekt lässt grüßen! Doch die Warenlogik dieses Films kennt noch eine andere Spielart von Spannung, die subtiler ist, ergiebiger, letzten Endes auch zufriedenstellender.
Wenn man aus der Distanz schaut, nimmt sich die auf den Höhepunkt hin orchestrierte Spannung des Films banal aus im Vergleich zu jener besonderen Spannung, die der Film auf leisen Sohlen über eine Beziehungsvielfalt der Impulse und Zeichen entfaltet. Dieser Spannungsreichtum von „Flightplan“ beginnt nicht zuletzt mit dem Spektrum an Möglichkeiten, die Blau als Orientierungssystem durch den Film bietet. Susanne Marschall etwa erinnert in ihrem just im Schüren Verlag erschienen Buch Farbe im Kino, wie unterschiedlich Blau kodiert sein kann. So spricht etwa die relativ arbiträre Auflistung einiger Filme, die die Farbe im Titel tragen, in diesem Zusammenhang Bände: „Blue Lagoon“ (1980), „Blue Steel“ (1990), „Trois Couleur: Bleu“ (1993), „Le Grand Bleu“ (1988), „Blue Velvet“ (1986), etc. Romantik, Gewalt, Einsamkeit, Ferne, Unergründbarkeit – all das lässt sich mit Blau in Szene setzen und assoziieren. Welche Beziehungsvielfalt eröffnet Blau aber in „Flightplan“?
Gedankenspiele zwischen Panik und Plan
Spätestens seitdem die Künstlergemeinschaft „Blauer Reiter“ das Manifest einer neuen „geistigen Kunst“ schrieb, wird Blau auch als Farbe des Geistes gehandelt. Als die Farbe der Vorstellung, des Denkens, des Träumens, etc. aber auch als die Farbe jenes Raums, in dem diese Prozesse stattfinden: dem Kopf. Wenn wir den Anfang des Films noch einmal Revue passieren lassen, dann können wir das Betreten des Flugzeugs auch als das Betreten eines solches Raums lesen. Was drinnen vor sich geht, sind innere, zerebrale Prozesse, bei denen die Neukonfigurierung von Pratts Existenz durchgespielt wird. Der Zuschauer folgt den Passagieren allerdings noch in einer zweiten Hinsicht in das Hirn von Kyle Pratt, denn sie ist die Architektin dieses Flugzeugs! Sie hat es konzipiert, entworfen, durchdacht und der Konstruktion in ihrer Eigenschaft als Ingenieurin auch beigewohnt.
Pratt kennt die Maschine, die in ihrer Architektur vage an das Airbus-Modell erinnert, wie ihre eigene Wohnung. Mehr noch: Während sie sich in ihrer Wohnung blind bewegen könnte, kann sie in diesem Kaufhaus-großen Flugzeug theoretisch auch blind die Sicherheitssysteme, Stromnetzwerke, etc. bedienen. Sie kennt die Maschine in- und auswendig! Die Flugzeugingenieurin hat ihr Baby als Schaltplan auf dem Schirm, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie stolz darauf ist. „It's the biggest", wie Pratt ihrer Tochter vor dem Start zu verstehen gibt. Die intime Kenntnis der Architektur hilft Kyle Pratt bei der Suche nach ihrer Tochter. Sie verschafft ihr die nötige Übersicht, sich in dem labyrinthischen System zurecht zu finden, das so groß und verschachtelt zu sein scheint wie die Raumschiffe des Science Fiction-Films. Da können schon zwei Stunden vergehen, ohne dass der Zuschauer das Gefühl bekommt, der Film trete auf der Stelle. Es bietet sich Raum genug für Rangeleien und Klettereskapaden, Verfolgungsjagden und Versteckspiele. Den nötigen Raum aber auch, um die Ambivalenz der Protagonistin samt ihres Mindsets durchzuspielen.
Wenn das Flugzeug für das Innenleben von Kyle Pratt steht, genauer gesagt, für ihren Geist, dann pendelt die Handlung an Bord entsprechend zwischen den extremen Zuständen der Protagonistin. Es zeichnen sich Gratwanderungen zwischen Panik und Plan, Wahn und Verstand, Kontrolle und Kontrollverlust ab. Der Zuschauer guckt einerseits durch die Augen von Franz Kafkas K. – begleitet die Figur also auf paranoiden Pfaden, auf Wegen, die vorgezeichnet und überdeterminiert scheinen; die ausweglos und dabei endlos lang scheinen. Gleichzeitig blickt der Zuschauer, der sich mit Kyle Pratt auf der Suche nach ihrer Tochter identifiziert, durch die Brille eines Leonadro da Vinici – eines kühnen Konstrukteurs also, eines visionären Planers und Entwerfers, der in der Selbstgewissheit lebt, die totale Übersicht zu haben. Kyle Pratt ist hier demnach nicht nur die just geschiedene Meg Altman aus „Panic Room“, sondern auch Dr. Eleanor „Ellie“ Arroway aus „Contact“ (1997).
Das besondere an „Flightplan“ besteht nicht nur darin, die Spannung zwischen diesen beiden Perspektiven aufrecht zu erhalten, sondern vor allem darin, diese Spannung überhaupt hervorzubringen. Sprich: Eine Geschichte zu erzählen, in der beide Blicke sinnfällig in eins fallen. Dies an dieser Stelle zu betonen, bedeutet nicht zuletzt, die Rezeption des Films nicht auf den Diskurs über Flugangst und Post-911-Paranoia zu reduzieren, sondern den Beitrag von „Flightplan" zum Utopie-Diskurs hervorzuheben. Dieser ist vielleicht nicht so offensichtlich, dafür aber umso interessanter. Im Grunde erzählt der Film nämlich die Geschichte des Pyramiden-Architekten oder des Computer-Programmierers, der in seiner utopischen Konstruktion zum Gefangenen wird. Der in seinem Traum eingeschlossen wird und dabei der Einzige ist, der den Ausweg kennt. Wendet sich die Konstruktion gegen ihn? Muss er dieses Risiko auf sich nehmen, weil er nur auf diesem Wege die (Er-)Lösung erlangen kann? „Tron“ (1982) spielt mit dieser Frage und Hypercube (2002) , der zweite Teil von Cube, ist wohl die moderne Version der Pyramidengeschichte, geeicht auf das Computerzeitalter.
Im Vergleich dazu fokussiert „Flightplan“ die Rolle des Geistes in diesem Erzählmuster. Hier reguliert Blau als chromatisches Symbol des Geistes die Grundstimmung des kinematographischen Stoffes. Ist Atemluft, sprich: die unsichtbare Materie, durch die alle Figuren sich hindurch bewegen, die sie in Bewegung versetzt – Treibstoff und Motor der Handlung zugleich. Vor diesem Hintergrund ist der Film nicht zuletzt eine zeitgenössische Variante des griechischen Ikaros-Mythos. Denn was dem Sohn von Daidalos bei der Annäherung der Gaskugel mit der Leuchtkraftklasse V schmolz, wächst der Nachfahrin von K. und Leonardo da Vinci: Flügel. Ja, die zunehmende Hitze der Handlung beflügelt Kyle Pratt. Im Gegensatz zu Ikaros, der der Insel Kreta nicht entfliehen konnte, gelingt es der „Flightplan“-Protagonistin, sich aus ihrem Traum zu befreien. Wohlgemerkt unter den Bedingungen einer blauen Sonne. Letzten Endes weiß das etwas missratene Industrieprodukt also durchaus zu begeistern. Trotz dramaturgischer Schwächen ist der Film ein faszinierender Beitrag zum Kosmos der Mythen.
Susanne Marschall: Farbe im Kino. Schüren Verlag 2005. 416 S., Pb., 300 Abb. in Farbe. 29,90 Euro.